Der Rechtsstaat hasst nicht

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Guten Morgen,

mit den Infektionszahlen steigt der Druck im Kessel der Demokratie. Vielerorts wird nicht mehr gesprochen, es wird gegiftet. Die Tyrannei der Ungeimpften, schimpfen die einen. Von der Corona-Diktatur sprechen die anderen. Die Impfgegner und ihre Antagonisten sind einander zuweilen ähnlicher als sie wahrhaben wollen.

Die Gesetze der Dialektik haben in diesen pandemisch geprägten Herbsttagen zu wirken begonnen: Auf Druck erfolgt Gegendruck. Die aggressive Uneinsichtigkeit der einen ist das Problem, das durch das demonstrative Unverständnis der anderen verstärkt und nicht gemildert wird. Private Angst trifft auf staatliche Autorität, so oft und so heftig, bis wir von beidem mutmaßlich mehr erleben werden: mehr Angst und mehr Autorität.

Proteste von Impfgegnern © dpa

Am Wochenende fiel mir das kleine Bändchen „Die Einheit hinter den Gegensätzen“ von Hermann Hesse in die Hände. Es lag auf dem Büchertisch eines Antiquariats, obwohl es problemlos auch in die Abteilung für Gegenwartsliteratur passen würde.

Hermann Hesse © dpa

Hesse wirbt – als wenn er die Wunden, die die polarisierte Gesellschaft sich fortwährend selber schlägt, geahnt hätte – „für die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre“. Er begründet, warum Pol und Gegenpol in der liberalen Gesellschaft zusammen gedacht werden müssen und wieso Recht haben und Recht bekommen nur selten zueinander finden.

Denn einzig darin besteht für mich das Leben, im Fluktuieren zwischen zwei Polen, im Hin und Her zwischen den beiden Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern, dass dieser Buntheit eine Einheit zu Grunde liegt.

Um uns einzuführen in sein Denken von der „Zweiheit“ innerhalb der Einheit, betritt er in pädagogischer Absicht das Arbeitszimmer des Komponisten:

Wäre ich Musiker, so könnte ich ohne Schwierigkeiten eine zweistimmige Melodie schreiben, eine Melodie, welche aus zwei Linien besteht, aus zwei Ton- und Notenreihen, die einander entsprechen, einander ergänzen, einander bekämpfen, einander beispringen. Zu jedem Ton gebe es den Gegenton, den Bruder, den Feind, den Antipoden.

Thomas Mann und Hermann Hesse © dpa

Aus dem vergangenen Jahrhundert ruft uns dieser Hermann Hesse, dessen Werk Thomas Mann einst als „zukunftsempfindlich“ beschrieben hat, den Gedanken einer Einheit in Pluralität zu. Oder ins Praktische gewendet: Bei aller jetzt notwendigen politischen und dann auch gesetzgeberischen Klarheit, wie mit der Impfverweigerung am Arbeitsplatz, in der Schule und in der Bahn umzugehen ist, kommt es auf die Tonalität an.

Der Rechtsstaat entscheidet, aber er hasst nicht.

Er befördert das Rationale, aber versagt sich dem Triumphalismus.

Er erweist dem Andersdenkenden, auch wenn er ihn für das Tor seiner Zeit hält, den Respekt. Der gute Demokrat ist nicht nur auf-, sondern auch abgeklärt, wissend, dass die politischen Verrücktheiten wechseln, aber die Würde bleibt.

Oder um es mit Hermann Hesse zu sagen:

Wir Geistigen haben, allen Dampfwalzen und Normierungen zum Trotz, das Differenzieren zu üben und nicht das Verallgemeinern.

Der liberale Realitätstest

Die FDP ringt mit den politischen Folgen steigender Covid-Infektionen und sucht nach ihrer Rolle.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet  © dpa

Aller guten Dinge sind drei: Die CDU will – nach den Übergangsfiguren Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet – im dritten Anlauf einen neuen Vorsitzenden bestimmen. Diesmal soll auch die Basis ein ernstes Wort mitzureden haben. Es treten an:

Friedrich Merz © Anne Hufnagl

Friedrich Merz, Wirtschaftsanwalt, Unternehmensberater, Aufsichtsratsmitglied und Politiker. Seine Parteikarriere liest sich bis dato eher trostlos: Von Merkel 2002 als Fraktionschef ins Abseits gedrängt, 2009 Ausstieg aus der Politik, dann der erste Comeback-Versuch und am 7. Dezember 2018 die knappe Niederlage gegen AKK; im zweiten Anlauf klappt es wieder nicht. Laschet liegt vorn. Gestern Abend ließ sich Merz durch den Vorstand des CDU-Kreisverbands Hochsauerland nominieren. Der Kernsatz seiner politischen Auffassung schaffte es auf den Titel seines Buches:

Mehr Kapitalismus wagen.

Helge Braun © dpa

Der zweite Kandidat ist Helge Braun, der geschäftsführende Kanzleramtschef gilt als letztes Aufgebot Angela Merkels, um ihren Rivalen Merz zu verhindern. Sein Kreisverband Gießen nominierte den 49-Jährigen am vergangenen Freitag.

Norbert Röttgen © Marco Urban

Und last but not least tritt Norbert Röttgen an, der ehemalige Umweltminister und heutige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschuss. Er schnitt beim letzten Mal besser ab als von vielen gedacht und hat diesmal mehr als nur eine Außenseiterchance. Sein Vorteil: Er ist – anders als Merz – kein Flügelmann. Er funktioniert - anders als Braun - nicht als der Bauchredner von Angela Merkel.

Derweil der Kontrahent aus dem Sauerland sich als wertkonservativ vermarktet und vor allem bei CDU-Traditionalisten punktet, tritt Röttgen unter dem Banner des Modernisierers an. Im Gespräch für den heutigen Morning Briefing Podcast sagt er über den Kern vom Kern seiner Kandidatur:

Ich möchte die CDU in den Fragen unserer Zeit wieder zur intellektuellen Führungspartei in Deutschland machen.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Für die aktuelle Corona-Situation zeigt er kein Verständnis und kritisiert ein Handeln in Politik und Verwaltung, das nicht vorausschaut, sondern den Ereignissen hinterher läuft.

Es gelingt uns nicht zu antizipieren, was in zwei Monaten sein könnte. Dabei ist es keine so große Überraschung, dass der Winter kommt.

Zwischen Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur besteht für ihn ein Zusammenhang, aber kein Automatismus:

Es hängt von der Situation ab. Das Wichtigste ist, dass wir Wahlen gewinnen.

Röttgen vs. Merz, die Zweite

Wer unterstützt wen in der CDU? Unsere interne Umfrage zeigt: es läuft auf ein Duell hinaus.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Rasmus Buchsteiner.

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 © smb

Die aktuelle Lage am heutigen Morgen:

Lothar Wieler, RKI-Präsident © dpa

  • Das RKI meldete gestern 23.607 Neuinfektionen, damit steigt die bundesweite Inzidenz auf 303.

  • Unter den Bundesländern hat Sachsen mit 754,3 die mit Abstand höchste Inzidenz. Insgesamt überschritten sieben Landkreise in Deutschland eine Inzidenz von 1.000.

  • Aktuell sind 3.190 Corona-Patienten in Intensivbehandlung. Der Höchststand lag am 3. Januar dieses Jahres bei 5.761 Intensivpatienten.

Eine Infografik mit dem Titel: Intensivbetten: Droht die Überlastung?

Anteil der aktuell belegten Intensivbetten nach Landkreisen, in Prozent

  • Mit Blick auf die steigenden Zahlen verschärfen die Ampel-Parteien nachträglich das geplante Infektionsschutzgesetz: Länder sollen weiterhin Kontaktbeschränkungen anordnen können, die Homeoffice-Pflicht soll wieder eingeführt werden und neben der Maskenpflicht soll eine 3G-Regel in Bus und Bahn gelten. Am Donnerstag stimmt der Bundestag über den Gesetzentwurf ab.

Robert Habeck  © IMAGO

Robert Habeck sagt zu den geplanten Maßnahmen:

Kontaktuntersagung oder 2G-Regelung heißt in weiten Teilen: Lockdown für Ungeimpfte. Das ist die Vulgärübersetzung.

  • Nach den USA hat nun auch Israel den Impfstoff von BioNTech für Kinder zwischen fünf und elf freigeben.

Deutschland braucht die 1G-Regel

Nur eine tägliche Testpflicht für alle - 1G - kann die Pandemie wirksam und gerecht bekämpfen.

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Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Thomas Kotulla .

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Impfgegner © dpa

Im deutschsprachigen Raum ist die Impfskepsis besonders hoch. Österreich, Schweiz und Deutschland belegen bei der Impfquote der westlichen Länder Europas die letzten drei Plätze. Entscheidend dafür sind vor allem drei Gründe:

1. Die oft konfuse Ansprache und widersprüchliche Informationspolitik der Bundesregierung und der Landesregierungen trieb viele in die Hände von Verschwörungstheoretikern. Das fehlende Wissen war die Einflugschneise für Mythen und Märchen.

2. In Österreich und in der Schweiz sind besonders viele junge Leute ungeimpft; sie lehnen staatliche Fördermaßnahmen als autoritär ab und halten den enormen Druck, der auf Ungeimpfte ausgeübt wird, für falsch.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutschsprachiger Raum vorn

Anteil der Bevölkerung im Alter von über 12 Jahren, die noch keine Corona-Impfung erhalten haben, in Prozent

3. Die Anti-Impf-Stimmung korreliert mit einer Anti-Establishment-Stimmung, die in Deutschland vor allem im Osten sehr stark ausgeprägt ist. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums ergab, dass die Hälfte der Ungeimpften bei der letzten Bundestagswahl die AfD wählten.

Eine Infografik mit dem Titel: Nicht-Geimpfte: AfD vorn

Wahlentscheidung der nicht-geimpften Wähler bei der Bundestagswahl 2021, in Prozent

Simon Henry © dpa

Der Öl- und Gaskonzern Royal Dutch Shell will seinen Hauptsitz aus den Niederlanden in das Vereinigte Königreich verlegen. Erstmals seit 114 Jahren wird dann der Namenszusatz „Royal Dutch“ wegfallen und der Öl-Riese nur noch unter „Shell plc“ firmieren.

Seit 2005 nutzt Shell eine komplexe duale Aktienstruktur zwischen den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich, die mit dem Umzug vereinfacht wird. Der steuerliche Hauptsitz liegt dann nicht mehr in Den Haag, sondern in London.

Hintergrund ist auch ein lang andauernder Streit mit den niederländischen Behörden um eine 15-prozentige Quellensteuer auf Dividenden, die der Konzern damit umgeht. Ministerpräsident Mark Rutte begann noch am gestrigen Abend mit dem Versuch, die nötige Mehrheit im Parlament zu gewinnen, um Shell die Quellensteuer zu erlassen.

Mark Rutte © dpa

In der heutigen Ausgabe des Investment Briefings blicken Annette Weisbach und Anne Schwedt detailliert auf die Ankündigung des Ölriesen Shell. Bald werden die Aktionäre über diesen Schritt abstimmen.

Angela Merkel und Emmanuel Macron © dpa

Das Ende der Ära Merkel ist auch das Ende des Duos Merkel-Macron auf europäischer Bühne. Wie es in den deutsch-französischen Beziehungen weitergeht, bespricht meine Kollegin Alev Doğan mit dem langjährigen USA- und Brüssel-Korrespondenten Ralph Sina in ihrem Gesellschaftspodcast Der 8. Tag. Sina sagt:

Emmanuel Macron, der ursprünglich mal die Zahl der Kernkraftwerke reduzieren wollte, hat einen U-Turn gemacht und will mit moderner Kernenergie den kommenden Wahlkampf bestreiten.

Damit wolle er auch Deutschland vorführen, sagt Sina:

Macron will zeigen: Wir wählen den intelligenteren Weg als die Bundesrepublik.

Fazit: Das Ende der einen Ära eröffnet eine neue. Deutschland und Frankreich werden ihre Partnerschaft neu begründen müssen.

Wolf Biermann © dpa

Heute vor 45 Jahren wurde der Liedermacher Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Sein Markenzeichen: Regimekritik der bösen, weil tiefsinnigen Art. In Liedtexten und Theaterstücken kritisierte er die Politik der Genossen unverdrossen.

Menschlich fühl' ich mich verbunden

Mit den armen Stasi-Hunden

Die bei Schnee und Regengüssen

Mühsam auf mich achten müssen

Die ein Mikrophon einbauten

Um zu hören all die lauten

Lieder, Witze, leisen Flüche

Auf dem Klo und in der Küche

Brüder von der Sicherheit

Ihr allein kennt all mein Leid

Berliner Arbeiter-Theater © dpa

Die Systemkritik hatte Methode. So gründete Biermann 1961 das „Berliner Arbeiter-Theater. Mit einem geplanten Stück zum Mauerbau geriet er erstmals in Konflikt mit der SED. Die Inszenierung wurde verboten, das Theater vor der Premiere 1963 geschlossen und Biermann erhielt ein halbjähriges Auftrittsverbot. Die Aufnahme in die SED wird ihm, damals noch ein glühender Kommunist, verweigert.

Auf dem 11. ZK-Plenum im Dezember 1965 zog der Kulturbeauftragte der Partei, ein gewisser Erich Honecker, gegen den Künstler vom Leder:

Biermann verrät heute mit seinen Liedern und Gedichten sozialistische Grundpositionen. Es ist an der Zeit der Verbreitung fremder und schädlicher Thesen und unkünstlerischer Machwerke, die zugleich auch stark pornographische Züge aufweisen, entgegenzutreten.

Die Folge war ein Auftritts-, Publikations- und Ausreiseverbot für Biermann.

Wolf Biermann © imago

Als Biermann im Herbst 1976 durch die IG Metall zu einer Konzertreise nach Westdeutschland eingeladen wird, witterte die SED-Führung ihre Chance, den Mann loszuwerden: „Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen.“ Mit diesem Satz verkündet die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle“ am 16. November 1976 die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers aus dem ostdeutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat’.

Man warf ihm „grobe Verletzungen der staatsbürgerlichen Pflichten“ vor. Mit der Ausbürgerung von Biermann erlosch die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Liberalisierung in der DDR.

Gedenkveranstaltung zum 32. Jahrestag des Mauerfalls  © dpa

Die Mauer fiel, die DDR ging, der Kritiker Biermann aber blieb auf Posten. Als Zeichen seiner Vitalität knöpfte er sich 2014 anlässlich der Gedenkstunde des Bundestages zum Mauerfall die Linksfraktion im Bundestag vor und beschrieb sie:

Ihr seid die elenden Reste der Drachenbrut und all dessen, was zum Glück überwunden wurde.

Norbert Lammert © dpa

Als Norbert Lammert, der damalige Bundestagspräsident, ihn zurechtwies, ließ Biermann ihn wissen:

Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.

Ich wünsche Ihnen einen kämpferischen Start in den neuen Tag.

Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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