die europäischen Rettungspolitiker Emmanuel Macron und Angela Merkel haben in Ursula von der Leyen ihre Lehrmeisterin gefunden. Nach dem 500-Milliarden-Euro-Plan von Franzosen und Deutschen lobt die EU-Kommissionspräsidentin – die über keinerlei eigene Steuereinnahmen verfügt – nun ein 750-Milliarden-Euro-Programm aus. Frei nach dem Motto: Wer kein eigenes Geld besitzt, sollte wenigstens großzügig mit dem der anderen sein:
► Allein 500 Milliarden Euro sind von ihr als nicht rückzahlbare Geschenke für bedürftige Staaten gedacht, weitere 250 Milliarden Euro als Kredite.
► Mehr als 300 Milliarden Euro dieser Summe sollen allein für die Krisenländer Italien und Spanien reserviert sein. So sind für Italien 82 Milliarden Euro als Geldgeschenk und 91 Milliarden Euro als Darlehen gedacht. Spanien darf mit 77 Milliarden Euro als Zuschuss und 63 Milliarden Euro als Darlehen rechnen. Viva España!
► Geplant ist, mit der ersten Rückzahlung bis zum Jahr 2028 zu warten, wenn von den heute amtierenden Politikern niemand mehr im Amt sein dürfte. Die letzte Tranche soll 2058 getilgt werden. Angela Merkel wäre dann 103 Jahre und Ursula von der Leyen 99 Jahre alt.
Doch das Spiel mit den großen Zahlen ist in Wahrheit ein Hütchenspiel. Es gibt wenige Gewinner und viele Verlierer. Es sind neun unbequeme Wahrheiten, die von der Leyen dem Publikum gestern vorsätzlich verschwiegen hat.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Gewinne der großen Autokonzerne
Konzernergebnisse nach Steuern von BMW, Daimler und Volkswagen, in Milliarden Euro
Erstens. Im großen Stil wird Geld ausgereicht an Unternehmen, die keiner Subvention bedürfen. Beispiel Autoindustrie: Allein die drei Autokonzerne Volkswagen, BMW und Daimler haben in den vergangenen zehn Jahren Gewinne nach Steuern in Höhe von über 237 Milliarden Euro gemeldet. Für das vergangene Geschäftsjahr will VW laut Hauptversammlungsbeschluss vom Februar rund drei Milliarden Euro Dividende an seine Aktionäre ausschütten, BMW 1,6 Milliarden, Daimler rund eine Milliarde. Kaufanreizprogramme können diese Firmen aus der Portokasse stemmen.
Zweitens. Mit Geldgeschenken aus der Staatskasse werden Strukturen zementiert, die schon vor Corona sich im hinteren Teil ihres Lebenszyklus befanden. Beispiel Zeitungsverleger: Im Gespräch ist eine Subvention für Zeitungszusteller, damit das sterbende Produkt Papierzeitung ein bisschen langsamer stirbt. Beispiel Thyssenkrupp: Der einstige Stahlgigant, der schon vor Corona angezählt war, wird nun mit einer Milliarden-Injektion aus der Steuerkasse versorgt. Das hilft, aber heilt nicht.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Zinsschaden
Netto-Geldvermögen 2019 gegenüber der Summe der Zinseinbußen privater Haushalte seit 2010 (DZ-Bank-Prognose)
Drittens. Einen Großteil der Rechnung werden die Sparer bezahlen. Denn spätestens nach dieser Schuldenorgie ist Geld kein knappes Gut mehr, weshalb sein Besitz auch nicht mehr durch Zinsen belohnt wird. Weil der Realzins oft negativ ist und mittlerweile unterhalb der Inflationsrate liegt, kommt es auf den Sparbüchern zu einer noch nie dagewesenen Entwertung von Kaufkraft.
Viertens. Die große Hektik und die mangelnde inhaltliche Vorbereitung für das Verschenken dieser Milliardenbeträge begünstigen Staaten und Strukturen, die schon bislang nicht sorgfältig mit Geld umgegangen sind. Die Medien werden noch Jahre lang von Geschichten über Parteienfilz, Korruption und Mafia-Geschäfte leben.
Fünftens. Für die notwendige Transformation, zum Beispiel der Bildungsinfrastruktur in Europa, bleibt nach dieser Kraftanstrengung weder Geld noch Aufmerksamkeitsspanne. Das ehrgeizige Ziel der Lissabon-Strategie – im März 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs, aus der EU bis zum Jahr 2010 den wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Raum der Welt zu machen – ist ohnehin längst abmoderiert. Die Wahrheit ist: Europa ist in Sachen Bildung der am wenigsten ambitionierte Wirtschaftsraum der Welt.
Sechstens. Europa wird genau die Schuldenunion, die die Gründungsväter des Euro verhindern wollten. Mittlerweile sind alle Sicherungen dieser Gründerzeit rausgeschraubt. Der Maastricht-Vertrag, der Stabilitätspakt und die Schwarze Null gelten nicht mehr. Nun darf sich auch die EU selbst verschulden, was bislang verboten war. Deutschland wird über einen juristischen Umweg in die Haftung gezwungen, ohne dass darüber je eine Aussprache im Volk stattgefunden hätte.
Siebtens. Die sozialen Verteilungswirkungen der Rettungspolitik sind fatal. Die Finanzmärkte sind die eindeutigen Gewinner, weil die Schuldenpolitik der Staaten und die Geldschöpfung der Notenbanken die Einsätze im globalen Casino in die Höhe schnellen lassen. Sparer und Steuerzahler hingegen werden – die einen sofort, die anderen später – für diesen fiskalischen Leichtsinn gerade stehen müssen. Das internationale Großkapital, das Grüne, Linkspartei und SPD sich gerne vorknöpfen wollen, hat keine Angst vor diesem Maulheldentum, denn es lebt gesichert auf der Steueroase. Der Facharbeiter lebt nebenan. Er ist deutlich einfacher zu belangen.
© imagoAchtens. Die ökonomisch unseriöse und in ihrer Verteilungswirkung ungerechte Schuldenorgie ist ein Förderprogramm für Populisten. In der politischen Mitte rumort es.
Neuntens. Mit diesem Verschuldungsschub in Europa verliert die Welt ihren letzten sicheren Hafen. In der Dritten Welt, die man heute verharmlosend „Emerging Markets“ nennt, reift eine giftige Frucht heran. So sitzen die Schwellenländer bereits jetzt auf einem Schuldenberg von 8,4 Billionen US-Dollar. Durch die Corona-Krise kommen in diesem Jahr weitere 730 Milliarden Dollar hinzu, was einige der Schwellenländer an den Rand einer Währungskrise bringen dürfte.
Fazit: Kurzfristige Liquiditätshilfen für die Wirtschaft und ihre Beschäftigten sind notwendig; Milliarden schwere Steuergeschenke für Länder und Firmen aber transformieren die Pandemie in eine Staatsschulden- und Vertrauenskrise. Der Opportunismus von Politikern und Medien, die nahezu geschlossen heute Morgen der EU-Schuldenpolitik Beifall klatschen, ist beeindruckend und beängstigend zugleich. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“
Widerspruch kam von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. Der 33-Jährige führt mit Schweden, Dänemark und den Niederlanden (die „sparsamen Vier“) den Widerstand gegen die expansive Geldpolitik der EU an. Mein Kollege Michael Bröcker spricht im Morning Briefing Podcast mit Kurz über den EU-Plan:
Bei der Summe und dem Verhältnis Kredit versus Zuschüsse sind wir der Meinung, dass wir erst am Anfang der Verhandlungen stehen.
Auf die Kritik, ein „Anti-Europäer“ zu sein und in Not geratenen Ländern nicht helfen zu wollen, erwidert er:
Die Kritik überrascht mich, denn die Position, die wir vertreten, war vor zwei Wochen noch die Position, die in Deutschland vertreten worden ist.
Es ist notwendig, bei so großen Summen, die bewegt werden sollen, ordentlich zu diskutieren. Da geht es zunächst einmal um die Frage, wie viel müssen diejenigen zahlen, die zahlen sollen. Und dann geht es natürlich um die Frage: Wie kommt das Geld bestmöglich an? Ist es mit Reformen verbunden oder verpuffen diese Hilfen eher?
Sebastian Kurz rät auch mit Blick auf die Tragfähigkeit der europäischen Schulden zu mehr Augenmaß:
Es gibt viele Länder, die trotz eines hohen Wirtschaftswachstums Defizite zustande gebracht haben. Das kann langfristig nicht funktionieren. Wenn wir dort nicht die Trendwende schaffen, dann können wir in eine Situation kommen, wo noch nicht einmal mehr Deutschland die Europäische Union retten kann.
Heute lesen Sie in unserem Briefing aus der Hauptstadt unter anderem folgendes Exklusiv-Thema: Der EU-Plan wirkt ansteckend. Auch die Große Koalition ist auf der Suche nach dem großen Konjunkturimpuls.
Der Aufsichtsrat der Lufthansa hat die Entscheidung zur Annahme des staatlichen Rettungspakets über neun Milliarden Euro vertagt. Der Grund: Die EU-Kommission will die Staatshilfe nutzen, um die Start- und Landerechte der Lufthansa an verschiedenen Flughäfen zu überprüfen.
Damit würde womöglich die Drehkreuzfunktion an den Heimatflughäfen Frankfurt und München geschwächt, argumentieren die Aufsichtsräte und wollen die möglichen Folgen sowie Alternativszenarien prüfen. Denn unschwer sind hinter diesen Auflagen die Interessen der anderen Fluggesellschaften zu erkennen, denen die Lufthansa heute zu mächtig ist.
In Berlin wird befürchtet, dass der für die Verhandlungen mit der Lufthansa zuständige Generaldirektor, der Franzose Olivier Guersent, dem französischen Konkurrenten Air France-KLM (Drehkreuze in Paris und Amsterdam) helfen will.
Im „Handelsblatt“ fasst Jens Koenen den Konflikt so zusammen:
Die Rettung von Lufthansa gerät immer mehr zwischen die Fronten von Bundesregierung und EU-Kommission, wobei letztere die Dominanz der deutschen Volkswirtschaft befürchtet.
Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit Oskar Lafontaine über die Rettungspolitik in Berlin, Paris und Brüssel. Dass der Staat nun ganzen Industrien wie der Automobilbranche finanziell zur Seite steht, hält (auch) Lafontaine für unangemessen. Die Kassen der Autobauer seien gut gefüllt:
Wenn man in dieser Situation fordert, um den Kauf anzureizen, bräuchten die Automobilkonzerne ein Programm von zweieinhalb Milliarden, ist das nur noch unverschämt. Das zeigt, dass sich in bestimmten Bereichen unserer Wirtschaft eine Schamlosigkeit ausbreitet, die sich zum Nachteil der großen Mehrheit der Bevölkerung auswirkt.
Lafontaine fürchtet, dass am Ende, wenn die großen Summen geflossen sind, die Vermögenden erneut vermögender und die Kleinen kleiner sind:
Wenn jetzt wieder dasselbe passiert wie nach der Finanzkrise, stellt sich die Frage, wie lange die Völker der Welt sich das gefallen lassen. Eine Prognose wage ich nicht zu geben.
Die Annäherung zwischen Linkspartei und SPD beobachtet er aufmerksam und nicht ohne Wohlwollen. Lafontaine:
Ich bedauere, dass die SPD die Chancen in den vergangenen Jahren nicht genutzt hat. Ich hatte ja ab 2005 der SPD immer wieder angeboten, den Kanzler zu stellen. Aber sie wollte nicht. Sie wollte unbedingt Merkel.
Sollte Rolf Mützenich, Olaf Scholz oder jemand ganz anderes die SPD in die nächste Bundestagswahl führen? Lafontaine will sich nicht festlegen:
© imagoEs kommt letztendlich darauf an, dass sich die SPD in der nächsten Zeit glaubhaft – die Auseinandersetzungen werden ja jetzt kommen – ein Profil erarbeitet, das langsam wieder Vertrauen schafft. Deshalb möchte ich jetzt keinem der denkbaren Kandidaten von mir aus den öffentlichen Segen geben.
Die Frage, ob er damals im März 1999 die richtige Entscheidung getroffen hat, als er den Parteivorsitz, das Ministeramt und sein Bundestagsmandat niederlegte, treibt ihn noch heute um:
Das Leben ohne Zweifel wird es wohl nicht geben.
Erstens. Bundesinnenminister Horst Seehofer wird ab 11.30 Uhr im Untersuchungsausschuss des Bundestags zur gescheiterten Pkw-Maut erwartet. Er tritt offiziell als Zeuge auf, obwohl er für viele Unionspolitiker, darunter auch der ehemalige CSU-Verkehrsminister Ramsauer, der Täter ist. Der deutsche Wegezoll war seine Idee.
Zweitens. In Peking geht die einwöchige Jahrestagung des chinesischen Volkskongresses zu Ende. Auf der Agenda steht ein Beschluss zur Freiheitsbewegung in Hongkong. Die Repression soll zur Maxime erhoben werden.
Drittens. Der Rückgang der Energiepreise hat die Teuerung in Deutschland zuletzt gedämpft. Eine erste Schätzung zur Entwicklung der Verbraucherpreise im Mai gibt es heute vom Statistischen Bundesamt.
Viertens. Mit Traktoren-Konvois in zahlreichen Städten wollen Landwirte ihrem Protest gegen die Agrarpolitik Luft machen. Die bundesweit größte Kundgebung wird mit rund 1000 gemeldeten Fahrzeugen in Münster erwartet.
© dpa/ Milla & PartnerFünftens. Mit einem symbolischen Spatenstich sollen in der Hauptstadt offiziell die Arbeiten für das Freiheits- und Einheitsdenkmal beginnen. Geplant ist, dass vor dem künftigen Humboldt Forum im Herzen Berlins eine riesige begehbare Waage an die friedliche Wiedergewinnung der Deutschen Einheit erinnert. Endlich: Es wäre das erste Berliner Denkmal, das Geschichte mit Lebensfreude verbindet. Diese Gedenkstätte macht nicht traurig, sondern mutig. Die Botschaft an die jüngere Generation ist eindeutig: Geschichte wird nicht erduldet, sondern gemacht.
Ich wünsche Ihnen einen kämpferischen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie herzlichst Ihr