Wahrheit und Dichtung sind beim europäischen Impfstoff-Skandal schwer auseinander zu halten. Regierung, EU-Kommission und die diversen Hersteller tun vieles, um Mythen und Märchen zu verbreiten.
Daher hier der Versuch des Morning Briefing Teams, für Aufklärung zu sorgen.
Mythos 1: Die Europäische Kommission habe ausreichend Impfstoff für alle bestellt, der nur leider aufgrund von Produktionsbeschränkungen nicht vom Start weg lieferbar ist.
Die Wahrheit: Genug Impfstoff für alle ist da – die Frage ist nur, wann welcher Kunde an der Reihe ist. Die Auslieferung erfolgt anhand der geschlossenen Verträge. Die Kritik am europäischen Bestellverfahren ist nicht, wie Bundeskanzlerin und Gesundheitsminister behaupten, dass europäisch verhandelt wurde, sondern WIE verhandelt wurde. Zu lange. Zu bürokratisch. Zu preisfixiert. Erst im November bestellte die EU beim BioNTech/Pfizer-Konsortium, da war die Tinte der amerikanischen und der britischen Einkäufer längst getrocknet.
© imagoMythos 2: Israel habe sich durch eine Generalübernahme aller Risiken gegenüber den Pharmafirmen Vorteile bei der Beschaffung des Impfstoffes verschafft, behauptet etwa Merkels ehemaliger Generalsekretär Ruprecht Polenz.
Die Wahrheit: Konkrete Vertragsdetails kennt wohl auch Polenz nicht. Entscheidend dürfte gewesen sein, dass Israel früher bestellt sowie mehr bezahlt hat als die Europäer und dass Benjamin Netanjahu die Bestellung zu seinem persönlichen Anliegen machte. Der israelische Premier hat den Draht zu Pfizer gesucht; Merkel den zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Mythos 3: Die Bundeskanzlerin persönlich habe diese europäische Lösung mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verabredet – gegen den Widerstand des deutschen Gesundheitsministers.
Die Wahrheit: Angela Merkel hat in der Tat frühzeitig klargemacht, dass es nur eine europäische Verhandlung mit den Herstellern geben soll. Es stimmt auch, dass Gesundheitsminister Jens Spahn mit den Partnerländern Frankreich, Italien und den Niederlanden schon im Frühjahr 2020 die Impfstoffbeschaffung angestoßen hat, dann aber das Mandat im Juni an die EU-Kommission übergab. Einen Widerstand des Gesundheitsministers gegen das EU-Verhandlungsmandat gab es nicht.
© imagoMythos 4: Die EU-Kommission wollte BioNTech zunächst nicht berücksichtigen.
Die Wahrheit: Das stimmt. Spahn war es, der darauf gedrungen hat, dass BioNTech/Pfizer in den EU-Verhandlungen berücksichtigt wurde, obwohl der Impfstoff damals deutlich teurer und komplizierter zu handhaben war. Spahn verhandelte auch mit Pfizer-CEO Albert Bourla, dass ein kompletter Haftungsausschluss für die EU nicht infrage komme.
Mythos 5: Nur die Doppelimpfung bietet vollständigen Schutz gegen das neuartige Coronavirus.
Die Wahrheit: Das ist korrekt. Die Einfachimpfung, die in Ländern wie Großbritannien bevorzugt wird, um eine schnelle Durchimpfung zu erreichen, schützt den Geimpften nur zu rund 60 Prozent. Die zweite Impfung sollte innerhalb von drei Wochen erfolgen; sie erhöht den Schutz laut klinischen Studien von BioNTech und Pfizer auf über 90 Prozent.
Mythos 6: Mit dem britischen Impfstoff AstraZeneca verändert sich die Lage dramatisch, weil dieser auch bei normalen Temperaturen von zwei bis acht Grad Celsius gelagert werden kann. Die Probleme des BioNTech-Impfstoffes, der zurzeit bei minus 70 Grad Celsius gelagert werden muss, wären durch den neuen Wirkstoff gelöst.
Die Wahrheit: Liefer-Verzögerungen beim AstraZeneca-Impfstoff überlagern die eigentlich positive Entwicklung. Die EU-Kommission hatte im August die Lieferung von bis zu 400 Millionen Impfstoffdosen vereinbart. Die Behörde zahlte einen dreistelligen Millionenbetrag. AstraZeneca erklärte jedoch am Freitag, dass nach der Zulassung zunächst weniger Impfstoff als vereinbart an die EU geliefert werde könne. Statt 80 Millionen Impfstoffdosen sollen es nach EU-Angaben bis Ende März nur 31 Millionen sein. Zur Begründung hieß es, es gebe Probleme in der europäischen Lieferkette.
Mythos 7: Die EU weiß nicht, wie viel Impfstoff exportiert wird.
Die Wahrheit: Das ist bedauerlicherweise wahr und soll jetzt schleunigst geändert werden. Die Kommission schlug dafür gestern ein „Transparenzregister“ vor, das binnen weniger Tage eingeführt werden soll. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sagte, alle Firmen, die Covid-19-Impfstoffe in der EU produzierten, müssten künftig vorab anmelden, wenn sie in Drittstaaten exportieren wollten.
Mythos 8: Die Bundesregierung denkt und handelt streng europäisch, auch um als größte Volkswirtschaft der Euro-Zone niemanden zu verletzen.
Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung hat nach dem mitverursachten Impfchoas – viel europäischer Weihrauch, kaum Impfstoff – einen zügigen Kurswechsel eingeleitet. 400 Millionen Euro investiert die Regierung nun, um 200.000 Dosen zweier Antikörper-Medikamente gegen das Virus zu kaufen. Das Ganze ist eine kostspielige, aber sinnvolle Maßnahmen, um die Folgen der Covid-Erkrankung zu dämpfen. Diesmal kauft die Regierung allein und ohne die reguläre Zulassung in Europa abzuwarten. Das Paul-Ehrlich-Institut, als Bundesinstitut ist es für die Zulassung und Bewertung von Impfstoffen verantwortlich, erteilt de facto eine Not-Zulassung für Spezialkliniken. Dieser Schritt wäre auch beim Impfstoff möglich gewesen.
Fazit: Die Bundesregierung hat Fehler gemacht, die EU-Kommission geschlafen. Beide versuchen zu lernen.
Kanzlerin Angela Merkel tritt intern noch drastischer auf als vor der Bundespressekonferenz. Die „Bild“-Zeitung protokolliert einige Aussagen aus einer internen Videoschalte der Unions-Fraktionschefs von Bund und Ländern am Sonntagabend.
Thema Kontrollverlust:
Uns ist das Ding entglitten.
Wir müssen noch strenger werden, sonst sind wir in 14 Tagen wieder da, wo wir waren.
Das ist alles furchtbar. Man nennt es Naturkatastrophe.
Thema Mutationen:
Wir leben durch die Mutationen auf einem Pulverfass.
Thema Urlaub:
Was ist mit Deutschen, die reisen? Hundertmal habe ich die Frage in den Runden gestellt: Warum können wir die Reisen nicht verbieten?
Die Konjunkturprognosen für 2021 werden derzeit nach unten korrigiert und sind wahrscheinlich noch immer zu optimistisch. In ihrem Jahreswirtschaftsbericht, der am Mittwoch veröffentlicht wird, dürfte die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose von 4,4 Prozent auf drei Prozent reduzieren. Damit liegt der Wirtschaftsminister auf einer Wellenlänge mit der Bundesbank, die schon im Dezember ihre Erwartungen nach unten gepegelt hatte.
Doch die Wahrheit ist: Selbst diese Prognosen sind eher Prophezeiungen, die sich der Wissenschaftlichkeit weitestgehend entziehen. Die europaweit erhöhten Infektionszahlen, das Auftauchen diverser Virus-Mutanten und nicht zuletzt die nur schwerfällig in Gang kommende Massenimpfung sind wichtige Unbekannte in der Rechnung.
Es sind diese fünf Faktoren, die 2021 belastender wirken als 2020:
1. Die Eigenkapitalpolster vieler Firmen sind durch die dichte Abfolge der Lockdowns aufgezehrt.
2. Das Vertrauen vieler Investoren in die Weisheit der politischen Führung hat im Zuge der Folge von Lockdown und Öffnung mit angeschlossenem Doppel-Lockdown gelitten. Das Licht am Ende des Tunnels hatte sich zuletzt immer wieder als Fata Morgana erwiesen.
© imago3. Die Corona-Toten, die in den letzten Monaten zwischen 500 und knapp 1800 pro Tag gelegen haben, sind für viele Familien keine abstrakte Größe mehr. Corona hat ein Gesicht bekommen, das aussieht wie der Großvater und die Großmutter. Die Menschen sind traurig, nicht konsumfreudig.
4. Die komplette Schließung des Kulturbetriebs, der Gastronomie, der Fitness-Center und des Einzelhandels, verbunden mit einer stark eingeschränkten Reisetätigkeit, sorgen für Zweit- und Dritt-Runden-Effekte, die dann auch die Industrie betreffen. Was der Handel nicht verkauft, braucht der Hersteller nicht herzustellen.
5. Wichtige Abnehmerländer der deutschen Volkswirtschaft schwächeln. Vor allem die 2020er Wachstumsverluste in Südeuropa – Griechenland minus 9,5 Prozent, Italien minus 10,65 Prozent, Spanien minus 12,83 Prozent und Frankreich minus 9,76 Prozent gegenüber 2019 – drücken auch die Stimmung bei den deutschen Exporteuren.
Fazit: Der Aufschwung kommt, aber später und schwächer.
Patrick Zahn, der Vorstandschef des Textil-Discounters KiK, lebt ein Leben im Zentrum der deutschen Gegenwartsprobleme. Von seinen knapp 29.000 Mitarbeitern sind derzeit keine 7000 bei der Arbeit. Der Konzern verliert pro Monat zur Zeit hohe Millionenbeträge. Die Lieferketten in die Textilfabriken von Pakistan, China und Bangladesh sind wackelig geworden.
Der Online-Verkauf ist für Kik kein Geschäft mit Perspektive. Von den 2,6 Milliarden Euro in 2020 wurden nur 40 Millionen Euro im Shop-Geschäft erzielt. Denn: Knapp 50 Prozent aller KiK-Artikel rangieren unterhalb der 2-Euro-Preisgrenze, für die Haus-zu-Haus-Lieferung keinen Sinn macht. Und: Von den rund sechs Millionen Einkommensschwachen hierzulande, die keine Kreditkarte besitzen, gehört die Mehrzahl zu den KiK-Kunden.
Der erste Lockdown hatte mit Zeitverzögerung zu höheren Umsätzen in der Zeit danach geführt. Doch diesmal, fürchtet Zahn, werde sich der Verlust nicht mehr aufholen lassen. Im Podcast-Gespräch sagt er:
Der zweite Lockdown ist deutlich massiver. Wir waren vor dem Lockdown ein hoch erfolgreiches Unternehmen.
Die Entscheidungen der Politiker kann er nicht nachvollziehen:
Wir tracken intern jeden Corona-Verdachtsfall. Wir sind mit unseren Mitarbeitern immer hinter dem deutschen Bundesdurchschnitt, was meiner Meinung nach dafür spricht, dass der Handel kein Superspreader-Event ist. Deshalb verstehen wir nicht, dass es gerade jetzt den Handel trifft.
Eine mögliche Verlängerung des Lockdowns bis nach Ostern kommentiert er so:
Für uns ist es kritisch. Ich weiß von vielen anderen, dass es für sie tödlich ist.
Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen China und den USA oder Europa hat sich Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping für mehr internationale Kooperation ausgesprochen. Die Probleme der Welt könnten von keinem Land alleine gelöst werden, sagte Xi Jinping gestern in einer Videorede zur Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos:
Die Geschichte hat wiederholt deutlich gemacht, dass die Strategie der Konfrontation, sei es in der Form eines Kalten Krieges, eines richtigen Krieges, eines Handels- oder Technologiekrieges am Ende den Interessen aller Länder schadet und das Wohlergehen aller untergräbt.
Doch Worte und Taten passen derzeit bei den Chinesen nicht zusammen:
In Taiwan drangen in den vergangenen Tagen chinesische Kampfjets in die Luftraum-Verteidigungszone von Taiwan ein.
An der indisch-chinesischen Grenze gibt es erneut gewaltsame Konflikte. Anlass ist ein Streit um ein Gebiet in der Größe Portugals. 1962 führte die Auseinandersetzung zu einem kurzen Krieg zwischen den beiden Ländern. Im vergangenen Juni gab es erneut Tote.
Fazit: China täuscht die Weltgemeinschaft über den aggressiven Charakter seiner Politik. Man redet sanft und schlägt brutal zu – auch und gerade in Hongkong.
Heinrich von Pierer wird heute 80 Jahre alt. Der langjährige Siemens-Chef, den ich als „Spiegel“-Mann oft getroffen hatte, einmal auch im spontan angemieteten Konferenzraum des Kanzler-Airbus auf dem Weg nach China (siehe Foto), war lange Jahre so etwas wie der Klassensprecher der Deutschland AG. Seine Fähigkeit zur Moderation und die Pionierrolle, die er im Asiengeschäft einnahm, verschafften ihm eine herausgehobene Stellung.
Die Kanzler wechselten von Kohl auf Schröder auf Merkel, aber von Pierer blieb auf Posten – drei Jahre als einfaches Vorstandsmitglied, dreizehn Jahre als Vorstandschef und zwei weitere als Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG. Auch in den Aufsichtsräten von Bayer, Deutsche Bank, Münchener Rück und Volkswagen wirkte er mit. Die Kanzler Schröder und Merkel schmückten sich mit ihm als wirtschaftspolitischem Berater.
© imagoDie Siemens-Schmiergeldaffäre beendete seine Karriere am 25. April 2007 schließlich jäh. Hintergrund waren schwarze Kassen und dubiose Zahlungen in Millionenhöhe, mit denen sich der Konzern weltweit Aufträge sicherte. Der Posten ging, der Respekt blieb. Oder um es mit dem Pathos des österreichischen Nationaldichters Franz Grillparzer zu sagen: „Gebeugt erst zeigt der Bogen seine Kraft.“
© imagoIch wünsche ihm und Ihnen einen beschwingten Start in den neuen Tag. Herzlichst grüßt Sie
Ihr