Liberalismus unter Druck: Anmerkungen zur Lage der FDP

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Guten Morgen,

wenn John Stuart Mill Recht hat mit seiner Beobachtung, dass die Freiheit der „erste und stärkste Wunsch der menschlichen Natur“ ist, dann muss bei der Lindner-FDP etwas gründlich schiefgelaufen sein. Es will ihr partout nicht gelingen, die im Gencode der Menschen gespeicherte Freiheitslust in parteipolitische Zustimmung zu verwandeln. Das Markenzeichen der vergangenen Jahre ist der Sinkflug. Zu besichtigen ist ein Wackel-Liberalismus, dessen neuerlicher Einzug in den Bundestag nicht gesichert ist.

Eine Infografik mit dem Titel: Liberale im Abschwung

Bundestagswahlergebnis 2017 und Umfrageergebnisse der FDP, in Prozent

Verantwortlich dafür sei die Pandemie, heißt es im Lindner-Lager. Sie habe die Staatsgläubigkeit gefördert.

Das mag auf Millionen von Werktätigen zutreffen, aber nicht auf das liberale Bürgertum. Kulturschaffende, Soloselbständige und Familienunternehmer werden von einem Staat, der von Lockdown zu Lockdown stolpert, hart getroffen. Der verkorkste Impfstoffeinkauf, die Unfähigkeit zur zeitnahen Massenimpfung und das anhaltende Unvermögen der staatlichen Gesundheitsämter, sich digital zu vernetzen, wirken im Gegenteil wie ein Dauerwerbefilm für den Liberalismus. Arbeitstitel: Der Retterstaat, der nicht rettet.

Anlässlich des heutigen Dreikönigstreffens seien daher sechs Anmerkungen zum Zustand der FDP gestattet:

1. Ein erfolgreicher Liberalismus muss Zuversicht nicht im Munde führen, sondern ausstrahlen. Wenn die Talkshow-Verantwortlichen bei ARD und ZDF ihre Runden besetzen, dann suchen sie Woche für Woche eine optimistische Stimme, die sie „das helle Gesicht” nennen. Dieses „helle Gesicht” hätte die FDP sein können. Doch der zunächst zeitgeistige Lindner-Liberalismus wurde zunehmend misstrauisch und rechthaberisch. Christian Lindner ist heute das harte Gesicht seiner Partei.

2. Der Chef steht für den traditionellen „Mehr Netto vom Brutto-Kurs”. Doch der finanzielle Stimulus der High-Performer ist für das Funktionieren unserer Volkswirtschaft eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Der real existierende Kapitalismus in Europa und Amerika, der befeuert vom Champagner der Notenbanken an den Börsen eine rauschende Party feiert und zur gleichen Zeit Sparer enteignet und Lohnabhängige der unteren Gehaltsstufen in Richtung Existenzminimum drückt, ist begründungspflichtig geworden. Eine FDP, die an dieser Debatte nicht teilnimmt, fügt sich selbst Schaden zu.

3. Freiheit ist kein Parameter zur Messung von ökonomischer Effizienz, sondern eine Geisteshaltung, die schon deshalb so anstrengend ist, weil sie nur im Plural gedacht werden kann. „Wahrheit gibt es nur zu zweien”, sagt Hannah Arendt. Wer dem Dualismus der Gegenwartsdebatte gerecht werden will, darf aber nicht nur dem BDI, sondern muss auch dem Papst zuhören. Franziskus bezeichnet die „unsichtbare Hand“ der Marktwirtschaft, von der Moralphilosoph Adam Smith spricht, als die „unsichtbare Tyrannei der Ökonomie“, weil es keinen göttlichen Mechanismus gebe, der Eigeninteressen von allein in Gemeinwohl verwandle. Die Debatte zur Neubestimmung der Rolle des Staates, das will Franziskus uns damit sagen, muss geführt werden.

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4. Der moralische Kompass der Lindner-FDP hatte schwere Aussetzer, die bis heute nachwirken. Die Tatsache, dass ein FDP-Provinzpolitiker aus Thüringen dank der Handreichungen von AfD-Mann Björn Höcke zum Ministerpräsidenten aufsteigen durfte, provoziert auch Monate nach der Tat das, was Peter Handke „Unwirklichkeitsgefühle“ nennt. Richtig ist ja: Lindner hat den Tabubruch von Thüringen nicht gewollt. Aber richtig ist auch: Er hat ihn nicht verhindert. Er hat zugelassen, dass jenes Versprechen, das er dem liberalen Bürgertum einst gab – „Ich glaube, dass jede demokratische Partei ihre Seele verliert, wenn sie mit der AfD in irgendeiner Form kooperiert“ – auf obszöne Weise gebrochen wurde. Die Idee des Liberalismus wurde in Thüringen braun befleckt.

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5. Erfolgreicher Liberalismus ist immer auch eine Frage der Tonalität. Männer wie Genscher, Baum, Hirsch und Lambsdorff, Frauen wie Helga Schuchardt, Hildegard Hamm-Brücher und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger haben den Ton ihrer Zeit getroffen; Lindner zunächst auch. Doch nach dem Wiedereinzug in den Bundestag, die seine heroische Tat bleibt und ihn bis heute vor parteiinternen Rollkommandos schützt, kam es zum Wechsel der Tonalität. Das Moderate und Verschmitzte verschwand; die FDP wurde breitbeinig. Wenn Lindner heute Freiheit sagt, dann klingt das nicht mehr nach Abenteuer und Aufbruch, sondern nach Lobbyismus mit angeschlossenem Bürokratieabbau. Man bekommt keine Frühlingsgefühle, nur wieder die alte Allergie.

Scheel und Brandt © imago © imago © imago

6. Die FDP muss, um zu wirken, anschlussfähig zu anderen Parteien und ihrem Spitzenpersonal sein. Scheel und Brandt, Schmidt und Lambsdorff, Kohl und Genscher: Die Geschichte der FDP ist eine Geschichte der Kooperationsfähigkeit mit Andersdenkenden, weil liberale Positionen zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Wirtstier benötigen, das sie über die Ziellinie trägt. Doch ausgerechnet Christian Lindner, der charmant und geistreich sein kann, erwies sich als der große Einzelgänger der Berliner Republik. Merkel meidet ihn mittlerweile; die Grünen auch; dass er Robert Habeck öffentlich als „cremig“ bezeichnete, wird der ihm nicht verzeihen. Die nach links gewendete SPD konnte mit Lindner von Anfang an nicht viel anfangen. Diese Einsamkeit der FDP aber verdammt die Liberalen zur Machtlosigkeit. Die Funktionspartei bleibt ohne Funktion.

Fazit: Die Mehrzahl jener stolzen Liberalen im Land, die sich heute zum Dreikönigstreffen vor den Bildschirmen versammeln, um der Grundsatzrede ihres Vorsitzenden zu lauschen, leidet. Nicht wenige werden gegen ihre eigene Verzweiflung anklatschen. Kaum einer denkt: ‚Jetzt geht’s los.‛ Die meisten fragen sich: ‚Wie lange noch?‛

Gemeinsam schaut man dem Stern beim Sinken zu. Liberalismus in der Spätphase Lindner ist nur ein anderes Wort für Schmerztherapie.

Im Morning Briefing Podcast kommt heute ein Mann der FDP-Abteilung Reserve zu Wort: Johannes Vogel. Generalsekretär der NRW-FDP, Sozialpolitiker im Bundestag, ehemaliger Chef der Jungen Liberalen. Zusätzlich hat Vogel für ThePioneer.de einen Artikel verfasst, der die dringenden Fragen unserer Zeit behandelt: Klimawandel, Demografie, Digitales, Aufstiegschancen. Prädikat lesenswert.

Johannes Vogel.  © Anne Hufnagel
Für ein Land, das sich etwas zutraut

Klimawandel, Demografie, Digitales, die Pandemie verstellt den Blick auf neue Herausforderungen.

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Veröffentlicht von Johannes Vogel .

Artikel

Außerdem im Podcast: Die Impfmisere im Spiegel der Berliner Journalisten. Es kommentieren:

  • „taz“-Chefredakteurin Barbara Junge

  • „Cicero“-Chefredakteur Christoph Schwennicke

  • ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker

Plus: Der Wahl-Krimi von Georgia

Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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