Grüner Ton: Botschaft oder Befehl?

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Guten Morgen,

es gibt in den politischen Parteien zwei Lager. Die einen glauben, Wahlen würden mit einem aussagekräftigen Programm gewonnen. Die anderen sind überzeugt, eine imposante Persönlichkeit an der Spitze bringe den entscheidenden Unterschied.

Ich gehöre zu einer dritten Gruppe, von der ich gar nicht weiß, ob sie schon eine Gruppe ist. Ich glaube, dass der Ton die Wahl entscheidet.

Die Tonalität − das gilt auch für den heute beginnenden Parteitag der Grünen − gibt Auskunft darüber, wer die Spitzenkandidatin wirklich ist. Intoniert da jemand das Eigene oder wird nach fremden Noten gespielt? Werde ich wahrhaftig informiert, und falls ja, auch über Fehler? Ist das Wort Schuld eine ethische Kategorie oder doch nur ein politischer Kampfbegriff? Gilt Toleranz auch für den anders Denkenden, den anders Sprechenden und den anders Lebenden − oder nur für mich und meine Lifestyle-Freunde?

Annalena Baerbock © dpa

In einer Welt, die sich beschleunigt, die sich virtualisiert und teilweise auch brutalisiert, verspricht Wahlerfolg nur ein Grundton, in dem das Aufrichtige seinen Platz hat; ein Ton, der im Wissen um die Hyperkomplexität unserer Zivilisation das Widerwort und den gegenläufigen Gedanken nicht nur zulässt, sondern zum Näherkommen einlädt. Neugier ist die klügste Form einer Überforderung zu entgehen.

Eine Infografik mit dem Titel: Laschet vorn

Umfragewerte zur Direktwahl des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin, in Prozent

Werden das zu verabschiedende Programm und die Spitzenkandidatin einen pessimistischen, um nicht zu sagen einen apokalyptischen Ton anschlagen, der die Welt vor allem als Welt der Gefahren beschreibt und den Menschen als Spezies, die zu Selbstliebe, Umweltverzehr und einem nur mühsam unterdrückten Rassismus neigt, dann ahnt man schon, dass hier eine autoritäre Kraft heranreift. Eine Kraft, die im Angesicht der nahenden Katastrophe unser Leben womöglich reglementieren, unsere Sprache kuratieren und unsere Freiheit limitieren will. Insofern verrät der Ton seinen Sender.

Die Frage aller Fragen lautet an diesem Wochenende: Empfange ich als Bürger noch eine Botschaft − oder bereits einen Befehl?

Mir fiel dieser Tage eine Rede von Albert Camus in die Hände, die er 1946 am New Yorker Brooklyn College hielt, elf Jahre vor der feierlichen Überreichung des Literaturnobelpreises. Die Überschrift der Rede: „Sind wir Pessimisten?“

Albert Camus (1954) © imago

Camus warb dafür, die Welt zu sehen wie sie ist − ohne an ihr zu verzweifeln. Weil er ja wusste, dass die Verzweifelten in ihrer Verzweiflung der Freiheit keinen Dienst werden erweisen können:

Und die Wahrheit ist, dass die Welt der Gegenwart weder eine Welt des Glücks noch des Unglücks ist.

Sie sei vielmehr ein „Kampfplatz für das Verlangen nach Glück, dass jeder Mensch im Herzen trägt.“

Camus verortete das politische Unheil − und genau das unterscheidet den Liberalen vom Linken − nicht allein im Kapitalismus, Kolonialismus oder anderen Herrschaftssystemen, sondern tief im Individuum, dessen aufkeimende Hilflosigkeit nur mit einer Tonalität des Trostes bekämpft werden könne:

Und die Krise des Menschen besteht wenigstens zur Hälfte aus der Gleichgültigkeit und Erschöpfung der Individuen angesichts der starren Grundsätze und der Untaten, mit denen man nicht müde wird die Welt zu überfluten.

Er warb dafür, den erschöpften Menschen vor der Gleichgültigkeit zu bewahren und warnte uns davor, den metallischen Klang des Autoritären nur ja nicht zu überhören, der Politiker und Aktivisten zu allen Zeiten verraten hat.

Der Wille zur Freiheit wurde durch den Willen zur Herrschaft ersetzt. Recht hat man nicht mehr deshalb, weil man die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat, sondern man hat recht, weil man sich durchsetzt. Und je mehr man sich durchsetzt, desto mehr hat man recht. Letztlich ist das die Rechtfertigung des Mordes.

Albert Camus (1957) © imago

Camus suchte und fand für sich selbst einen Ton, der die Verzweifelten aus der Verzweiflung befreite, er nannte es das „mittelmeerische Denken“. Es ging ihm nicht um „einen Optimismus auf Bestellung“, sondern um eine politische Kraft, die den Menschen eine Brücke baut, die vom Ich zum Wir führt.

Wir müssen versöhnen, was gespalten ist. Wir müssen in einer so offenkundig ungerechten Welt die Gerechtigkeit wieder denkbar machen und dem Wort Glück wieder eine Bedeutung verleihen.

Albert Camus ist im Alter von nur 46 Jahren aus dem Leben geschieden. Sein Ton blieb.

Wenn sich heute die Grünen zum großen Wahlparteitag treffen und auch die anderen Parteien uns ihre Spitzenkandidaten bald schon vor die Haustür schicken, sollten wir auf die Töne achten - auch auf die dazwischen.

Julia Klöckner © Anne Hufnagl

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten innerhalb der Großen Koalition ist aufgebraucht. Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken wirft dem CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn im Streit um die ihrer Ansicht nach mangelhaften Atemschutzmasken „menschenverachtendes“ Verhalten vor. Im heutigen Morning Briefing Podcast hält die Landwirtschaftsministerin und stellvertretende Vorsitzende der CDU, Julia Klöckner, dagegen. Sie zweifelt an der Stabilität ihres Koalitionspartners:

Man hat den Eindruck, dass die SPD-Kollegen die Nerven verlieren.

Sie mahnt die Sozialdemokraten, sich zusammenzureißen:

Der Bürger hat einen selbstverständlichen Anspruch darauf, dass sie ihren Job bis zum Ende der Legislaturperiode machen.

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Eine kleine Stichelei gegen die Schrumpf-SPD kann sie sich nicht verkneifen:

Eine Große Koalition war gleichzusetzen mit einer großen Mehrheit in der Bevölkerung. Passt der Begriff noch bei einer Partei, die bei noch nicht mal 20 Prozent liegt?

Fazit: Große Koalition, ganz klein.

Armin Laschet © dpa

Am Samstagabend kommt die Spitze der CDU in Berlin zusammen, um die letzten Details für das Regierungsprogramm zu erarbeiten. Nächste Woche soll es von Armin Laschet präsentiert werden.

Unser Hauptstadt-Team hat exklusive Einblicke in die Bastelwerkstatt der Union werfen können. Demnach backt in der Rentenpolitik auch der neue CDU-Chef kleine Brötchen. Die private Vorsorge soll mit einem standardisierten neuen Riester-Produkt gestärkt, die Erwerbsminderungsrente ausgebaut werden. Und natürlich soll wieder eine neue Zukunftskommission eingesetzt werden.

Die FDP kritisiert die Reformmüdigkeit von SPD, CDU und CSU und wirft ihnen eine bewusste Destabilisierung der Sozialsysteme vor.

Der stellvertretende Vorsitzende und Sozialpolitiker Johannes Vogel sagte:

Union und SPD haben das Rentensystem nicht nur nicht für die Zukunft vorbereitet, sondern die finanziellen Rentenfundamente sogar aktiv destabilisiert.

Die Kritik des SPD-Finanzministers an jenen Wissenschaftlern, die auf eine Finanzierungslücke und die zunehmende Instabilität der Rentenversicherung hinweisen, empfinden die Liberalen als empörend:

Wer jetzt − wie Olaf Scholz − ausgerechnet die Wissenschaftler für die Feststellung der eigenen Versäumnisse kritisiert, der schimpft beim Erdbeben auch auf Geologen.

Die FDP schlägt eine umfassende Reform und die Einführung eines kapitalgedeckten Non-Profit-Fonds nach schwedischem Vorbild zur Stärkung der Rente vor. Prädikat: bedenkenswert.

Alle weiteren Details gibt es im Newsletter Hauptstadt-Das Briefing.

CDU vertagt große Rentenreform

Die CDU will im Regierungsprogramm nur sanfte Rentenreformen vorschlagen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Finanzvorstand Nikolaus Weinberger (l-r), Alexander Brand und Konstantin Urban, Gründer und Vorstände von windeln.​de © dpa

Die Sozialen Medien bitten die Kleinanleger erneut an den Roulettetisch. Das neue Ziel der Spekulanten: Der deutsche Internetversender für Babyartikel windeln.​de. Über 700 Prozent legte die Aktie in den vergangenen Tagen zu, bevor sie am gestrigen Handelstag 36 Prozent an Wert verlor. Im Internetforum Reddit motivierten die Nutzer sich gegenseitig:

Kauft weiter ein, Freunde!

Bleibt drin und kauft nach. Schreibt euren Leuten!

Geschissen wird immer. Hab selbst Kinder, weiß wovon ich rede.

Damit tritt windeln.​de in die Fußstapfen des US-Computerspielehändlers GameStop und des US-Kinobetreibers AMC, weitere durch die Sozialen Medien in die Höhe getriebene Aktien. Drei Grafiken erzählen die Geschichte einer massenmedial ausgelösten Spekulation. Die Tulpenzwiebel von heute sieht aus wie eine Babywindel.

Eine Infografik mit dem Titel: Kurze Spekulation

Kursverlauf der Aktie von windeln.​de seit dem 4. Juni 2021, in Euro

Eine Infografik mit dem Titel: Rasanter Anstieg

Kursverlauf der Aktie von AMC Entertainment Holdings seit dem 4. Januar 2021, in US-Dollar

Eine Infografik mit dem Titel: Es geht wieder los

Kursverlauf der Aktie von GameStop seit dem 10. Juni 2020, in US-Dollar

Die Lage am heutigen Morgen:

  • Seit gestern befindet sich die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland wieder unter 20.

  • Die USA streben die größte Impfstoff-Spende aller Zeiten an: Eine halbe Milliarde BioNTech/Pfizer Dosen sollen an über 92 bedürftige Länder gespendet werden.

  • Nach dem vielfach begründeten Betrugsverdacht bekommen Testanbieter ab Juli weniger Geld.

  • BioNTech plant in Afrika eine eigene Produktionsstätte aufzubauen.

Die Spätfolgen der Berateraffäre

Warum der Steuerzahler wegen der Berateraffäre der Bundeswehr neue Millionenkosten fürchten muss

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Veröffentlicht von Christian Schweppe.

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Kardinal Reinhard Marx © dpa

Auf Papst Franziskus ist Verlass. Das nach außen noble und zugleich taktisch geschickte Rücktrittsgesuch von Kardinal Reinhard Marx – der damit die Verantwortung für den sexuellen Missbrauch in Kreisen des Klerus übernehmen wollte − wurde von Gottes Stellvertreter auf Erden abgelehnt. Begründung:

Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising.

Papst Franziskus © dpa

Kardinal Marx darf damit im Amt bleiben und steht nun als Säulenheiliger da. Friedrich Nietzsche hat dieses Vorgehen präzise beschrieben: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.“

Franziska Giffey © dpa

Womit wir nahtlos bei Familienministerin Franziska Giffey gelandet sind. Nach langem Hin und Her ist das Präsidium der Freien Universität Berlin nun zu der Entscheidung gelangt, ihr den Doktortitel abzuerkennen. Zur Begründung heißt es: Der Doktorgrad sei durch „Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung“ erworben worden. Giffey behauptet weiterhin, die Arbeit nach „bestem Gewissen und Wissen“ verfasst zu haben. Das allerdings könnte man auch als Selbstbezichtigung verstehen.

 © imago

Die Inflationsrate in den USA steigt schneller als die Experten beschwichtigen können. Wie das US Bureau of Labor Statistics am gestrigen Nachmittag veröffentlichte, klettern die Verbraucherpreise im Mai um fünf Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Damit erreichen die USA die höchste Inflationsrate seit 13 Jahren.

Eine Infografik mit dem Titel: Inflation: Wachsende Gefahr

Inflationsrate in den USA und Deutschland gegenüber Vorjahresmonat von Mai 2020 bis Mai 2021, in Prozent

Auch wenn man die Inflationsrate, was Volkswirte gerne tun, um die Energie- und Lebensmittelpreise bereinigt, stieg sie um 3,8 Prozent. Das ist der größte Anstieg seit Ende Juni 1992. Das Gespenst klappert mit den Ketten.

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Joe Biden © dpa

Der neue US-Präsident Joe Biden hat europäischen Boden betreten, auch wenn es ein Boden außerhalb der EU ist. Hier ein Überblick über seinen Terminkalender und die wichtigsten Gesprächspunkte der Treffen:

10. Juni: Bilaterales Treffen mit Premierminister Boris Johnson in Mildenhall:

  • Die erste Zusammenkunft von Johnson und Biden wurde von der Nordirland Problematik dominiert.

  • Dazu muss man wissen, dass 32 Millionen Amerikaner, also 9,7% der dortigen Bevölkerung und Biden selbst, irische Vorfahren haben.

Boris Johnson © dpa

11. Juni - 13. Juni: G7-Gipfel in Cornwall:

  • Kernthemen des diesjährigen Gipfels sind die Stärkung der Weltwirtschaft, zudem soll mit einem globalen Infrastrukturprojekt der westlichen Staaten auf die chinesische Expansionspolitik reagiert werden. Kostenpunkt: Mehr als 1 Billion Dollar.

13. Juni: Treffen mit Königin Elisabeth II. auf Schloss Windsor westlich von London. Bereits nach seiner Wahl hatte Biden von der Queen persönliche Glückwünsche erhalten:

  • Die Queen, die als einzige Person weltweit 13 der 14 US-Präsidenten seit 1951 getroffen hat, wird Joe Biden und seine Frau Jill zum Tee einladen. Das Treffen mit dem Oberhaupt der ehemaligen europäischen Kolonialmacht dürfte keine politischen Erkenntnisse, dafür aber hübsche Bilder für die konservativen Wähler in den USA bringen.

Queen Elizabeth II. © dpa

14. Juni: Nato-Gipfel in Brüssel:

  • Bei dem Treffen möchte Biden besonders sein Festhalten an NATO Artikel 5 beteuern. Der dort festgelegte Bündnisfall besagt, dass ein bewaffneter Angriff auf einen Mitgliedstaat als Angriff auf alle Mitgliedsstaaten gesehen wird. Vorgänger Trump hatte die Hilfe Amerikas in Frage gestellt.

  • Außerdem werden der geplante Rückzug aus Afghanistan, die Cyber-Kriegsführung und die Herausforderung durch die Künstliche Intelligenz thematisiert.

15. Juni: USA-EU-Gipfel in Brüssel:

  • Bei dem Treffen mit Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, sollen die von Trump initiierten Handels- und Zoll-Streitigkeiten besprochen werden.

Joe Biden (l.), Wladimir Putin (2011) © dpa

16. Juni: Bilaterales Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Genf:

  • Neben der europäischen Sicherheit und der Wiederherstellung stabiler Beziehungen, möchten die beiden Staatsoberhäupter über die Ukraine sprechen. Putin will mehr Einfluss, Biden verlangt den Rückzug.

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Tesla-Chef Elon Musk © dpa

Im Kampf um die Vorherrschaft im Markt für hochpreisige E-Autos muss Tesla derzeit eine schwere Niederlage einstecken. Im ersten Quartal 2021 hatte sich mit Porsches Taycan erstmals in Deutschland ein Elektroauto aus dem Premiumsegment häufiger als Teslas Model S verkauft. Auf diesem Markt, auf dem Tesla seine beispiellose Erfolgsgeschichte begann, feiern die deutschen Autohersteller spektakuläre Erfolge: Der Taycan wurde sowohl im 4. Quartal 2020 als auch im 1. Quartal 2021 über 9000 mal gekauft.

Das Tesla Model S Plaid © Tesla

Der in Bedrängnis geratene Tesla-Konzern bläst mit dem Model S Plaid, das gestern der Öffentlichkeit vorgeführt wurde, zum Gegenangriff: Das über 1000 PS starke Fahrzeug setzt auf die internationale Bleifuß-Fraktion, die von Burt Reynolds und Vin Diesel angeführt wird, und mit elektrisch erzeugten Pferdestärken weiter rasen will.

Das kann sie mit dem neuen Fahrzeug, denn dessen Beschleunigung übertrifft mit weniger als 2 Sekunden von 0 auf 100 Stundenkilometer nicht nur die Beschleunigungswerte der Konkurrenz, sondern auch die der Formel-1. Das dürfte auch den 81-jährigen Ex-Formel-1-Weltmeister Mario Andretti erfreuen, der zu den PS-Päpsten zählt:

Wenn alles unter Kontrolle ist, fährst du nicht schnell genug.

Ich wünsche Ihnen einen fulminanten Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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