Impfdebakel und Börse

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Guten Morgen,

die europäische Impfmisere hat psychologische, politische und ökonomische Folgen, die in Kürze auch den Aktienmarkt erreichen dürften. Das unglückliche Agieren der EU bei der Impfstoff-Versorgung und der verpatzte Start der Schnell-Testung machen den Investoren an den Finanzmärkten zu schaffen. Laut Recherchen von „Bloomberg“ kam es in der dritten Woche hintereinander zu Kapitalabflüssen großer europäischer Aktienfonds in Richtung der USA.

„Die Europäer sollten schleunigst das Impftempo erhöhen, wenn sie die Lage noch in den Griff bekommen wollen“, sagt Seema Shah, Chefstrategin bei Principal Global Investors Ltd., die einen 544 Milliarden Dollar schweren Fonds managt. Der Fonds bevorzuge nun US-Aktien, zumal es Joe Biden gelungen sei, ein 1,9 Billionen Dollar teures Stimulus-Programm durch den Kongress zu bringen.

Eine Infografik mit dem Titel: Ungleiche Erholung

Prognostiziertes Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union 2021, in Prozent

„Auch wenn es sehr pessimistisch klingt, kann ich nur sagen: Die bisherige Impfgeschwindigkeit gefährdet den Wiederaufstieg der europäischen Volkswirtschaften“, urteilt Peter Vanden Houte, der Chefökonom der Großbank ING in Brüssel.

Hintergrund der Kapitalabflüsse ist das Schneckentempo der europäischen Impf-Politik:

  • Die EU hat dem „Bloomberg“-Corona-Impftracker zufolge bisher acht Dosen pro 100 Einwohner verimpft. In Großbritannien sind es 33 Dosen pro 100 Einwohner und in den USA 25 Dosen pro 100 Einwohner, die ihren Weg aus der Pharmaproduktion in den Arm eines Patienten fanden.

  • Das verlangsamte Impftempo führt zu einer Verlängerung des Lockdowns, der laut ifo-Institut in Deutschland rund 16 Prozent der Volkswirtschaft direkt betrifft und über eine geschrumpfte Massenkaufkraft alle inländischen Umsätze negativ beeinflusst. Jede Woche Lockdown bedeutet für Deutschland laut ifo-Institut rund 1,5 Milliarden Euro entgangene Wirtschaftskraft.

Besonders betroffen von der Langsamkeit sind der Einzelhandel, die Unterhaltungsbranche, die Tourismusindustrie und die Fluggesellschaften:

  • Auch wenn der Bund am 1. Juli 2020 bei der Lufthansa für seine 119.864.299 Aktien (ein Anteil von 20 Prozent) nur 2,56 Euro pro Aktie bezahlt hat und daher bis heute – anders als am Freitag berichtet – direkt keinen Milliardenverlust erlitt, sondern abzüglich der ausgereichten Kredite einen Schmalspur-Überschuss von 200 Millionen Euro – tut diese Impf-Entwicklung der Aktie nicht gut. Ein Milliardenverlust ist nämlich sehr wohl entstanden – und zwar unmittelbar in der Bilanz der Lufthansa, die für 2020 einen Nettoverlust in Höhe von 6,7 Milliarden Euro in die Bücher nehmen musste.

  • Der Lufthansa-Aktienkurs, der bisher das Gegensteuern des Vorstandsvorsitzenden honorierte und die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Pandemie reflektierte, gab in der vergangenen Woche spürbar nach. Bei weiter sinkendem Kurs und steigender Kreditbedürftigkeit schmilzt das ohnehin nur rechnerische 200-Millionen-Plus des Staates womöglich schneller dahin als der Schnee in der Frühlingssonne.

Eine Infografik mit dem Titel: Europäische Aktien: In der Gefahrenzone

Erwartetes Kurs-Gewinn-Verhältnis des FTSE100 und EuroStoxx 50, seit 2017

Fazit: Im EU-Aktienmarkt, der eine regelrechte Corona-Rallye hinter sich hat, ist die schnelle Erholung bereits eingepreist. Der EURO STOXX 50 Index wird zum 18-Fachen der erwarteten Unternehmensgewinne gehandelt, derweil der nach der britischen „Financial Times“ benannte FTSE 100 nur mit dem 14-Fachen der prognostizierten Gewinne bewertet ist.

Das bedeutet im Umkehrschluss: Vorsicht Absturzgefahr. Es braucht derzeit keine Steuersenkung und keine Entbürokratisierung, um die Werthaltigkeit der europäischen Firmen zu erhöhen, sondern vor allem ein deutlich gesteigertes Impftempo.

Die Demokratie ist bedroht – weniger von außen als von innen. Populisten sind auf dem Vormarsch mit ihren vermeintlich einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Sie nutzen globale Komplexität als ihre nationale Chance. Und: Das Versagen der bürgerlichen Parteien bei der Problemlösung – siehe oben – spielt ihnen in die Hände.

Doch worin besteht der Kern vom Kern des neuzeitlichen Demokratieproblems? Darüber spreche ich im Morning Briefing Podcast mit der Historikerin Anne Applebaum. Sie ist Professorin „of Practice“ an der London School of Economics. Sie ist Pulitzer-Preis-Trägerin. Sie ist eine weltweit gefeierte Essayistin und Bestsellerautorin.

Applebaum lebt ein wahrhaft transatlantisches Leben, geboren in den USA arbeitet sie für die Zeitschrift „The Atlantic“, als Ehefrau des ehemaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski verbrachte sie die prägenden europäischen Wendejahre in Warschau, wo sie auch heute zu Hause ist. Dort hat sie die Entstehung des autoritären Staates vom embryonalen Zustand bis zur Geburt erlebt. Das Land ist – wie das heutige Ungarn – eine Demokratie auf Abwegen.

Ihre sehr persönlichen Erfahrungen hat sie in dem Buch „Twilight of Democracy“, das am Freitag dieser Woche bei Siedler auf Deutsch erscheint, niedergeschrieben. Der Titel: „Die Verlockung des Autoritären – Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“.

Mein Gespräch mit der streitbaren Historikerin erscheint heute Morgen in Auszügen und am Samstag als Morning Briefing Sonder Podcast Spezial.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Folge

Der Kern des Rechtspopulismus ist für Applebaum ein Leiden an der Moderne:

Diese Gefühle der Enttäuschung über die Moderne gibt es schon sehr lange. Und sie kamen in den letzten zwei Jahrzehnten mit einer ungeheuren Wucht zurück.

Es sei die Gleichgültigkeit der Zivilgesellschaft, die es den Populisten leicht gemacht habe. Der Sieg der freiheitlichen Demokratie über die Sowjetunion habe zum Triumphalismus geführt:

Wir alle begannen, Demokratie zu behandeln, als wäre sie Wasser, das aus dem Hahn kommt. Wir müssen nichts für dieses Wasser tun. Wir drehen den Hahn einfach auf. Es kommt heraus und wir trinken es. Wir müssen nicht darüber nachdenken, woher es kommt.

Anne Applebaum mit ihrem Ehemann Radosław Sikorski

Dabei benötigt eine lebendige Demokratie, also eine funktionstüchtige Herrschaft des Volkes, ein Volk, das sich auf eine gemeinsame Suchbewegung begibt. Eine Bürgergesellschaft, die sich im Interesse einer gemeinsamen Sache streitet und sich wieder versöhnt:

Demokratien brauchen von ihren Bürgern mehr Engagement und mehr Beteiligung. Sie brauchen reform- und veränderungswillige Menschen.

Von der präzisen Analyse schreitet sie beherzt zur „Anne-Applebaum-Lösung“, die auch unsere deutsche Debatte bereichern wird. „Pessimismus“, sagt sie, „ist unverantwortlich“.

Fazit: Wenn Sie heute vorhaben, nur ein Interview zu lesen, zu schauen oder zu hören, dann am besten dieses. Prädikat: unbezahlbar.

Anne Applebaum © imago
Hans-Jürgen Papier © dpa

Eine Woche vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg befindet sich die Union in einer dreifach unkomfortablen Lage:

1. Aus ihren eigenen Reihen wird die Legitimität der fortgesetzten Eingriffe in Bürgerrechte bezweifelt. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier sagt im Interview mit der „Welt am Sonntag“:

Diese Werteordnung unserer Verfassung war schon vor der Pandemie einer jedenfalls partiellen, schleichenden Erosion ausgesetzt. Aber seit einem Jahr müssen wir infolge der Pandemie Abweichungen von dieser Werteordnung feststellen, die sich niemand zuvor hat vorstellen können.

Und weiter:

Ich habe den Eindruck, dass Wert und Bedeutung der Freiheitsrechte in weiten Teilen der Bevölkerung, aber auch in der Politik unterschätzt werden.

Angela Merkel © dpa

Die Formulierung der Kanzlerin, dass es keine „neuen Freiheiten“ geben könne, solange die epidemische Notlage anhalte, hat den Rechtsgelehrten irritiert:

Darin kommt die irrige Vorstellung zum Ausdruck, dass Freiheiten den Menschen gewissermaßen vom Staat gewährt werden, wenn und solange es mit den Zielen der Politik vereinbar ist. Nein, es ist umgekehrt!

2. Der Regierungsbonus ist zum Malus geworden. Die Union sinkt in einer aktuellen Umfrage des Instituts Kantar für die „Bild am Sonntag“ auf 32 Prozent bei der Sonntagsfrage. Das ist der niedrigste Wert für CDU und CSU seit März 2020 und liegt mit 0,9 Prozent unter dem Wahlergebnis der Bundestagswahl von 2017.

Georg Nüßlein © dpa

3. Persönliche Bereicherung erschüttert die Union. Der beherzte Durchgriff in die eigene Tasche hat den beiden Unionsabgeordneten Georg Nüßlein und Nikolas Löbel zu nationaler Prominenz verholfen. Beide kassierten jeweils sechsstellige Provisionen, weil sie Maskenhersteller an das Gesundheitsministerium vermittelt haben. Alle Details zu dem Skandal finden sie auf thepioneer.de/hauptstadt.

Nikolas Löbel © dpa

Fazit: Die Union muss um das Erbe ihrer nunmehr 16-jährigen Regierungszeit kämpfen. Je kleiner der Erbanteil, desto heftiger der Streit der Erben. Markus Söder und Armin Laschet wissen, was hier gemeint ist.

Die CDU stolpert in die Wahlkämpfe

Eine Woche vor den Landtagswahlen verliert die Union Ansehen und Abgeordnete.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Nikab-tragende Frauen © dpa

Die Schweiz hat entschieden: 51,2 Prozent sprechen sich im Zuge eines Volksentscheids für ein landesweites Verhüllungsverbot aus. Die Vorlage zielt darauf ab, muslimischen Frauen das Tragen von Niqab oder Burka im öffentlichen Raum zu verbieten.

Eine Burka ist ein Überwurf, der Frauen ganz verhüllt und nur ein Gitterfenster zum Sehen offen lässt. Das Gewand mit Schlitz für die Augen heißt Niqab.

Mit der Annahme wird die Kleidervorschrift in der Verfassung verankert und gilt auf Straßen, in Restaurants und Geschäften. Eine Ausnahme gibt es für religiöse Versammlungsräume. Ein solches Verbot existiert bereits in den Kantonen St. Gallen und Tessin.

Eine Frau trägt eine Burka in Herat, Afghanistan © dpa

Die Kommentierung fällt auch im bürgerlich-konservativen Lager höchst unterschiedlich aus. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ schreibt Christina Neuhaus:

Die Aussage des Sprechers der Föderation Islamischer Dachorganisationen, er fürchte nun um die Sicherheit der Muslime in der Schweiz, da Frankreich nach dem Verbot einen Anstieg der Gewalt erlebt habe, ist politisch gefärbte Unheilsprophetie.

Die sogenannte Burka-Initiative sei lediglich Symbolpolitik, sagten ihre Gegner – und das ist sie auch. Sie wendet sich gegen das Symbol einer menschenverachtenden, totalitären Ideologie.

Die „FAZ“ kommt zu gänzlich anderen Schlüssen. Dort kommentiert der Schweizer Korrespondent Johannes Ritter den Ausgang der Abstimmung deutlich kritischer:

Gerade weil es sich um Symbolpolitik handelt, ist diese Entscheidung für die Liberalität des Landes ein Schlag. Das ‚Ja‛ ist ein Sieg der ausländerfeindlichen Kräfte, die in der Vollverschleierung ein politisches Statement sehen wollen und dafür eine Einschränkung der Religionsfreiheit in Kauf nehmen.

Fazit: Angesichts der knappen Mehrheit sei eine Prognose gewagt: Die Entscheidung der Schweizer beendet die Debatte nicht, sondern befeuert sie.

Angela Merkel © dpa

Angela Merkel richtet zum heutigen Internationalen Frauentag ein ernstes, weil wahres Wort an die Deutschen:

Denn wir müssen darauf achten, dass die Pandemie nicht dazu führt, dass wir in manch schon überwunden geglaubtes Rollenmuster zurückfallen. So sind es doch wieder vermehrt Frauen, die den Spagat zwischen Homeschooling, Kinderbetreuung und dem eigenen Beruf meistern.

Doch die Zustände, die sie kritisiert, hat die Corona-Politik ihrer Regierung erst herbeigeführt.

  • Frauen werden durch Kita- und Schulschließungen wieder in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt. Die realen Verhältnisse wirken wie eine Herdprämie.

  • Auch im Wissenschaftsbetrieb verschieben sich die Gewichte zuungunsten der Frauen. Kita- und Schulschließungen führten messbar dazu, das die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen von Forscherinnen abnahm, selbst wenn die Autorinnen selbst keine Mütter waren. Der Grund: Der sie unterstützende Apparat wurde heruntergefahren.

  • Das Home-Office ist – anders als der im Betriebsverfassungsgesetz geregelte Betriebsfrieden einer normalen Firma – ein weithin unregulierter Ort; auch ein Ort von Streit, Gewalt und Leistungsstress. Dieser Stress, da er unter oft beengten Verhältnissen und ohne Zeitlimitierung stattfindet, führt nicht zu höherer Produktivität, sondern zu Gefühlen der Hilflosigkeit bis hin zum Burnout.

Fazit: Die Machtfülle einer Bundeskanzlerin begründet sich darin, dass sie die Wirklichkeit nicht beweint, sondern verändert. Der Internationale Frauentag, der heute begangen wird, darf für sie nicht nur Klagemauer, sondern muss Verpflichtung sein.

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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