Konsum-Paket: Die große Verpuffung

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Guten Morgen,

für die Bundeskanzlerin regnet es am heutigen Morgen Sterne vom Himmel. Im Gefühl der gemeinsam durchlebten Pandemie geht die Öffentlichkeit mit der Kanzlerin ungewohnt liebevoll um. Der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger schwärmt auf Twitter:

Da sieht man einmal, was in Deutschland wirtschaftspolitisch alles möglich ist. Weiter so!

Carsten Brzeski, der Chefvolkswirt der ING-Diba, sekundiert:

Mehr geht kaum.

Für den Handwerksverband ZDH ist klar:

Das ist eine bemerkenswerte Antwort auf eine beispiellose Krise.

 © imago

Die Sterntaler-Urteile der Wirtschaftsgrößen sind menschlich verständlich, zumal viele der Lobredner aus der Industrie reich beschenkt wurden. Aber ökonomisch ist das Lob nicht durch Fakten gedeckt. Die gestern Nacht beschlossenen Maßnahmen sind teuer, werden die Verschuldung in die Höhe treiben und dürften den Konsum kaum stimulieren. Sechs Gründe sprechen für eine große Verpuffung:

► Eine befristete Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 beziehungsweise 7 auf 5 Prozent kann nur dann wirken, wenn die Steuerverkürzung ihren Weg in die Preise findet. Der Gesetzgeber darf Einzelhändler und Fabrikanten aber dazu nicht zwingen. Angesichts knapper Liquidität ist die Versuchung groß, diese Steuererleichterung als Extra-Profit einzustreichen.

► Die Regierung weiß um dieses Risiko. Schon die Senkung der Mehrwertsteuer auf weibliche Hygieneprodukte, bekannt als „Tampon Tax“, hat nicht funktioniert. Statt die Steuerreduktion an die Kundinnen weiterzureichen erhöhten Produzenten wie Johnson & Johnson (O.B., Carefree) kaltschnäuzig die Preise. Die Steuersenkung trieb den Unternehmensgewinn, nicht den Konsum.

► Einkaufen mit Maske macht keinen Spaß und kostet aufgrund der strengen Abstandsregeln viel Zeit. Nicht selten muss Schlange gestanden werden. Der Einzelhandel kann in seiner derzeit limitierten Kapazität den von der Politik erhofften Konsumschub in seinen Geschäften gar nicht aufnehmen.

► 7,3 Millionen Kurzarbeiter dämpfen die Konsumlust – auch die der anderen. Ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit ist zu erwarten. „Die Personalabteilungen der deutschen Unternehmen bereiten sich auf Entlassungen vor“, fasst das Ifo-Institut das Ergebnis einer aktuellen Umfrage zusammen. In dieser Situation haben die Deutschen einen Igel im Portemonnaie.

► Viele Branchen, die für gewöhnlich den Konsum entfachen könnten, sind daran gehindert, ihre Produkte und Dienstleistungen überhaupt dem Publikum anzubieten. Es gibt keine Konzerte, kein Theater und Kinos öffnen erst wieder langsam. Viele Busreisen sind abgesagt, die Urlaubsdestinationen sind nur begrenzt anfliegbar, die Reisebüros sind vielerorts geschlossen und die Gastronomie stellt laut Gesetz um 23 Uhr ihre Dienste ein.

► Von der Leipziger Buchmesse bis zur Hannover Messe: Alle großen Messen fallen aus. Damit wird auch der Einkauf der Firmen gebremst. Ein Angebot, das man nicht kennt, kann nicht begeistern.

 © dpa

Fazit: Entscheidend für die Konsumlust ist weniger die Größe des momentanen Geldbeutels als vielmehr die Zukunftserwartung. Auf der Spitze einer weltweiten Rezession tritt der kluge Verbraucher auf die Bremse, nicht aufs Gas. Zumal die Kaufkraft der Sparguthaben – bedingt durch die Negativzinspolitik von EZB und Geschäftsbanken – dahinschmilzt wie der Schnee in der Frühlingssonne.

Prognose: Der Konsumrausch findet in den Zeitungen und im Bundestag statt. Spätestens im Herbst dreht sich die öffentliche Meinung. Die Lob-Redner von heute haben dann als Kritiker ihren Auftritt. Oder wie der Aphoristiker Thom Renzie formuliert: „Opportunisten sind Spezialisten im Umgang mit wechselnden Windrichtungen.

Eine Infografik mit dem Titel: Das E-Auto-Dilemma

Entscheidungsgründe der Deutschen für die Anschaffung eines Elektrofahrzeugs, in Prozent*

Die Elektromobilität gehört zu den Profiteuren des Konjunkturpakets: Statt einer neuen Abwrackprämie steigt die bestehende „Umweltprämie“ auf bis zu 9000 Euro. Einen Durchbruch für das Elektroauto wird es trotzdem nicht geben.

Denn: Nur acht Prozent der potenziellen E-Auto-Käufer in Deutschland geben an, dass staatliche Förderungen ihre Kaufentscheidung beeinflusst. Das ergab eine Studie zu deutschen E-Auto-Käufern von PricewaterhouseCoopers.

Außerdem fehlt noch immer die notwendige Lade-Infrastruktur. Die (berechtigte) Angst der Kunden vor der Langstrecke hemmt den Verkauf.

Plus: Auch die Modellpalette der verfügbaren Elektromobile ist zu klein, um einen Durchbruch zu erzielen. Die Regierung fördert Produkte, die die Industrie (noch) gar nicht anbietet.

Das neue Konjunkturpaket führt zu Erklärungsbedarf. Deshalb ist Arbeitsminister Hubertus Heil gestern auf unser Redaktionsschiff Pioneer One gekommen. Im Morning Briefing Podcast erläutert der Sozialdemokrat „Welt“-Vize Robin Alexander und ThePioneer-Parlamentskorrespondent Rasmus Buchsteiner, wie die Maßnahmen die Kaufkraft erhöhen und Zukunftsthemen voranbringen sollen. Er sagt:

Deutschland wird, wenn alles gut läuft, nach dieser Krise die Chance haben, mit diesen Maßnahmen digitaler, sozialer und ökologischer zu werden.

Heil möchte trotz der 130 Milliarden für die Konjunktur keine Jobgarantie abgeben:

Das habe ich als Arbeitsminister immer gesagt. Ich kann wirklich nicht für jeden Job garantieren. Wir erleben das ja auch, es sind Arbeitsplätze verloren gegangen. Aber dass wir um jeden Job kämpfen, das können wir mit den Mitteln des Staates unterstützen, übrigens auch mit den Mitteln des Sozialstaates.

Die vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer verteidigt er. Dass sie von der Wirtschaft ausgenutzt und durch Preiserhöhungen nicht weitergegeben wird, zweifelt er an:

Die Unternehmen haben ja ein Interesse daran, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen absetzen. Deshalb wird es in vielen Bereichen Rabatte geben, um tatsächlich Absatz anzukurbeln. Ich kann das nicht in jedem einzelnen Fall garantieren, weil der Staat ja kein Durchgriffsrecht auf Preisgestaltung hat. Aber der ökonomische Impuls ist richtig, und ich glaube, das wird sich auch deutlich machen.

Die Europäische Zentralbank rechnet in diesem Jahr mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 8,7 Prozent und einer Inflation nahe null. Die Währungshüter legen im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie daher noch einmal kräftig nach – und verdoppeln ihren Einsatz nahezu:

► Die EZB stockt ihr Corona-Notkaufprogramm für Anleihen um 600 Milliarden Euro auf 1,35 Billionen Euro auf.

► Die Mindestlaufzeit des Kaufprogramms wird zudem um ein halbes Jahr bis Ende Juni 2021 verlängert.

 © dpa

EZB-Präsidentin Christine Lagarde gab sich dennoch nur verhalten optimistisch:

Geschwindigkeit und Ausmaß der Erholung bleiben höchst unsicher.

Eine Infografik mit dem Titel: Lufthansa in Turbulenzen

Marktkapitalisierung, in Milliarden Euro

Als hätte die Lufthansa nicht schon genug Probleme – nun verliert das Dax-Gründungsmitglied auch noch seinen Platz in der ersten deutschen Börsenliga. Vom 22. Juni an wird die Fluggesellschaft im MDax der mittelgroßen Werte gelistet. Das gab die Deutsche Börse bei der turnusgemäßen Überprüfung ihrer Aktienindizes bekannt. Ersetzt wird die Lufthansa im Deutschen Aktienindex durch den Berliner Immobilienkonzern Deutsche Wohnen. Symbolträchtiger könnte der Wechsel im Dax kaum sein: Wohnen statt Reisen. Corona hat die Welt geschrumpft.

 © dpa

Amerikanischer Eiertanz: Vier ehemalige US-Präsidenten – Jimmy Carter, Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama – wollen Donald Trump und seiner Reaktion auf den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd kritisieren, aber trauen sich nicht. Das ungeschriebene Gesetz, wonach man seinen Nachfolger nicht kritisieren soll, wirkt.

 © dpa

Jimmy Carter:

Wir brauchen eine Regierung, die so gut ist wie ihre Bevölkerung. Wir sind besser als das.

 © dpa

George W. Bush:

Schwarze erleben die wiederholte Verletzung ihrer Rechte, ohne dass die amerikanischen Institutionen darauf dringlich und angemessen reagieren.

 © dpa

Bill Clinton:

Das ist eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass die Hautfarbe einer Person immer noch festlegt, wie diese in fast jeder Lebenslage in Amerika behandelt wird.

 © dpa

Barack Obama:

Die Proteste sind wichtig, um die Lage für die Mächtigen unbequem zu machen.

 © dpa

Lediglich Ex-Pentagonchef James Mattis keilt deftig aus. In einem Beitrag für das Magazin „The Atlantic schreibt er, Trump sei „der erste Präsident zu meinen Lebzeiten, der nicht versucht, das amerikanische Volk zu einen – der nicht einmal vorgibt, es zu versuchen. Stattdessen versucht er, uns zu spalten.“

Und dann:

Wir sind Zeuge der Konsequenzen von drei Jahren ohne gereifte Führerschaft.

Die laufenden Ereignisse dieser Woche habe ich aufgebracht und angeekelt verfolgt.

Rassismus ist auch im 21. Jahrhundert ein weltweites Phänomen. #BlackLivesMatter mobilisiert eine Protestbewegung, die längst von den USA auf andere Länder übergesprungen ist. Wien, Paris, London, Sydney: Weltweit gehen Zehntausende auf die Straßen, um auf Polizeigewalt und Alltagsdiskriminierung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe aufmerksam zu machen.

 © dpa

Das Thema ist auch in Deutschland angekommen. In der ARD sagte Kanzlerin Angela Merkel gestern Abend :

Dieser Mord an George Floyd ist schrecklich. Er ist Rassismus. Wir wissen selber, dass wir auch bei uns so was wie Rassismus kennen. Deshalb haben wir auch bei uns alle Hände voll zu tun, das will ich ganz ausdrücklich sagen.

Wie sehr die ungleiche Behandlung, und oft bösartige Benachteiligung von Menschen anderer Hautfarbe, den Alltag prägt, hat mir ein Leser gestern geschildert. Johannes Tété Séna Davi ist ein 25-jähriger Jura-Student aus Bielefeld, der als deutscher Staatsbürger zweier Einwanderer aus Togo in Hamburg-Altona geboren wurde.

 © Privat

Er hat sich per Mail an mich gewandt, um seine persönliche Geschichte zu erzählen, die mich berührt hat. Hier sein Schreiben in Auszügen:

Sehr geehrter Herr Steingart, mein Name ist Johannes Davi. Ich bin 25 Jahre alt. Gegenwärtig studiere ich Jura an der Universität Bielefeld. Ich habe letztes Jahr angefangen, Ihren Podcast zu hören. Nun höre ich diesen täglich! Heute trete ich Ihnen mit einem ernsthaften Thema entgegen. Anhand meines Vor- und Nachnamens konnten Sie sicherlich nicht feststellen, dass ich ein deutscher Staatsbürger mit dunkler Hautfarbe bin. Ich bin mir sicher, dass Sie mich jetzt durch Ihre Augen nicht als minderwertig sehen, sondern vielmehr als ebenbürtig. Aber nicht alle denken so wie Sie! Gegenwärtig haben Sie öfter den globalen Schockzustand in den Medien angesprochen. #georgefloyd #blacklivesmatter.

Wissen Sie? Ich bin in Hamburg geboren. Als ich sechs Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Meine Mutter lernte einen neuen Mann kennen. Dieser wohnte in Wacken. Folglich bin ich in Wacken, Schleswig-Holstein, aufgewachsen.

Auf der neuen Schule in Wacken wurde mir klar, dass ich eine andere Hautfarbe habe. Ich wurde oftmals als ,Neger‘ bezeichnet und öfter verprügelt. Ständig wurde ich gefragt, warum ich so schwarz bin. Wasche ich mich etwa nicht? Ich hatte so viele Probleme in der Schule, dass ich einen Wunsch hatte ,Ich wollte weiß sein‘, weil mir das Leben so viel einfacher erschien, wenn ich genauso aussehen würde, wie die anderen Kinder, weiß.

Als Kind musste ich in der Schule mit meiner Schulklasse ,10 – kleine Negerlein‘ singen. Gerechtfertigt damit, dass Neger kein Schimpfwort sei, sondern ,Nigger‘.

Ich werde des Öfteren dafür gelobt, wie gut ich doch deutsch sprechen könne, obwohl ich hier geboren bin. Es werden oftmals Witze auf Kosten meiner Hautfarbe gemacht. ,Man sieht dich im Dunkeln nicht. Grinse doch mal.‘ Aber auch mit Affen wird man verglichen, wenn man eine schwarze Hautfarbe hat. Ich hätte zu lange in der Sonne gelegen, deshalb wäre ich so schwarz.

Als ich in Bielefeld eine Wohnung suchte, schleppte ich die Eltern meines besten Freundes mit, weil sie weiß sind, denn ich hatte Angst, dass man mir aufgrund meiner Hautfarbe keine Wohnung vermieten würden.

Es kommt nicht selten vor, dass ich im Flughafen aus der Schlange gezogen werde, nur weil ich eine andere Hautfarbe habe. Es geht nicht nur mir so, sondern vielen anderen schwarzen Menschen ebenfalls.

Ab und an mal muss ich mir Sprüche anhören wie ,Verpiss dich in dein Land du Neger‘ und sonstiges.

Meine Mutter sagte mir als kleines Kind, dass ich härter arbeiten müsse als die anderen, um das Gleiche zu bekommen.

Das Leben ist ohnehin schon nicht einfach, aber ich werde mein ganzes Leben lang mit diesem Thema konfrontiert werden. Nicht nur ich, sondern alle People of Color. Den Kampf werden wir aber niemals aufgeben. Und mit dem WIR meine ich nicht nur schwarze Menschen, sondern auch alle weißen, die uns unterstützen!

Gestern Abend habe ich mit Johannes Tété Séna Davi telefoniert und sein Einverständnis für die Veröffentlichung eingeholt. Ich finde, dieser junge Mann verdient nicht unser Mitleid, sondern unseren Respekt. Und unseren Mut verdient er auch: Besser wird es erst, wenn sein Kampf zu unserem wird. Wir sind nicht für alles verantwortlich, was im Zusammenleben der Menschen bisher an Grausamkeit und Lieblosigkeit geschah. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass es nicht immer wieder geschieht. Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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