schon in meiner frühen Zeit als freier Mitarbeiter bei der Lokalzeitung hieß es: Du darfst bei uns alle kritisieren, den amerikanischen Präsidenten, die CIA und den Kreml, nur bitte nicht den Herrn Oberbürgermeister.
Der Herr Oberbürgermeister der Hauptstadtpresse ist die Frau Bundeskanzlerin, weshalb der folgende Sachverhalt von ARD, ZDF und den überregionalen Zeitungen mit großer Diskretion behandelt wird. Es geht um das Bundeskanzleramt, die schon heute mit 25.347 Quadratmetern Nutzfläche größte Regierungszentrale der westlichen Welt – rund achtmal größer als das Weiße Haus, zehnmal größer als Downing Street No. 10 und dreimal größer als der Élysée-Palast in Paris.
© imagoDieses Bundeskanzleramt, so haben Merkel und ihr Kabinett beschlossen, soll bis zum Jahr 2028 durch einen Neubau auf der gegenüberliegenden Spreeseite auf 50.000 Quadratmeter verdoppelt werden. Im Januar 2019 wurde das Projekt den Parlamentariern als „nüchterner, auf Funktionalität ausgerichteter Zweckbau“ verkauft.
Doch davon kann nicht die Rede sein. Als der Bundesrechnungshof sich mit den Planungen befasste, stieß er auf die Platin-Card-Variante eines Regierungssitzes, wie man ihn weltweit nirgendwo sonst findet. Das muss man sich in Zeiten knapper Kassen erstmal trauen:
Geplant ist ein Kindergarten für 12 bis 15 Kinder mit einer Nutzfläche von 266,5 m². Kostenpunkt: 2,8 Millionen Euro. Dies entspreche dem dreifachen eines normalen Kindergartenplatzes, sagt der Rechnungshof.
Neun Wintergärten sind in Planung, die sich auf jeweils fünf Etagen erstrecken. Für die Verglasungen, den Sonnenschutz der Wintergärten und Befahranlagen zur Glasreinigung werden über 14 Millionen Euro veranschlagt.
Die Verdoppelung der Bürofläche ist für 395 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter projektiert. Die Kosten pro Quadratmeter belaufen sich auf unfassbare 18.529 Euro. Vergleichbare öffentliche Bauten wie der Neubau des Innenministeriums (6.499 Euro), das Humboldtforum (15.265 Euro) und die Erweiterung des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses (11.443 Euro) kommen mit deutlich weniger aus.
Eine Infografik mit dem Titel: Kanzleramt first
Verhältnis der Gesamtkosten zur Nutzfläche, in Euro pro Quadratmeter
Obwohl es im alten Kanzleramt schon eine 200 m² große Kanzlerwohnung gibt, soll eine neue Kanzlerwohnung, diesmal von 250 m² Größe, entstehen. Allein die „rechnerischen Ausstattungskosten“ der Gemächer mit Sofas, Schrankwand und Lampen liege bei 225.000 Euro, schätzt der Rechnungshof.
Eine zweite 176 Meter lange Brückenverbindung über die Spree, um das Bestandsgebäude mit dem Erweiterungsbau fußläufig zu verbinden, sei notwendig, sagt das Kanzleramt. Kostenpunkt: 18,1 Millionen Euro.
Ein zusätzlicher Hubschrauberlandeplatz ist für zehn Millionen Euro in Arbeit. Die kreisrunde Plattform soll sich auf einem 23 Meter hohen Sockel befinden.
Das Bundeskanzleramt will von einem Zweckbau jetzt nichts mehr wissen. Der Regierungssitz genieße „innerhalb der Bundesregierung eine Solitärstellung“, deshalb dürfe der „Neubau nicht unter das architektonisch-bautechnische Niveau des bestehenden Kanzleramtsgebäudes absinken“, teilte man dem Rechungshof mit.
Die Unterbringung der Kanzleramts-Kinder im nahe gelegenen Parlamentskindergarten sei nicht möglich; die Errichtung der Wintergärten schon wegen der gleichen Arbeitsbedingungen für alle unabdingbar und die zweite Kanzlerwohnung unverzichtbar, ließ das Kanzleramt den Rechnungshof wissen.
Die Kostenexplosion ist angesichts dieser staatlichen Spar-Verweigerung keine Überraschung mehr. Nachdem man dem Parlament zunächst Baukosten in Höhe von rund 400 Million Euro genannt hatte, beziffert das Innenministerium die Angelegenheit nun auf über 600 Millionen Euro, was dem Rechnungshof noch immer als eine unhaltbare Untertreibung scheint. In dem Prüfbericht heißt es:
Der Bundesrechnungshof hat Zweifel, dass alle zu erwartenden Kosten bekannt sind. Dadurch besteht ein erhebliches zusätzliches Kostenrisiko.
Was bleibt, sind Fragen der grundsätzlichen Art: Wozu braucht Deutschland eine derartige Expansion der Regierungszentrale? Warum lässt die Regierung zu, dass in ihrem Einflussbereich Quadratmeterpreise aufgerufen werden, die kein Hollywoodstar zahlen würde und die auch alle bisherigen Dimensionen in Deutschland sprengen? Wieso schaut ausgerechnet Angela Merkel, die sich zu Recht viel auf ihre Bescheidenheit zugutehält, dabei zu, wie für ihre Nachfolger eine Wirkungs- und Spielstätte entsteht, die das von den Berlinern in Anspielung an den früheren Bauherrn Helmut Kohl „Kohlosseum“ genannte Kanzleramt ins Obszöne übersteigert.
© dpaFazit: Politisch will der geplante Prunkbau nicht so recht mit dem Staatsverständnis der CDU harmonieren. Wie ein surrealer Zwischenruf aus der Geschichte wirken jene Parteitagsreden und Programmbeschlüsse, die vom schlanken Staat erzählen. Offenbar rechnet man mit der Apathie der Bürger, die ihre Erregungsenergie bereits andernorts verfeuert haben. Botho Strauß hat es geahnt:
Die Menschen in post-panischer Zeit werden nicht mehr erschreckbar sein.
25 Tage vor der Präsidentenwahl in den USA dominieren die TV-Duelle und ihre Bewertung den Wahlkampf: Präsident Donald Trump zog gegen seinen Rivalen Joe Biden den Kürzeren. Laut der Umfrage-Webseite Realclearpolitics konnte Biden seinen Vorsprung auf mittlerweile 51,6 Prozent ausbauen und liegt mit 9,7 Prozentpunkten vor Trump.
Bei der Debatte der Vize-Kandidaten konnte die Demokratin Kamala Harris die Zuschauer mit ihrer charmanten Standfestigkeit überzeugen. In einer Umfrage des Nachrichtensenders CNN hielten 59 Prozent Harris für die Gewinnerin der Debatte – nur 38 Prozent votierten für Pence.
Eine Infografik mit dem Titel: Harris überzeugt Amerikaner
Umfrage über Ausgang der Pence-Harris-Debatte, in Prozent
Unter dem Druck der demoskopischen Befunde zog Trump seine zunächst erteilte Absage an ein weiteres Spitzenduell zurück. Allerdings: Aufgrund seiner Covid-19-Erkrankung muss das ursprünglich für den 15. Oktober in Miami geplante Aufeinandertreffen wahrscheinlich verschoben werden.
In der neuen Episode unseres Podcasts „Race to the White House“ gehen Gastgeber Julius van de Laar und ThePioneer-Vizechefredakteur Gordon Repinski der Frage nach, ob Präsident Donald Trump wenige Wochen vor der Wahl noch ein Comeback gelingen kann. Weitere Themen sind die oft verschlungenen Pfade der Wahlkampffinanzierung. Außerdem erklären Julius und Gordon, wie es eine kleine Fliege geschafft hat, zum großen Star der TV-Debatte zwischen Mike Pence und Kamala Harris zu werden.
Ab 17 Uhr finden Sie die neue Episode hier.
Die steigenden Corona-Infektionszahlen alarmieren die Regierung. Dabei rückt zunehmend die Entwicklung in der Hauptstadt Berlin in den Fokus. Dort wird der als kritisch geltende Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen überboten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mahnt zur Solidarität:
Diese Pandemie ist auch ein Charaktertest für uns als Gesellschaft, der nur gemeinsam zu bestehen ist.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Corona-Pandemie in Deutschland
Anzahl der Infizierungen insgesamt, der Genesenen, der aktuell Erkrankten und der Todesfälle
Der Bund plant mit 1,1 Milliarden Euro an zusätzlichen Ausgaben für einen möglichen Tarifabschluss für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Diese Summe sei im Haushaltsentwurf von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) für das kommende Jahr vorgesehen, wurde der Politik-Redakion von ThePioneer am Donnerstag aus Koalitionskreisen bestätigt.
Die Personalkosten im aktuellen Bundesetat belaufen sich auf 35,4 Milliarden Euro. Aktuell läuft die Tarifrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen. Verdi und Beamtenbund wollen ein Lohnplus von 4,8 Prozent durchsetzen.
Außerdem geht es in unserem Newsletter „Hauptstadt – Das Briefing“ um die wohl umstrittenste diplomatische Vertretung Berlins. Der neue Botschafter Saudi-Arabiens stellte sich gestern bei einem vertraulichen Termin im Auswärtigen Amt vor.
Wer dieser Mann ist, lesen Sie unter thepioneer.de/hauptstadt.
In dieser Woche haben die Grünen für eine Menge politischer Schlagzeilen gesorgt:
Erstens: Vor dem Hintergrund geplanter Abholzungen im Dannenröder Forst in Hessen zugunsten des Ausbaus der A49 fordert die Partei ein Moratorium für den Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen.
Zweitens: In Tübingen sorgte die Praxis, polizeiliche Daten über straffällige Migranten in einer Liste auffälliger Asylbewerber zu führen, für einen Aufschrei. Der Datenschutzbeauftragte des Landes verbot das Prozedere, der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer will der Anordnung unter Protest nachkommen.
© imagoMeine Kollegin Dagmar Rosenfeld, Chefredakteurin der „Welt“, unterhält sich mit Palmer im Morning Briefing Podcast über beide Themen. So wollte sie von ihm wissen, was hinter der Liste für auffällige Asylbewerber steckt. Palmer:
Wir haben in Tübingen 1400 Asylbewerber. 95 Prozent sind nicht auffällig, nicht straffällig. Aber es bleiben eben 40 oder 50 Mehrfach-Delinquenten übrig. Ungefähr das ist auch die Zahl der Personen auf dieser Liste. Die Zahl der Taten ist natürlich entsprechend höher, weil es Mehrfach-Straftäter sind, fast immer.
Mir erscheint es zwingend notwendig, dass die Sozialarbeiter wissen, wenn ihre Klienten auf die schiefe Bahn geraten.
Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass die Arbeit koordiniert zwischen Ausländerbehörde und Sozialarbeitern durchgeführt werden kann. Was den Datenschutz daran stört, ist mir völlig unbegreiflich.
Sein Fazit:
So kann man einen Staat nicht in Ordnung halten.
„Kalmeda“ und „Velibra“ – so heißen die in dieser Woche erstmals in Deutschland zugelassenen Gesundheits-Apps. Künftig können Ärzte diese Smartphone-Anwendungen verschreiben. Die Kasse zahlt. Was die Apps können, erfahren Sie im neuen Tech Briefing Podcast.
Außerdem: Mein Kollege Daniel Fiene berichtet über den Stand der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sein Gesprächspartner ist Prof. Jochen Werner, der als Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik Essen seit Jahren das Thema Smart Hospital voran treibt.
Das erhellende Gespräch mit Professor Werner hören Sie in der neuen Episode des Tech Briefings.
Die US-Lyrikerin Louise Glück wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Die 77-Jährige wird „für ihre unverkennbare poetische Stimme“ geehrt, was der deutsche Buchmarkt und das hiesige Feuilleton nicht bestätigen können.
Von den insgesamt 13 Gedichtbänden der Literaturprofessorin sind hierzulande nur zwei erschienen. Der letzte – „Wilde Iris“ – vor zwölf Jahren.
In der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, berichtet Literatur-Chef Andreas Platthaus, liege „die einzige Erwähnung fast ein Vierteljahrhundert zurück“.
In der „Süddeutschen Zeitung“ wird Autor Tobias Lehmkuhl noch deutlicher:
Die literarischen Werte wurden mit dieser Preisentscheidung mit Füßen getreten. Denn blättert man in ,Wilde Iris’, herrscht allerorten höchster Kitschalarm: ,depressiv ja, aber doch leidenschaftlich/ dem lebendigen Baum zugetan, mein Körper/ sogar in den gespaltenen Stamm geschmiegt, beinah friedvoll, im Abendregen/ beinah fähig zu fühlen,/ wie Saft schäumt und steigt.
Ich wünsche Ihnen einen heiteren Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr