das Hamburger Bürgertum hat nicht genuschelt, sondern klar und deutlich gesprochen: Die SPD darf nicht sterben, hat eine relative Mehrheit der Wahlberechtigten gesagt. In der Heimatstadt so bedeutender Sozialdemokraten wie Karl Schiller, Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi darf deshalb auch Peter Tschentscher weiter regieren, selbst wenn der Mann den großen Vorbildern das Wasser nicht reichen kann. Der Stimmenanteil der SPD gab deutlich nach.
Die Grünen konnten ihren Höhenflug in den bundesweiten Umfragen auf dem Territorium der Freien und Hansestadt materialisieren. Die Mitte der Gesellschaft ist auf Wanderschaft, und große Teile des städtischen Publikums sind derzeit bei den Grünen eingekehrt. Eine Verdoppelung gegenüber der Bürgerschaftswahl von 2015 ist zu bestaunen.
Eine Infografik mit dem Titel: Triumph für Rot-Grün
Ergebnis der Hamburger Bürgerschaftswahl und Veränderungen zur Wahl 2015, in Prozent/Prozentpunkten
Die FDP in Hamburg zahlte mit dem nur knappen Einzug in die Bürgerschaft den Preis für Fehler, die in Erfurt und in Berlin begangen wurden. Der Kurzfristpakt mit der Höcke-AfD hat das liberale Bürgertum in den Wahnsinn oder – schlimmer noch – in die Wahlenthaltung getrieben. Die großen Liberalen der Stadt – vorneweg Rudolf Augstein, der heute auf dem Friedhof Keitum auf Sylt ruht und Ralf Dahrendorf, der auf dem Ohlsdorfer Friedhof das Planquadrat Y12 bewohnt – dürften sich heute Nacht im Grab umgedreht haben.
Eine Infografik mit dem Titel: Klare Machtverhältnisse
Voraussichtliche Sitzverteilung in der Hamburger Bürgerschaft
Die AfD, die in den vergangenen Wochen die Agenda beherrschte, konnte davon in Hamburg nicht profitieren. Die rassistisch motivierte Gewalt von Hanau ließ viele ihrer Sympathisanten in letzter Sekunde zusammenzucken. Sie lernten, was sie nach Halle und vor Hanau bereits ahnen konnten: Das Spiel mit dem Feuer führt am Ende der Spielerei immer zum Brand.
Die CDU ist in Hamburg nur noch eine Nummer unter ferner liefen. Im Grunde sind alle deutschen Großstädte – Berlin, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Nürnberg, Stuttgart, Dresden und Leipzig – mittlerweile an ihren politischen Gegner gefallen. Die CDU wird damit zur Partei des ländlichen Raumes: Unser Dorf soll schöner werden.
Nach der Bürgerschaftswahl in Hamburg ging es im ARD-Talk „Anne Will“ um das Thema „Wahlen in gefährdeten Zeiten – wie fest steht die Mitte?“ Zu Gast waren unter anderem Bundesfamilienministerin Franziska Giffey von der SPD, der Bewerber um den CDU-Vorsitz Norbert Röttgen und Grünen-Chef Robert Habeck. Hier die wichtigsten Aussagen:
Giffey, Berliner SPD-Chefin in spe, sagte über die Thüringen-Krise:
Vielleicht muss man seine Grundprinzipien auch mal überdenken und überlegen, wie man jetzt eine Lösung findet.
Röttgen über die Rolle der Christdemokraten:
Die CDU hat die Aufgabe, eine Partei der Mitte zu sein. Wenn wir anfangen, Herrn Ramelow als Kandidaten der Linkspartei zu wählen, dann können wir nicht mehr als Mitte integrieren.
Über den Höhenflug seiner Partei sagte Habeck selbstbewusst:
Die Grünen sind lange keine Milieu-, Nischen- oder Splitterpartei mehr, die sich um die verlorenen Themen der anderen Parteien kümmert.
Und über die Christdemokraten:
Das, was die CDU jetzt macht, das ist einfach nur bockig.
Fazit: Der hohe Zuspruch hat die Grünen verändert. Sie melden Ansprüche auf das an, was die CDU für ihr Heiligtum hält: das Bundeskanzleramt. Der Bundestagswahlkampf 2021 wurde mit der Hamburgwahl eröffnet.
Der Coronavirus sucht Europa heim: Binnen weniger Tage ist die Zahl der Infektionen in Italien überraschend stark angestiegen. Bis heute Morgen waren es bereits mehr als 150 Fälle – damit ist Italien das Land mit der höchsten Zahl an bestätigten Erkrankten in Europa. Am stärksten war die Wirtschaftsregion Lombardei betroffen.
Mehrere Gemeinden in Norditalien werden nun abgeriegelt, damit der Virus nicht auf die Wirtschaftsmetropole Mailand, das Touristenzentrum Venedig und andere Regionen übergreift. Der Karneval in Venedig wurde genauso wie alle Sportveranstaltungen abgesagt, Museen und Schulen sollen in der gesamten Region Venetien bis zum 1. März geschlossen bleiben.
Mittlerweile starben drei infizierte Menschen in Italien. Österreich stoppte zwischenzeitlich den Bahnverkehr über den Brenner.
© dpaDer weltweite Befund zu Beginn der Woche:
► Das Ausmaß des Ausbruchs in Italien hat Experten aller Länder überrascht. Zum Vergleich: In Deutschland wurden bisher 16 Fälle gemeldet, in Frankreich 12. Italiens Vize-Gesundheitsminister geht von weiter steigenden Zahlen aus.
► Auch auf der koreanischen Halbinsel spitzte sich die Lage zu: Die Regierung Südkoreas rief wegen des rasanten Anstiegs der Fälle im Land die höchste Warnstufe für Infektionskrankheiten aus. Die Zahl nachgewiesener Infektionen im Land lag am frühen Morgen bei 763, mindestens sieben Menschen starben.
© dpa► In China, dem Ursprungsland des Virus, lag die Zahl offiziell erfasster Infektionen am Montag bei über 77.000, fast 2.600 Menschen starben demnach an der Lungenerkrankung. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping sagte:
Die Epidemie ist der größte öffentliche Gesundheitsnotstand mit der schnellsten Verbreitung, dem breitesten Ausmaß an Infektionen und der schwierigsten Vorbeugung und Kontrolle seit der Gründung des neuen Chinas
Die Allianz ist Europas größter Versicherer und der stille Star im Dax. Unaufgeregt setzt der Konzern unter dem Vorstandsvorsitzenden Oliver Bäte auch in Zeiten von Niedrigstzinsen sein Wachstum fort.
► 2019 kletterte der bereinigte Umsatz um 7,9 Prozent auf den Rekordwert von 142,4 Milliarden Euro, das operative Ergebnis lag bei 11,9 Milliarden Euro, ein Plus von drei Prozent.
► Die Eigenkapitalrendite stieg von 13,2 auf 13,6 Prozent und damit auf ein neues Zehn-Jahres-Hoch. Das komfortable Niveau aus der Zeit vor der Finanzkrise (16,4 Prozent) ist freilich noch nicht wieder erreicht.
► Das größte Wachstum legte die Lebens- und Krankenversicherung hin: Der operative Gewinn in der Sparte kletterte um 13 Prozent auf 4,7 Milliarden Euro. Gemeinsam mit dem Gewinn aus dem Assetmanagement (2,7 Milliarden Euro) konnte die Allianz den Gewinneinbruch in Höhe von 12 Prozent bei der Schaden- und Unfallversicherung kompensieren.
► Vor allem das Neugeschäft läuft hochtourig: Die Lebens- und Krankenversicherung steigerte den Wert ihrer Neugeschäftsbeiträge um 15 Prozent auf 67 Milliarden Euro.
Fazit: Konzernchef Bäte ist es gelungen, das im Erbgut der Firma gespeicherte Gefühl für Maß und Mitte an die moderne Digitaltechnologie anzuschließen: Transformation ohne Disruption.
Das Thema Moral bewegt die Börse, ohne dass die internationalen Investoren das Wort Moral je in den Mund genommen hätten. Aber: Die ethischen Verfehlungen, die in den rechtsstaatlich verfassten Staaten auch geahndet werden – siehe Siemens-Schmiergeldaffäre, siehe Betrugsskandal beim Diesel, siehe die Springflut der Klagen in Sachen Glyphosat – sind schon deshalb zu einem Faktor für die Wertpapiermärkte geworden, weil die Rechtsrisiken für Fehlverhalten enorm sind und sich in den Bilanzen aller großen Konzerne mittlerweile milliardenschwere Risiken türmen.
► Die bei Monsanto anhängigen Glyphosat-Klagen – von bis zu 85.000 war zuletzt die Rede – sind für den Bayer-Konzern ein schwer zu überschauendes Risiko. In der Bilanz werden im Wesentlichen nur Rücklagen für Rechtsstreitigkeiten berücksichtigt. Die Zahlungen für einen außergerichtlichen Vergleich dürften sich in zweistelliger Milliardenhöhe bewegen.
► Laut dem Flossbach von Storch Research Institute legten die Dax-Konzerne 2018 17,5 Milliarden Euro für Rechtsrisiken zurück. Hinter Bayer folgte die Deutsche Bank mit 1,2 Milliarden Euro, während Volkswagen mit 4,9 Milliarden Euro an der Spitze steht.
► Die Rücklagen zuletzt massiv erhöht hat Autobauer Daimler, der gerade seine Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr 2019 vorlegte. Demnach hat der Stuttgarter Konzern vor allem wegen einer Vielzahl von Klagen in Nordamerika und Deutschland seine Rückstellungen für Haftungs-, Prozessrisiken und behördliche Verfahren von 2,1 Milliarden Euro in 2018 auf 4,9 Milliarden Euro angehoben. Das ist ein Plus von über 100 Prozent, das mit dem Wechsel von einem Konzernchef (Dieter Zetsche) auf den nächsten (Ola Källenius) einherging.
Eine Infografik mit dem Titel: Risikovorsorge
Ausgewählte Rückstellungen bei Daimler, in Milliarden Euro
Professor Andreas Suchanek, 58, ist ein deutscher Wirtschafts- und Unternehmensethiker, der seine akademische Laufbahn an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt von Karl Homann begann. 2004 wurde er an die HHL Leipzig Graduate School of Management (ehemals Handelshochschule Leipzig) berufen. Seitdem hat er dort den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik inne.
Suchanek und sein Lehrmeister Karl Homann wehren sich gegen die Idee einer Unvereinbarkeit von Moral und Wirtschaft. Ethik und Ökonomik seien zwei Diskurse über dieselben menschlichen Handlungsprobleme. Suchanek tritt in seiner Philosophie gegen moralischen Rigorismus auf und wirbt für das Konzept einer pragmatischen Ethik des Führens, die den Manager fordert, aber nicht überfordert.
Grundlage für ein ethisch korrektes Handeln, sagt Suchanek, ist nicht immer gleich die ganze Wahrheit, die niemand kenne, wohl aber Wahrhaftigkeit. Er empfiehlt dem Management:
Ihr müsst in Vertrauen investieren. Eine Investition ist in der Regel mit Verzicht verbunden, aber es rechnet sich.
Gewonnen wird das Vertrauen Suchanek zufolge folgendermaßen:
Ich fange damit an, dass ich dem anderen zubillige, eigene Auffassungen, eigene Erwartungen zu haben, insbesondere die Erwartung, nicht geschädigt zu werden.
Er empfiehlt allen, die Verantwortung tragen, einen „prinzipienbasierten Pragmatismus“.
Vieles spricht dagegen, dass ein Mann wie Bernie Sanders Erfolg haben kann.
► Bei den US-Vorwahlen tritt der 78-Jährige für eine Partei an, die immer junge Helden bevorzugt hat: John F. Kennedy, Bill Clinton und Barack Obama eroberten mit 43, 46 und 47 Jahren das Weiße Haus für die demokratische Partei.
► Sanders ist nicht einmal Demokrat. Der Senator ist eigentlich ein „Independent”, also ein parteiloser Politiker.
© imago► Sanders ist ein Intellektueller: Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre lehrte er an der John F. Kennedy School of Government in Harvard und am Hamilton College in New York.
Aber: In diesem Fall sind nicht Alter, Religion und Parteibuch entscheidend, sondern der besondere Bernie-Ton, der insbesondere Millionen junge Menschen verzaubert. Es ist ein melancholischer Ton, der von Trotz und Durchhaltewillen in widriger Zeit erzählt. Bei der Vorwahl in New Hampshire gewann Sanders mehr demokratische Erstwähler als der Rest des Feldes zusammen.
Sanders lädt seinen Wahlkampf mit positiven Emotionen auf. In einem TV-Spot fordert er – musikalisch untermalt von Bob Dylans „The Times They Are A-Changin“:
© dpaWenn Ihr bereit seid, für eine Regierung des Mitgefühls, der Gerechtigkeit und des Anstands zu kämpfen, werden wir nicht nur diese Wahl gewinnen, sondern gemeinsam dieses Land verändern.
Mit Dylans legendärem Protestlied schlägt die Sanders-Kampagne eine Brücke von der Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre zu den Einsamkeitsgefühlen der Gegenwart, die viele junge Menschen im Amerika von Donald Trump befallen haben. Der Text von Dylan lautet:
Come mothers and fathers Throughout the land And don't criticize What you can't understand Your sons and your daughters Are beyond your command Your old road is rapidly agin' Please get out of the new one If you can't lend your hand For the times they are a-changin'.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in die neue Woche. Herzlichst grüßt Sie Ihr