der CSU-Rebell Markus Söder verschwindet allmählich wieder von den täglichen Frontseiten der Tageszeitungen. Aber die Gründe, die ihn dorthin katapultiert hatten, verschwinden nicht.
Wenn Armin Laschet und sein Team diese Gründe in den kommenden Wochen nicht analysieren und verstehen, könnte die Union da landen, wo die Konservativen in Italien und Frankreich auch gelandet sind: in der Bedeutungslosigkeit:
Grund 1: Für den Höhenflug Söders sind nicht seine Leistungen als Regierungschef in Bayern verantwortlich, sondern der Nimbus Bayerns als funktionierendes Gemeinwesen. Die Deutschen sehnen sich nach einem Staat, der seine in der Pandemie gezeigte Dysfunktionalität überwindet. Söder war und ist die Projektionsfläche für diese Sehnsucht nach Modernisierung.
© dpaGrund 2: Dieser ist in der Migrationspolitik zu suchen. Mit Söder, Seehofer und der CSU verbindet sich eine Einwanderungspolitik, die nicht da weitermacht, wo Merkel aufgehört hat. Angesichts einer weltweiten Wanderungsbewegung – nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren im letzten Jahr etwa 80 Millionen Menschen auf der Flucht – sehnt sich das bürgerlich-konservative Publikum nach einer sinnvollen Begrenzung, nach regelbasierter Abschiebung und einer Integrationspolitik, die nicht ganze Stadtteile in Elendsquartiere verwandelt. Oder um es mit Bundespräsident Joachim Gauck zu sagen:
Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.
Grund 3: In der Wirtschaftspolitik ist Bayern und nicht NRW das Maß der Dinge. Der Abstieg des Ruhrgebiets ist nicht gestoppt, derweil Bayern die Transformation vom Agrar- zum Technologiestaat geschafft hat, auch weil Unternehmen wie Microsoft, Siemens, Airbus, ProSiebenSat.1, Kuka und Infineon dort beheimatet sind, die Autoindustrie mit BMW und Audi ohnehin. Wirtschaftskompetenz ist das, was die Deutschen von ihrem nächsten Regierungschef erwarten. Laschet muss sich hier Muskeln antrainieren.
Eine Infografik mit dem Titel: Europa: Kann die Union mithalten?
BIP nach Kaufkraftparität (PPP), in Billionen Internationale Dollar
Grund 4: Es gibt in Deutschland mittlerweile eine Allergie gegen das politische Wischiwaschi. Wenn Annalena Baerbock sagt, sie wolle nicht nur versprechen, sondern auch verändern, dann fokussiert sie sich genau auf diese Schwachstelle, die weit über Merkel hinaus reicht: Die Volksparteien haben sich das rhetorische Regieren angewöhnt. Söder stand für Durchsetzungskraft und Gestaltungslust. In beiden Disziplinen muss Armin Laschet zulegen.
© dpaGrund 5: Markus Söder hat als Ministerpräsident einen deutlich stärkeren Fußabdruck in der Außenpolitik hinterlassen. Er lud Sebastian Kurz zu sich nach Wildbad Kreuth ein, flog zu Wladimir Putin und diskutierte mit Emmanuel Macron Zukunftsprojekte europäischer Hochtechnologie. Armin Laschet wird von vielen – obwohl Europa seine Herzensangelegenheit ist – vor allem als Karnevalist und Landesvater mit Hang zur Provinzialität wahrgenommen. Er muss sein eigenes Modernisierungsdefizit bekämpfen und Gravitas beweisen. Die Deutschen wollen keinen Amtsinhaber, sondern einen Staatsmann.
Fazit: Laschet wird nicht umhinkommen, die für seinen Konkurrenten konstituierenden Charaktermerkmale auch bei sich zu entwickeln. Um am Wahltag nicht als Verlierer dazustehen, kann die Parole nur lauten: Laschet muss mehr Söder wagen.
Beim entscheidenden Spitzentreffen zwischen CDU und CSU am Sonntagabend im Reichstagsgebäude kam es zu denkwürdigen Szenen. Nach Recherchen unseres Hauptstadt-Teams warf Laschet dem CSU-Chef dessen beschränkte Reichweite nördlich des Mains vor. Laschet sagte Söder ins Gesicht:
© imagoMit dir verlieren wir die Wahl.
Einen weiteren Mitkämpfer hatte Laschet an diesem Abend dabei, der ihm zum Durchbruch verhalf: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Die CDU-Legende an die Adresse der CSU-Vertreter:
Ihr macht die CDU kaputt.
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Das Volk reagiert allergisch auf die Berliner Ereignisse. In der jüngsten Forsa-Umfrage stürzt die Union im Vergleich zur vergangenen Woche dramatisch ab: Um sieben Prozentpunkte – von 28 auf 21 Prozent – sinkt der Wert für den Parteienbund. Währenddessen legten die Grünen fünf Prozent zu und schoben damit die Union nun vom Spitzenplatz.
Nur 74 Prozent der befragten Bürger gehen außerdem davon aus, dass sich diese Situation in den Umfragen bis zum Wahltag verändern wird. 17 Prozent zeigen sich vom Gegenteil überzeugt.
Verena Bentele ist 39 Jahre alt und von Geburt an blind. Bevor sie im politischen Berlin für Aufmerksamkeit sorgte, hatte sie bereits eine Karriere als Spitzensportlerin hinter sich: vierfache Weltmeisterin und zwölffache Goldmedaillen-Gewinnerin bei den Paralympics.
Heute ist sie Präsidentin des VdK Deutschland, dem mit 2,1 Millionen Mitgliedern größten Sozialverband der Bundesrepublik. Bentele möchte den Sozialstaat gründlich reformieren, was für sie auch bedeutet, ihn zu expandieren. Sie wirbt dafür, dass Politiker und Beamte ihre Privilegien im großen Stil verlieren.
Die private Krankenversicherung, wo nahezu alle Politiker und Beamte mit einer deutlichen Vorzugsbehandlung gegenüber den Kassenpatienten versichert sind, möchte sie liquidieren. Auch die Beamtenpensionen – die zugleich als Altersvorsorge der meisten Politiker dienen – möchte sie auflösen und in die gesetzliche Rentenversicherung überführen.
Ihre zentralen Aussagen im Postcast-Interview lauten:
Wir haben in Deutschland immer noch ein Problem, nämlich dass längst nicht alle Menschen, die in diesem Land wohnen und von dem System profitieren, auch in dieses System einzahlen.
In meiner Vorstellung wäre die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland für alle Menschen Realität. Das bedeutet, dass viele Milliarden Euro mehr von denen, die im Moment privat versichert sind, in dieses solidarische System gespült würden.
Eine Infografik mit dem Titel: Die kleine Minderheit
In Deutschland privat bzw. gesetzlich versicherte Personen, 2020
Das Scheitern der privaten Krankenversicherung hätte schon längst eintreffen müssen, glaubt Bentele:
Bereits vor 15 Jahren war die private Krankenversicherung eigentlich am Ende. Sie ist nur noch dadurch finanziell attraktiv, dass Millionen Beamtinnen und Beamte verpflichtend einzahlen müssen.
Das gesamte Gespräch – in dem Verena Bentele auch zwei weitere Säulen des Sozialstaates, die Renten- und die Pflegeversicherung in ihrer heutigen Form zur Disposition stellt – hören sie am Samstag als Morning Briefing Podcast Spezial. Auszüge gibt es bereits heute früh im Morning Briefing Podcast.
Prädikat: pointiert und provokant.
Die Lage am heutigen Morgen:
Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) in den vergangenen 24 Stunden 24.884 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Zudem wurden weitere 331 Todesfälle registriert. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist leicht von 162,4 gestern auf 160,1 gesunken.
Laut den Daten des Robert-Koch-Instituts sind mehr als 20 Prozent der Deutschen mindestens einmal gegen das Corona-Virus geimpft. Ab Juni sollen neben den Hausärzten auch die Betriebsärzte in die Impfkampagne einbezogen werden.
Vergangene Woche war die Auslieferung des Impfstoffs von Hersteller Johnson & Johnson an die EU im Zusammenhang mit aufgetretenen Nebenwirkungen vorläufig gestoppt worden. Nach der Prüfung der EU-Arzneimittelbehörde kann der Impfstoff jedoch wieder uneingeschränkt eingesetzt werden.
Die Ergebnisse einer Studie der Universität Erlangen zeigen, dass die Corona-Pandemie die Benachteiligung von Migranten verstärkt hat. Das betrifft unter anderem die ungleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich.
Die neue Virus-Variante B.1.617 aus Indien hat nun auch Europa erreicht. Wissenschaftler befürchten, dass diese Mutation infektiöser und Impfungen weniger wirksam gegen diese Mutation sein könnten. Prof. Karl Lauterbach schreibt auf Twitter:
Neue Indien SarsCoV Variante B1.617 ist besorgniserregend. In Indien explodiert die 3. Welle mit dieser Variante.
Namhafte Händler bereiten eine Verfassungsklage gegen das Infektionsschutzgesetz vor. Hinter der Initiative „Das Leben gehört ins Zentrum“ stehen Familienunternehmen wie Deichmann, S.Oliver und das Einkaufshaus Breuninger. Unterstützt werden sie unter anderem von Alexander von Preen, Vorstandsvorsitzender von Intersport, und Stefan Genth, Geschäftsführer des deutschen Handelsverbands HDE.
Anlass der Sammelklage sind aus Sicht der Kläger die nicht nachvollziehbaren Regelungen, nach denen Geschäfte trotz wirksamer Hygienekonzepte schließen müssen. Im Gespräch mit dem „Handelsblatt“ zeigte sich Fritz Terbuyken, Vorstandsmitglied der Großhandelsvereinigung ANWR GROUP, entschlossen:
Da es bei vielen Händlern zwischenzeitlich um Existenzen geht, sind wir bereit, alle Rechtswege zu beschreiten.
Im Fall George Floyd kam die Jury heute Nacht zu einem deutlichen Ergebnis: Der ehemalige Polizist Derek Chauvin, der dem Schwarzen George Floyd bei seiner Festnahme knapp neun Minuten lang im Genick kniete und ihm so das Atmen verwehrte, wurde wegen Mordes im zweiten und dritten Grad, sowie Totschlag im zweiten Grad angeklagt und in allen Punkten für schuldig befunden. Das finale Strafmaß wird in acht Wochen erwartet.
Nach dem gestrigen Urteilsspruch riefen US-Präsident Joe Biden, die First Lady Jill Biden und Vize-Präsidentin Kamala Harris gemeinsam bei den Hinterbliebenen an. Der Anwalt der Familie Floyds hielt den Anruf in einem Video fest. Dort ist unter anderem zu hören, wie Joe Biden sagt:
Nichts wird es besser machen. Aber zumindest gibt es jetzt Gerechtigkeit.
Wir alle sind sehr erleichtert.
Nach Angaben des Weißen Hauses haben der US-Präsident und seine Vize den Prozess per Live-Übertragung im Weißen Haus verfolgt.
Der Widerstand gegen die geplante Super League im Fußball spitzt sich politisch zu. Auch der britische Premier Boris Johnson äußerte sich nun zu dem Vorhaben, das einen überwiegend geschlossenen Wettbewerb der 20 reichsten Fußballvereine Europas vorsieht. In einem Gastbeitrag für die britische Zeitung „The Sun“ kündigte er an, „alles in seiner Macht Stehende“ zu tun, um die Super League zu verhindern.
Prinz William, Präsident des englischen Fußballverbands FA, kündigte ebenfalls seinen Widerstand gegen das Projekt an, denn es gefährde den Kerngedanken des Fußballs: Fairness und Wettbewerb.
Seit 2013 veröffentlicht die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ jährlich die Rangliste der Pressefreiheit. Verglichen wird die Situation der Pressefreiheit in 180 Ländern mittels Befragungen, sowie anhand von Gewalttaten und Haftstrafen gegen Journalisten und Videofilmer.
Nun ist Deutschland zum ersten Mal aus der Spitzengruppe der Länder mit hoher Pressefreiheit ausgeschieden. Von den 180 Ländern belegt Deutschland nun Rang 13. Der Grund: Gewalttaten gegen Journalisten haben vor allem während der Corona-Pandemie zugenommen, wenn auch überwiegend nicht durch staatliche Stellen.
Der Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen, Michael Rediske, sagt:
© dpaAufgrund der vielen Übergriffe auf Corona-Demonstrationen mussten wir die Lage der Pressefreiheit in Deutschland von ‚gut‘ auf nur noch ‚zufriedenstellend‘ herabstufen – ein deutliches Alarmsignal. Gewalt gegen Medienschaffende hat 2020 eine noch nie dagewesene Dimension erreicht.
In ihrem Report schildert die Organisation:
Journalistinnen und Journalisten wurden von Demonstranten geschlagen, getreten und zu Boden geschubst, sie wurden bespuckt und bedrängt, beleidigt, bedroht und an der Arbeit gehindert.
Im Jahr 2020 zählte die Organisation mindesten 65 gewalttätige Angriffe. Im Vergleich zum Jahr 2019 haben sich die Vorfälle verfünffacht.
Laut Rediske sei es deshalb umso wichtiger, die Pressefreiheit aufrechtzuerhalten:
Unabhängiger Journalismus ist das einzig wirksame Mittel gegen die Desinformations-Pandemie, die seit einem Jahr die Corona-Pandemie begleitet.
Heute vor 75 Jahren ist John Maynard Keynes gestorben. Der Brite war einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler und der erste bürgerliche Ökonom, der die bis dahin als ausschließlich segensreich beschriebenen Wirkungen von Angebot und Nachfrage infrage stellte. Er kritisierte die unmenschliche Wirkung von Marktprozessen, die er Ende der 20er Jahre in Europa und Amerika hautnah studieren konnte.
Der dekadente internationale und individualistische Kapitalismus, in dessen Händen wir uns nach dem Ersten Weltkrieg befanden, ist ein Misserfolg. Er ist weder intelligent noch schön, noch gerecht, noch tugendhaft, und vor allem hält er nicht, was er verspricht. Er gefällt uns nicht, und wir fangen allmählich an, ihn zu hassen.
Keynes, der 1936 mit seiner „General Theory of Employment, Interest and Money“ für Aufsehen sorgte, interessierte sich nicht in erster Linie für die Stimulierung von Wachstumsprozessen, wie heute behauptet wird, sondern für die Beseitigung von Schwankungen.
Man sehnte sich damals nicht nach mehr, sondern nach weniger: weniger Ungewissheit, weniger Risiko und weniger Armut. Der Wirtschaftsmaschinerie sollte das Willkürliche ausgetrieben werden.
© imagoHitler und Roosevelt waren Keynesianer, noch bevor die große Theorie von Keynes publiziert war. Die beiden Politiker, der amerikanische Demokrat und der deutsche Diktator, setzten, kaum im Amt, das Geld des Staates ein, um den erlahmten Wirtschaftskreislauf wieder in Schwung zu bringen.
Der eine ließ 3900 Kilometer Autobahnen bauen, der andere 22 Staudämme, 32 See- und Flughäfen errichten. Für Beschäftigungsprogramme setzte Hitler in den Jahren 1933 bis 1936 mehr als fünf Milliarden Reichsmark ein, was rund 80 Prozent des Staatshaushaltes von 1935 entsprach. Roosevelt stellte für seine Infrastrukturmaßnahmen rund 8,6 Milliarden Dollar zur Verfügung, was rund 117 Prozent des US-Budgets von 1935 entsprach.
Womöglich haben Hitler und Roosevelt den großen britischen Ökonomen mehr beeindruckt als er sie. Der Bruch mit der klassischen Theorie war bereits praktische Politik, bevor die keynes'sche Theorie folgte. Über den Spätzünder aus London kursieren deshalb seit jeher despektierliche Bemerkungen seiner Kollegen. Joan Violet Robinson, eine Keynes-Anhängerin aus Cambridge, sagte 1971:
© imagoHitler hatte bereits herausgefunden, wie man Arbeitslosigkeit beseitigt, als Keynes noch dabei war zu erklären, warum sie entsteht.
Fest steht: Der Staat erwachte in Folge der Großen Depression aus seinem Dornröschenschlaf. Keynes war der Mann, der begründete, warum und wie das zu geschehen habe. Allerdings: Für Keynes war es zwingend, dass der Staat nach der Krisenintervention sich wieder aus dem Markt zurückziehen sollte. Die hohen Staatsdefizite, auch das war für ihn selbstverständlich, sollten zurückgeführt und die Schulden getilgt werden. Nur so habe der Staat die Kraft in der nächsten Krise erneut intervenieren zu können.
Dieser Teil zwei der keynesianischen Theorie wird gern überhört. Vielleicht sollte man dieses Kapitel der Grand Theory allen Finanzministern zur Amtseinführung feierlich überreichen. Erst dann wäre Keynes wirklich unsterblich.
Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr