die Regierung versetzt das Land erneut in eine Art Wachkoma: Lockdown 2.0. Aus Menschen werden Betroffene.
Zumindest die Kulturszene des Landes hat ihre Sprachlosigkeit überwunden. Mit einem Lastwagen-Korso, bestehend aus Hunderten Fahrzeugen und begleitet von einem Fußmarsch, wies das Aktionsbündnis #AlarmstufeRot in der Hauptstadt auf die prekäre Lage von Musikern, Tänzern, Schauspielern, Komödianten, bildenden Künstlern, Bühnenarbeitern, Visagisten, Technikern und Produzenten hin. Der Musiker Campino, Sänger und Komponist der „Toten Hosen“, trat an das Mikrofon:
Eine Lockdownstrategie in Schwarz-Weiß, das ist zu wenig. Es geht hier nicht um Weihnachten. Es geht um ein ganzes Jahr und es geht um Tausende Existenzen.
Der Jazzmusiker und Fotograf Till Brönner – bestimmt kein Brausekopf und auch kein Verschwörungstheoretiker – drückte seine Fassungslosigkeit in einem bei Facebook und Instagram veröffentlichten Video aus:
Das Land steht kulturell still und die beweglichsten und ehrlichsten tretet ihr mit den Füßen, wenn ihr nicht handelt.
Wenn ein gesamter Berufszweig per Gesetz gezwungen wird, seine Arbeit zum Schutze der Allgemeinheit ruhen zu lassen, dann muss doch die Allgemeinheit dafür sorgen, dass die Menschen nach Corona noch da sind.
© Oliver WalterscheidDas ist kein Luxusproblem, das ist ein Kernproblem. Wir sind keine Minderheit.
Die Künstlerin Mia Florentine Weiss bringt die Gefühle ihrer Kolleginnen und Kollegen so auf den Punkt:
Kunst ist systemrelevant. Sie ist der älteste, kleinste gemeinsame Nenner, den wir haben. So lange Kreativität in der Luft liegt, atmen wir. In dem Zuge würde ich gerne das Wort systemrelevant ändern - in humanrelevant. Kunst ist humanrelevant.
Fazit: Die Beschlüsse der Regierung verstören. Sie tun es auch deshalb, weil die Stilllegung des Kulturlebens durch keine medizinische Studie gedeckt ist. Es geht um Symbole. Es geht um eine Machtdemonstration. Es geht darum, die Überforderung der Regierung durch Striktheit und Strenge zu kaschieren. Eine vieldeutige Situation wird durch eindeutige Beschlüsse banalisiert, womöglich auch fiktionalisiert. Mehr als das Wort Corona fürchtet man im Kanzleramt das Wort Kontrollverlust.
So werden die Künstler zum Hauptdarsteller einer surrealen Aufführung, deren Drehbuch an Franz Kafkas „Die Verwandlung“ erinnert. Sie sind als Individualisten gestartet und wachen als Gregor Samsa auf. Die Beine flimmern hilflos in der Luft. Der Rücken fühlt sich panzerartig an, der Bauch versteift. Das Wahrzeichen der Gegenwartskultur ist Kafkas auf dem Rücken liegender Käfer.
© The Opiate MagazineFriedrich Merz gibt nicht auf. Er bemühe sich darum, dass die CDU im Interesse ihrer Handlungs- und Führungsfähigkeit in dieser Frage zu einer Entscheidung komme, sagte Merz beim Jahresempfang des Wirtschaftsrats der CDU Hessen. Auch im Nachrichtenportal „t-online“ gab sich Merz kämpferisch:
© dpaIch bin nicht wütend. Aber ich bin bereit, zu kämpfen. So leicht werde ich nicht aufgeben.
Das Meinungsklima, dass ihm entgegenschlägt, muss man als frostig bezeichnen. Die Kommentatoren gehen mit Merz hart ins Gericht. Stefan Reinecke, Autor im Parlamentsbüro der „taz“:
© imagoWenn die CDU bei Verstand ist, muss sie spätestens jetzt merken, dass Merz eine loose cannon ist….Merz verkörpert einen politischen Narzissmus, den niemand braucht.
Stefan Braun, Berlin-Korrespondent, der „Süddeutschen Zeitung“:
© dpaMit seiner Attacke gegen das sogenannte Partei-Establishment hat Friedrich Merz - absichtlich oder nicht - offengelegt, wo seine größte Schwäche und Angela Merkels größte Stärke liegt: Gemeint sind strategische Kraft und politische Klugheit. Sie hat davon sehr viel, ihm mangelt es daran sehr.
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt Innenpolitikchef Jasper von Altenbockum:
Das alles ist Opfertum, Populismus, Narzissmus, Schaumschlägerei und Verschwörungsdenken in einem. Es gibt genug Staatsmänner in der Welt von dieser Sorte. Braucht die CDU, braucht Deutschland so einen an der Spitze?
Fazit: Alles hängt jetzt davon ab, ob Friedrich Merz diesen Gegenwind in Zustimmung verwandeln kann. Das Volk liebt den Mutigen - und hasst den Querulanten.
Fünf Tage vor der US-Präsidentschaftswahl kann der Demokrat Joe Biden seinen strategischen Vorteil gegenüber Amtsinhaber Donald Trump behaupten. Dafür gibt es drei Gründe.
Eine Infografik mit dem Titel: Trump vs. Biden
Welcher Präsidentschaftskandidat in ausgewählten "Swing States" in Führung liegt, in Prozent
Erstens. Ex-Präsident Barack Obama hat sich in den Wahlkampf eingeschaltet und attackiert vor allem die Corona-Politik seines Nachfolgers mit ungewohnt drastischen Worten:
Er hat es vermasselt. Wir sind das größte, wohlhabendste, mächtigste Land der Welt und wir können das irgendwie nicht in den Griff bekommen, weil unsere Regierung ihren Job nicht gemacht hat.
Zweitens. Bidens Vize-Kandidatin Kamala Harris spielt erfolgreich die Frauenkarte in dem sie in Reden und TV-Spots an die vielen Entgleisungen des Donald Trump erinnern. In einem neuen TV-Spot der Organisation „The Lincoln Project“ heißt es über sie:
© YouTube/The Lincoln Project© Getty ImagesEine starke Frau, eine Frau mit Mitgefühl, eine Frau, die keine Angst hat, sich mit einem Mobber anzulegen. Eine Frau, die nicht nur an den amerikanischen Traum glaubt, sondern ihn verkörpert.
Drittens. Die fehlende Jugendlichkeit von Joe Biden wird durch eine auffällig große Unterstützung durch prominente Musiker wie Billie Eilish, Bruce Springsteen, John Legend oder Taylor Swift kompensiert. Das neueste Highlight ist das Lied „Commander in Chief“ der Sängerin Demi Lovato. Die 28-Jährige hinterfragt Trumps moralische Eignung für das höchste Staatsamt der Vereinigten Staaten.
Commander in Chief, honestly
If I did the things you do
I couldn't sleep, seriously
Do you even know the truth?
We're in a state of crisis, people are dyin'
While you line your pockets deep
Commander in Chief,
How does it feel to still be able to breathe?
Die Sozialdemokratie erinnert sich an Otto Schily. Und macht die innere Sicherheit wieder zu ihrem Thema. Die Bundestagsfraktion bezeichnet in einem Strategiepapier Videoüberwachung als sinnvolle Maßnahme an Kriminalitätsschwerpunkten und verlangt die Rückendeckung für Polizisten – das gilt auch als Hinweis an die SPD-Vorsitzende, die unlängst der Polizei in Deutschland ein Problem mit „latentem Rassismus“ unterstellt hatte. Mehr dazu im Hauptstadt-Newsletter unter thepioneer.de/hauptstadt.
Das angeblich vom Verteidigungsministerium formulierte Hilfegesuch an die Bevölkerung, bei der Suche nach gestohlener Munition behilflich zu sein, hat sich als „Satire-Aktion“ des Zentrums für politische Schönheit herausgestellt. Ein entsprechendes Schreiben von Staatssekretär Peter Tauber, über das unsere Hauptstadt-Newsletter gestern berichtet hatte, erwies sich als Fälschung. Chefredakteur Michael Bröcker:
Ich entschuldige mich bei unseren Leserinnen und Lesern.
Gestern haben Gegner des Weiterbaus der A49 in Hessen an und in der Parteizentrale der Grünen in Berlin protestiert. Der Protest wurde unter anderem von den Klimaschutz-Bündnissen „Fridays for Future“ und „Ende Gelände“ organisiert.
Einigen Aktivisten gelang es, mit einer Leiter auf einen Balkon des Hauses zu steigen. Dort entfalteten sie ein Transparent „Autopartei? Nein Danke“ – angelehnt an das Motto der Anti-Atomkraft-Bewegung „Atomkraft? Nein danke“. Parteichef Robert Habeck suchte das Gespräch:
Willkommen bei den Grünen, aber ihr habt euch das falsche Haus ausgesucht. Wir sind nicht in der Regierung.
Das wiederum war von der Wahrheit nur die Hälfte. Denn in Hessen, wo die A49 komplettiert werden soll, regieren die Grünen im Bündnis mit der CDU.
Fazit: Schwarz-Grün wirft seine Schatten voraus. In den Augen vieler Umweltaktivisten werden die Grünen ihre Unschuld verlieren; in den Augen vieler Konservativer verlieren müssen.
Acht bis zwölf Milliarden Dollar – so viel zahlt Google jährlich an Apple, um sich eine Vorzugsposition für seine Suchmaschine auf den Endgeräten des iPhone-Herstellers zu sichern. Die Google-Suche ist als Standard auf allen Apple-Geräten eingestellt.
Doch das könnte bald vorbei sein: Laut Berichten der „Financial Times“ arbeitet Apple an Alternativen zu Google. Ziel ist es, eine eigene Suchmaschine aufzubauen.
Eine Infografik mit dem Titel: Weltmacht Google
Marktanteil der meistgenutzten Suchmaschinen mobil und stationär weltweit 2020, in Prozent
Damit würde Google der Verlust seiner privilegierten Position auf Apple-Geräten drohen – und Apple verliert die jährlichen Milliardenzuwendungen von Google, was bei einem Nettogewinn von rund 55 Milliarden ungefähr einem Fünftel des Profits entspricht.
In der neuen Ausgabe des Podcasts „Überstunde – Ein Gast. Eine Stunde. Ein Thema“ spricht Alice Schwarzer über das Thema „Würde“. Die streitbare Publizistin und Frauenrechtlerin attackiert den politischen Islamismus und tritt dem Versuch entgegen, den Status einer Minderheit für eigene und andere politische Zwecke zu entfremden:
Wir erleben in letzter Zeit oft, dass im Namen der Würde einer betroffenen Gruppe versucht wird, anderen Menschen den Mund zu verbieten.
Fazit: Die mittlerweile 77-jährige Alice Schwarzer ist mit dem Alter nicht milder, nur mutiger geworden. Das Wort Political Correctness kann und will sie nicht buchstabieren.
Der Podcast „Überstunde“ wird heute um 18:00 Uhr bei Deezer, Spotify, Apple, in der Morning Briefing App und auf unserer Webseite thepioneer.de veröffentlicht. So geht Debattenkultur.
Es gibt einen Ort, der erfüllt alle Corona-Bedingungen der Kanzlerin aufs Feinste. Frische Luft, viel Abstand und keine Kneipe weit und breit: Der Wald. Nur die Fichte, der Fuchs und die Stille. Ein Ort ohne eingebaute Hektik, konsumfrei und ohne Infektionsgeschehen.
An diesen Sehnsuchtsort hat sich der Journalist, Autor und Großstädter Wolfgang Büscher begeben. Er fuhr – freilich im Vor-Coronajahr 2019 – in das nördliche Hessen, um dort von Frühling bis Herbst in einer einsam gelegenen Forsthütte zu leben. Er begegnete sich – und seiner sterbenden Mutter.
Das in seiner nachdenklichen Stille beeindruckende Buch „Heimkehr“ ist dort entstanden - ein literarischer Gegenentwurf zum Getöse der Gegenwart. Im Gespräch für den Morning Briefing Podcast sagt der Autor:
© dpaIch habe noch nie so ein persönliches Buch geschrieben. Es geht um Erinnerungen an meine Kindheit, meine Jugend. Es geht um eine Rückkehr in meine alte Heimat, wo ich aufgewachsen bin.
Über den eigentlichen Star des Buchs, den deutschen Wald, sagt Wolfgang Büscher:
Mein Gedanke war: Was ist dein Zentrum? Dein Zentrum ist da, wo du herkommst. Also geh doch dahin.
Vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse im Wald hat er einen Rat an die Städter:
Es gibt da draußen noch etwas anderes, vergesst das nicht. Das ist eine Welt, die auch einen Anspruch darauf besitzt, wahrgenommen zu werden. Diese andere Welt ist sehr mächtig, und die Mächtigkeit dieser anderen Welt besteht in ihrer Langlebigkeit.
Noch immer bewegt von dieser Poesie der Stille wünsche ich Ihnen einen friedlichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr