immer wieder gibt es mediale Geschichten, die in Wahrheit Märchen sind. Eines dieser modernen Märchen erzählt vom Kampf der Grünen um das Bundeskanzleramt.
Das Drehbuch berichtet von der gar stolzen Ambition einer Prinzessin, die in dieser Geschichte Spitzenkandidatin heißt. Sie will unbedingt den Thron besteigen. Ihren Nebenbuhler, den tapferen Ritter Robert, hat sie bereits ins Feld geschlagen. Der Spannungsbogen der Story lebt im weiteren Verlauf davon, dass die journalistischen Herolde ihr gute Chancen einräumen, den Platz der müde gewordenen Königin zu erobern.
Eine Infografik mit dem Titel: Grüner Höhenflug
Bundestagswahlergebnisse 2017 und Umfragewerte der Grünen bis zum 2.6.2021, in Prozent
Doch genau an dieser Stelle der Story verwandeln sich Fakten in Fantasy. Hier die fünf Gründe warum es in diesem Jahr keinen Machtkampf um das Bundeskanzleramt geben wird:
1. Um das Ziel eines Machtwechsels in der Regierungszentrale erreichen zu können, sind für die Grünen mindestens 25 Prozent der abgegebenen Stimmen notwendig. Das entspricht einer Verdreifachung gegenüber der Bundestagswahl von 2017. Statt den damals rund vier Millionen Wählern müssten sich diesmal zwölf Millionen für die Grünen entscheiden. Solche Erdrutschsiege gab es in Deutschland zuletzt in der Endphase der Weimarer Republik, als ein ganzes Land ins Rutschen geriet.
© dpa2. Den Grünen fehlen finanziell und organisatorisch die Ressourcen, um einen Sturmlauf auf das Bundeskanzleramt mit Aussicht auf Erfolg unternehmen zu können. Die grüne Parteizentrale war schon überfordert, die kleinen Ungereimtheiten im Lebenslauf der Kandidatin Baerbock und ihre fragwürdige Bilanzierungspraxis gegenüber dem Bundestag zeitnah zu kommunizieren. Der „Spiegel“ wandte sich erschrocken von seiner Heldin („Die Frau für alle Fälle“) ab:
Die hausgemachten Fehler häufen sich und werfen die Frage auf, ob die Grünen tatsächlich das Zeug fürs ganz große Spiel um die Macht haben.
3. Hinzukommt ein nicht ganz unwichtiges Detail: Die Kandidatin verdankt ihren Aufstieg dem innerparteilichen Networking, also dem stillen, gleichwohl fleißig und charmant betriebenen Beziehungsaufbau. Bundestagswahlen aber werden auf offener Bühne gewonnen – und nicht hinter der Kulisse. Diese Fronterfahrung fehlt der Kandidatin. Die Waffen für die offene Feldschlacht, eine Disziplin in der Helmut Kohl und Gerhard Schröder es zur Meisterschaft gebracht hatten, hat sie nie geschärft.
Auch Merkel, übrigens, ist die entscheidenden Meter in Richtung Kanzleramt auf der offenen Bühne gegangen. Sie hat Kohl mit ihrem Essay in der „FAZ“ („Die Partei muss laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“) für alle sichtbar niedergestreckt. Danach blieb das Schlachtross liegen. Wir lernen: kein Kanzler ohne Killerinstinkt.
© dpa4. Die Prinzessin, das kommt für sie erschwerend hinzu, kann sich ihrer Truppen nicht sicher sein. Die grüne Partei, die sich derzeit noch im Dickicht der Wälder versteckt hält, lebt ein Leben links von ihr. Bei allen entscheidenden Fragen fallen die Antworten der Basis anders aus als die im Turmzimmer: Wie radikal soll der Klimaschutz sein? Ist die Enteignung ein Instrument der Mietenpolitik? Sind die Großkonzerne Gegner oder Partner? Ist die Nato ein Angriffspakt der USA oder eine bewaffnete Wertegemeinschaft des Westens? Gibt es eine Obergrenze für den Zuzug nach Deutschland? Wer es wissen will, der weiß es: Die Partei ist strukturiert wie eine Wassermelone – außen grün und innen rot.
© Media Pioneer5. Die Konkurrenz schläft nicht. Mit dem Ende der grauen Pandemiezeit ist die Farbe in das politische System zurückgekehrt. Die FDP hat ihre liberale Stimme wiedergefunden. Die Laschet-CDU präsentiert sich derzeit weder links, noch rechts, sondern vor allem vernünftig. Als Feindbild ist dieser europäisch gesinnte Laschet mit seinem christlich grundierten Humanismus für die Grünen nicht zu gebrauchen.
Fazit: Der einst im Aufwind der Umfragen formulierte Machtanspruch der Grünen erinnert zunehmend an die großmäulige FDP-Kampagne des Guido Westerwelle, die als „Strategie 18“ in die Geschichte der gescheiterten Wahlkampagnen einging. Der Name bezog sich auf das Wahlziel, den Anteil an den Wählerstimmen von sechs auf 18 Prozent zu verdreifachen. Das Ergebnis: Die FDP landete bei 7,4 Prozent. Viel Lärm um nichts.
© Media PioneerVielleicht wiederholt sich Geschichte eben doch. Schon Karl Marx wusste, dass „alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.”
Mehr als zwei Monate nach der Parlamentswahl in Israel ist es dem bisherigen Oppositionsführer Jair Lapid gelungen, eine Koalition zu bilden. Nach Angaben der Zeitung „Times of Israel“ billigte der Vorsitzende der arabischen Partei Raam, Mansur Abbas, die Koalition und gab Lapid damit das Mandat, den Präsidenten aufzusuchen.
Er stützt sich auf ein Bündnis seiner Zukunftspartei mit sieben kleinen Parteien aus allen Bereichen des politischen Spektrums. Sie eint vor allem die Ablehnung Netanjahus, eines Ministerpräsidenten unter Korruptionsanklage. Ihre politischen Ziele klaffen jedoch weit auseinander. Beide einigten sich auf eine Rotation im Amt des Regierungschefs. Ex-Verteidigungsminister Bennett soll demnach als erster für zwei Jahre Ministerpräsident werden, Lapid ihn anschließend ablösen.
Henry Kissinger feierte kürzlich seinen 98. Geburtstag. Ihm zu Ehren hatten die Universität Bonn und das Ludwig-Erhard-Zentrum zu einem Online-Symposium geladen. Der Altmeister der Realpolitik zeigte sich altersmilde und versuchte, den hohen Erwartungsdruck von allen Kanzlern und solchen, die es werden wollen, zu nehmen:
Fix what can be fixed and leave the rest to historic evolution.
Wenn wir über Technologie sprechen, müssen wir immer auch ihre Finanzierung im Blick behalten. Bei Tiger Global Management ist der Name Programm: ein Ritt auf dem Tiger.
In den bislang 22 Wochen des Jahres 2021 hat Tiger Global 131 Venture-Deals abgeschlossen. Das sind durchschnittlich 6 Investitionen pro Woche und mehr als eine Transaktion pro Arbeitstag.
Christoph Keese und Lena Waltle gehen im Tech-Briefing-Podcast der Sache auf den Grund. Sie analysieren auf Basis von Research-Plattformen, Spezial-Datenbanken und SEC-Filings, was von Tiger Global zu halten ist, wie die Firma arbeitet, auf welchen Track Record sie verweisen kann und wo genau sie investiert. Hören bildet, zum Beispiel Kapital.
Europa sucht nach Wegen, die großen Unternehmen – am liebsten die aus den USA – zur verstärkten Steuerzahlung zu veranlassen. Denn Fakt ist: Der Beitrag der Großkonzerne zur Staatsfinanzierung in den EU-Staaten sinkt seit Jahrzehnten. In ihrer Not holen sich die Staaten das Geld in wachsendem Umfang bei den kleinen und mittleren Unternehmen, bei den Solo-Selbständigen und den Beziehern mittlerer Einkommen. Die Steuergerechtigkeit ist – das darf man so salopp formulieren – damit auf den Hund gekommen.
Eine Infografik mit dem Titel: Enorme Unterschiede
Unternehmenssteuersätze im weltweiten Vergleich 2021, in Prozent
Doch es gibt Grund zur Zuversicht und das gleich zweimal. Einerseits will die EU, das hat sie gestern beschlossen, die Großunternehmen zwingen, ihre globale Steuerpraxis – welcher Euro fällt wo an? – offenzulegen. Andererseits hat die US-Finanzministerin, die ebenfalls auf ein riesiges Haushaltsloch blickt, eine globale Mindeststeuer für Firmen ins Gespräch gebracht. Damit könnten die Steueroasen in Luxemburg, Irland, Singapur, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ungarn und den Bahamas womöglich ausgetrocknet werden.
Über die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Status quo und Wege zu einer neuen weltweiten Steuergerechtigkeit spreche ich im Morning Briefing Podcast mit Prof. Dr. Johanna Hey, der Direktorin des Instituts für Steuerrecht der Universität zu Köln. Vor 15 Jahren wurde sie in den wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Finanzen berufen. Sie sagt:
Der Unternehmenssteuer-Wettbewerb kann nicht gerecht sein.
In der internationalen Steuerpolitik spielen vor allem die USA eine entscheidende Rolle. Umso bedeutender ist es, dass US-Finanzministerin Janet Yellen eine einheitliche Unternehmenssteuer von 15 Prozent fordert. Hey ist erfreut, aber wundert sich:
Auch in den USA gibt es schon seit den 60er Jahren Regeln gegen Steuervermeidung. Aber sie waren einfach nicht effektiv. Und ich glaube, sie sollten auch nicht effektiv sein.
Doch auch die europäische Steuerpolitik, so Hey, hat bisher versagt:
Innerhalb der Europäischen Union sehen wir einen aggressiven Steuerwettbewerb.
Ihr Fazit lautet:
Wir brauchen nicht nur eine Ethik der Unternehmen. Wir brauchen auch eine Ethik der Staaten.
Als Ergebnis der in ihrer Schlussphase sklerotischen Ära Zetsche (siehe Grafik) entlässt der Autobauer Daimler bis zu 10.000 Mitarbeiter. Vielen dürfte der Abschied nicht allzu schwerfallen. Denn der Konzern zahlt seinen Angestellten laut dem Online-Magazin „Business Insider” eine Abfindung von bis zu 400.000 Euro. Oder umgerechnet: Eine S-Klasse, plus Ferienappartement plus Weltreise.
Eine Infografik mit dem Titel: Agenda Stillstand
Marktkapitalisierung von Tesla, Daimler und Toyota, in Milliarden Euro
Mit diesen neuen Reichtümern können die ehemaligen Daimler-Mitarbeiter direkt weiterziehen zum Herausforderer Tesla. Denn der E-Auto-Hersteller sucht für sein Werk in Grünheide dringend Facharbeiter. Um den Umzug nach Brandenburg zu erleichtern, lockt Elon Musk mit Aktienpaketen im fünfstelligen Bereich. Die Ex-Daimler-Mitarbeiter leben in der besten aller Welten: Das nennt man eine Win-win-Situation.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Berg- und Talfahrt
Aktienkurs der Daimler AG unter CEO Dieter Zetsche seit 2.1.2006, in Euro
Heute feiert Monika Maron, die große unbequeme DDR-Schriftstellerin, ihren 80. Geburtstag. Sie wurde im Westteil Berlins geboren, um dann im Jahr 1951 mit ihrer Mutter in den Ostsektor der Stadt zu ziehen. Ihr Stiefvater, dessen Name Maron sie annahm, war der Innenminister der DDR in den Jahren des nachwirkenden Stalinismus. In seine Amtszeit fällt der Mauerbau.
Ihr erster Roman „Flugasche“ durfte in der DDR nicht erscheinen, denn ihre Kritik am sozialistischen Staat fiel hart, präzise und zuweilen auch ätzend aus. Sie beschreibt ihre Erfahrungen als Journalistin im Bitterfelder Chemierevier. Sie setzt sich nicht nur kritisch mit den Umweltsünden und der allgegenwärtigen Zensur auseinander, sondern beschreibt auch ihre Sehnsucht: die Sehnsucht nach feministischer Emanzipation und einer tief erlebbaren Freiheit.
Ich will alleine leben, ich weiß nur, ich wollte das alles nicht mehr gefragt werden: wasdenkstdu, woherkommstdu, wohingehstdu, wannkommstduwieder, warumlachstdu. Ich wollte kein siamesischer Zwilling sein, der nur zweiköpfig denken kann, vierfüßig tanzen, zweistimmig entscheiden und einherzig fühlen. Aber emanzipierte Frauen frieren nicht, heulen schon gar nicht, und das Wort Sehnsucht haben sie aus ihrem Vokabular gestrichen.
Ich friere, ich heule, ich habe Sehnsucht. Ich blättere in meinem Notizbuch, wem kann ich mein angeschlagenes Gemüt und meine verheulten Augen schon zumuten.
1988 verlässt sie die DDR mit einem Mehrjahresvisum in Richtung Hamburg, wo sie „frei zu schreiben, zu sprechen, zu leben“ beginnt. Doch Monika Maron blieb zeitlebens eine Oppositionelle.
Sie hielt ihren ostdeutschen Landsleuten – Stichwort Jammerossi – den Spiegel vor: So viel Würde, sagte sie, sei zuvor nicht da gewesen, wie jetzt angeblich abhandengekommen sein soll.
Maron mischte sich ein in die hitzig geführte Debatte über das Gendern im öffentlichen Sprachgebrauch („Die politische Bereinigung der Sprache ist eine geradezu diktatorische, auf jeden Fall eine ideologische Anmaßung.“). Sie offenbart ihren Dissens mit dem Juste Milieu, dem tonangebenden Kreis, auch in der Islamfrage („Die Wahrheit ist, dass ich vor dem Islam wirklich Angst habe. Warum ist das krankhaft und nicht vernünftig?“).
Schließlich – als sie in dem rechtsgerichteten Verlag Antaios publiziert – setzt ihr der S. Fischer Verlag den Stuhl vor die Tür. Damit ist Monika Maron für viele eine Aussätzige.
Wenn sie morgens die Zeitung liest, sagt sie, dann wisse sie nicht mehr, ob die anderen verrückt seien oder sie selbst. So endet ihre Karriere wie sie begonnen hat – in tiefer, in vorsätzlicher Einsamkeit.
Ich wünsche Ihr und Ihnen einen nachdenklichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr