in Europa gibt es eine Ein-Mann-Opposition – und die heißt Jens Weidmann. Kaum hat der Bundesbankpräsident die mentale Niederlage verwunden, dass Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihn im Juni 2019 bei der Besetzung des Spitzenpostens der Europäischen Zentralbank (EZB) ignorierten, dreht er wieder auf. Er ist der zurzeit mächtigste Kritiker der herrschenden Geldflutungspolitik.
Die Waffe seiner Wahl ist dabei nicht der rhetorische Holzhammer, sondern das im Säurebad der Experten geschärfte Florett. In seiner Rede vor dem Rat für Auswärtige Beziehungen in New York warnte er am Mittwoch vor allzu großer Nähe zwischen Politik und Zentralbank:
Ich finde es besorgniserregend, wenn handelspolitische Debatten mit Geldfragen verflochten sind.
Im Klartext: Die von Trump betriebene Bastardisierung der Verhältnisse, also die Vermischung von Geld und Handelspolitik, lehne ich ab.
Einige Beobachter fordern, dass sich Zentralbanker vor Politikern beugen sollten. Sie glauben offensichtlich, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank heutzutage überflüssig ist.
Heißt: Ich bin altmodisch und das ist gut so.
Es ist richtig, dass die Fiskalpolitik an der unteren Zinsgrenze theoretisch oft als ein mächtiges Instrument angesehen wird. Die Interessen der Geldpolitik und der Fiskalpolitik werden sich jedoch nicht für immer überschneiden.
Er meint: Ich bin nicht bereit, die neue Normalität als Dauerzustand zu akzeptieren.
Meiner Ansicht nach ist es für die Zentralbanken umso wichtiger, sich an eine enge Auslegung ihres Mandats zu halten.
Damit will er sagen: Der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi ist mit der extensiven Auslegung des Mandats zu weit gegangen.
Wird das Mandat weit ausgelegt, würde die Unabhängigkeit früher oder später infrage gestellt, und das zu Recht.
Für ihn ist klar: Ein Notenbanker darf niemals der Büttel der politisch Mächtigen sein. Oder deutlicher noch: Draghi hat die reformunwilligen Regierungen in Südeuropa mit immer neuen Geldinjektionen versorgt und sich damit prostituiert.
© dpaWeidmann denkt so, aber so spricht er natürlich nicht. Seine Politik besteht darin, dass er nicht politisch auftritt. Er gibt den Experten, obwohl er wie einst Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl ein hochgradig politisierter Experte ist, der durch seine frühere Arbeit im Kanzleramt – damals als Merkels oberster Wirtschaftsberater – den Rhythmus der Politik nicht nur kennt, sondern spürt. Er weiß, dass es eine Welt jenseits von Lombardsatz und Geldmenge M3 gibt, deren Schwingungen auf die Geldpolitik zurückwirken.
Das Momentum ist mit dem Mutigen. Überall im Europa der Geldpolitik rumort es. Was Weidmann in den Wald rief, kehrte als Echo der Experten zu ihm zurück.
► Eine Gruppe um die ehemaligen EZB-Chefvolkswirte Jürgen Stark und Otmar Issing verfasste kürzlich ein Memorandum, das Weidmanns Position unterstützt. In dem Papier heißt es, die EZB habe „die Grenze zur Finanzierung von Staatshaushalten schon überschritten“.
► Selbst die bisherigen Unterstützer der Null- und Negativzins-Politik fallen mittlerweile vom Glauben ab. „Ich dachte, dass weitere Ankäufe zum jetzigen Zeitpunkt unnötig sind“, kritisiert der französische Notenbank-Chef François Villeroy de Galhau.
► Auch Draghi-Vorgänger Jean-Claude Trichet kommen allmählich Zweifel, ob die auf fünf Jahre angelegte Aufkauf-Politik, für die der EZB-Rat zwanzig Milliarden Euro pro Monat bewilligt hat, nicht die Perversion einer zunächst notwendigen Krisenabwehrmaßnahme darstellt: „Die gegenwärtige Situation kann nicht ewig dauern“, schreibt er in der „Financial Times“. Weiter heißt es: „Die EZB hat ihre Verpflichtungen erfüllt, aber die Geldpolitik kann nicht immer das einzige Spiel in der Stadt sein.“
Fazit: Die Ein-Mann-Opposition Weidmann akquiriert in aller Stille ihre Koalitionspartner. Auch bei der Union, wo Weidmanns wichtigste Verbündete zu finden sind, deutet sich ein Meinungswechsel an. Die Parteichefs von CDU und CSU, Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder, der Finanzexperte Friedrich Merz und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sind empfänglich für eine harte Geldpolitik, die nicht die Börse und den Immobilienmarkt zur Blasenbildung treibt, sondern die Kaufkraft und die Sparguthaben stärkt.
© dpaLudwig Erhard hat bewiesen, dass man auch mit geldpolitischen Grundüberzeugungen in Deutschland Wahlen gewinnen kann. Gegen den Widerstand des damaligen Kanzlers Konrad Adenauer setzte er 1961 als Wirtschaftsminister die Aufwertung der D-Mark durch. Der Ertrag bei der Bundestagswahl sechs Monate später: 45,3 Prozent für die Union. Erhard hatte den Grundstein für seine Kanzlerschaft gelegt. Zwei Jahre später war er der neue Adenauer.
Der Ausflug von US-Vizepräsident Mike Pence nach Istanbul scheint sich gelohnt zu haben. Gestern Abend vereinbarten die USA und die Türkei für Nordsyrien eine Waffenruhe. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan stoppte – vorerst – den Vormarsch seiner Militärs.
Abzuwarten bleibt, ob diese Waffenruhe auch das Wochenende überlebt. Denn das Kriegsziel von Erdogan ist klar: Er will den Traum der im Nordosten Syriens lebenden Kurden auf eine autonome Region zerstören. Die rund 35 Millionen Kurden weltweit betrachtet er als Erzfeinde.
Im Morning Briefing Podcast spreche ich über die verzweifelte Situation der Kurden mit Kahraman Evsen, dem Präsidenten des Zentralrates der Kurden in Deutschland, der zugleich Präsident der Kurdisch-Europäischen Gesellschaft ist.
Evsen wurde im Grenzgebiet zu Syrien geboren und ist als Kind mit seinen Eltern ins Schwabenland geflohen. Heute arbeitet er als Beamter für das Europäische Parlament. Über seine Gefühle nach dem Einmarsch der Türken sagt er:
In mir spüre ich eine Leere.
Die den Kurden nun verbleibende Entscheidung für die türkische Seite oder die Unterstützung durch den syrischen Machthaber Baschar al-Assad beschreibt Evsen als Wahl zwischen Pest und Cholera:
Bei Erdogan geht es um die komplette Vernichtung. Er möchte eine ethnische Säuberung vornehmen in den Kurdengebieten. Assad hingegen verfolgt die Politik: Solange ihr unter meiner Kontrolle lebt und ich mein Militär dort haben kann, seid ihr willkommen.
Eine Infografik mit dem Titel: Türkei: Deutschlands bester Kunde
Anteil deutscher Waffen-Exporte in die Türkei am Gesamtvolumen in 2018, in Millionen Euro
Zwischen Worten und Taten liegt zuweilen ein Ozean des Selbstbetrugs. Die Bundesregierung weiß, was hier gemeint ist. Das Waffenembargo gegenüber der Türkei ist der Kontrapunkt zur Exportpraxis, die der hiesigen Rüstungsindustrie in diesem Jahr Verkäufe auf Rekordniveau bescherte. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres wurden Waffen im Wert von 250,4 Millionen Euro in die Türkei geliefert, ein solches Volumen hatten die deutschen Rüstungsexporte zuletzt im Jahr 2005 erreicht – damals allerdings nach zwölf Monaten.
Schon im vergangenen Jahr war die Türkei der größte Abnehmer für Waffen „Made in Germany“: Die Lieferungen an die Türkei bestritten mit 242,8 Millionen Euro fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte (siehe Grafik oben). Wir erleben einmal mehr: Die Regierung spricht anders, als sie handelt. Werte, die den Weg vom Mund zur Hand nicht schaffen, sind wertlos.
Europa bewegt sich doch: Die 27 verbleibenden EU-Staaten haben das neue Brexit-Abkommen mit Großbritannien gebilligt. Die Zeit drängt: Am 31. Oktober, in nicht einmal zwei Wochen, will London in die so heiß ersehnte Freiheit entlassen werden.
Streitpunkt war bis zuletzt die Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Derzeit gibt es dort keine Kontrollen. Daran wollen Dublin und Brüssel festhalten. Die nun erreichte Einigung umfasst vier Punkte:
► Bis ein Freihandelsabkommen in Kraft tritt, bleiben EU-Binnenmarktgesetze bestehen, weil Nordirland durch die offene Grenze mit Irland praktisch weiterhin direkten Zugang zum EU-Binnenmarkt hat.
► Nordirland bleibt sowohl in einer speziellen Zoll-Partnerschaft mit der EU als auch in der Zollunion des Vereinigten Königreichs.
► Die in Nordirland erhobenen Mehrwertsteuersätze werden für einheitliche Wettbewerbsbedingungen an das Niveau des Nachbarlandes angeglichen.
► Die nordirische Volksvertretung kann vier Jahre nach Inkrafttreten der Vereinbarung darüber abstimmen, ob diese weiter gelten soll.
Aber: In Europa weiß man, dass die Brexit-Zitterpartie weitergeht. Denn im britischen Unterhaus artikulierte sich sofort Widerstand. Zum Schwur kommt es nun bei einer Sondersitzung am Samstag. Premier Boris Johnson hat im Unterhaus keine Mehrheit und kann nur auf Unterstützung aus der Opposition hoffen. Johnsons Vorgängerin Theresa May weiß, dass diese Hoffnung nicht trügerisch, sondern naiv ist.
Eine Infografik mit dem Titel: Thüringen: Mohrings Aufholjagd
Umfragewerte von CDU und Linke, in Prozent
Neun Tage vor der Landtagswahl in Thüringen zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring und Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken ab. Nach der jüngsten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen liegt Mohrings CDU nur noch einen Prozentpunkt hinter Ramelow. Der Alt-Linke spürt den Atem der Bürgerlichen im Nacken.
Und die Stimmen der AfD, auch das zeigt diese Umfrage, wurden nach den Todesschüssen von Halle deutlich geschrumpft. Womöglich hat Deutschland den Höhepunkt der gesellschaftlichen Polarisierung bereits hinter sich. Es gibt eine neue Sehnsucht nach Ausgleich und Innehalten. Die Gesellschaft strebt vom Ich zum Wir. Zumindest das Hoffen ist wieder erlaubt.
Damit melde ich mich in eine zehntägige Schreibklausur bei Ihnen ab. Ein neues Buch soll entstehen, dessen Erscheinen für das Frühjahr 2020 geplant ist. Bis zu meiner Rückkehr wird Michael Bröcker den morgendlichen Weckdienst übernehmen und im Podcast-Studio begrüßt Sie Chelsea Spieker.
© ThePioneerBleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr