darf ein kritischer Geist seine Regierung bewundern oder gar anbeten? Die Antwort lautet eindeutig: nein. Die Obrigkeit, auch wenn sie eine demokratisch legitimierte Obrigkeit ist, muss ohne Anbetung und andere Formen der journalistischen Liebkosung auskommen.
Aber darf der kritische Geist seine Regierung im Ausnahmefall loben? Ich würde sagen: Er muss es sogar tun, wenn diese Regierung ausnahmsweise nicht der Wahltaktik und der Demoskopie folgt, sondern der Vernunft. Wenn sie nicht erneut über ihre eigenen Füße stolpert und sich im Klein-Klein ihrer staatlichen Kompetenzen verläuft, sondern endlich zu dem durchringt, was man als evidenzbasiert bezeichnen würde: zu einer Impfpflicht ohne Pflicht.
Eine Infografik mit dem Titel: Mitten in der vierten Welle
Täglich gemeldete Neuinfektionen mit dem Coronavirus in Deutschland seit Januar 2020
Angesichts des Infektionsgeschehens in unseren Betrieben, Schulen und Restaurants haben sich die beiden Kanzler – die Gehende und der Kommende – auf eine gemeinsame Wahrnehmung von der Wirklichkeit verständigt. Und gehandelt.
Die 4. Welle des mehrfach mutierten Virus wird nicht länger ignoriert, sondern sie wird adressiert. Man versucht das, was man geschworen hat, zu leisten: Schaden abzuwenden vom deutschen Volk und den uns umgebenden Nachbarvölkern gleich mit.
Eine Infografik mit dem Titel: Pandemie 4.0
Inzidenz der symptomatischen Erkrankungen mit COVID-19 in Deutschland nach Altersgruppen und Impfstatus
Die Beschlüsse der Bund-Länder-Konferenz waren nicht mutig, sie waren überfällig. Viele Ungeimpfte, so es für ihr Tun keine medizinischen Gründe gab, haben es monatelang doll getrieben. Sie haben manchen mit ihren wilden Theorien verwirrt und viele mit ihrer Viruslast angesteckt. Ungeimpfte Personen sind an 8-9 von 10 Neuinfektionen beteiligt, sagt eine neue Studie der Humboldt-Universität Berlin.
Hier also sind die unbequemen Beschlüsse, die in der jetzigen Lage von täglich bis zu 75.000 neuen Infektionen und täglich circa 400 neuen Toten tatsächlich den Status nahe der „Alternativlosigkeit” für sich beanspruchen dürfen:
2G-Regel: Bundesweit und unabhängig von der Sieben-Tage-Inzidenz soll der Zutritt zu Einrichtungen der Kultur und Freizeit, wie Kino, Theater und Restaurants, nur noch Geimpften und Genesenen möglich sein. Ergänzend kann ein aktueller Test vorgeschrieben werden (2G-Plus).
Die 2G-Regel gilt auch für den Einzelhandel. Davon ausgenommen sind Geschäfte des täglichen Bedarfs. Der Zugang muss von den Geschäften kontrolliert werden.
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In Schulen soll die Maskenpflicht für alle Klassen gelten.
Der Bund bringt eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte auf den Weg, zum Beispiel in Altenpflegeeinrichtungen und Krankenhäusern.
Zudem soll der Impfstatus auslaufen, wenn nicht rechtzeitig eine Auffrischimpfung erfolgt.
Die Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte werden verschärft: Zusammenkünfte im öffentlichen und privaten Raum, an denen nicht geimpfte und nicht genesene Personen teilnehmen, sind auf den eigenen Haushalt sowie höchstens zwei Personen eines weiteren Haushalts beschränkt. Von der Regelung ausgenommen sind Kinder unter 14 Jahren.
Eine Infografik mit dem Titel: Rekord der Inzidenzen
Covid-19-Fälle der vergangenen sieben Tage je 100.000 Einwohner nach Landkreisen
Veranstaltungen im Freien sollen bei der Teilnehmerzahl auf 30 bis 50 Prozent der Kapazitäten und auf maximal 15.000 Zuschauer begrenzt werden. Die Regelung betrifft auch Spiele der Fußball-Bundesliga. Zudem soll eine Maskenpflicht gelten. Zutritt sollen nur Geimpfte oder Genesene haben (2G). Ergänzend kann ein aktueller Test vorgeschrieben werden (2G-Plus).
In Gebieten mit einer Inzidenz von über 350 werden Clubs in Innenräumen geschlossen. Ab Inzidenz 350 sollen zudem private Feiern und Zusammenkünfte nur mit 50 (geimpften und genesenen) Personen in Innenräumen erlaubt sein. Im Außenbereich liegt die Grenze bei 200 Personen.
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Fazit: Peter Sloterdijk schrieb – in Kenntnis des negativistischen Furors, den auch die Publizistik erfasst hat – in „Die schrecklichen Kindern der Neuzeit” den bösen Satz:
Noch immer ist die Sympathie für den Zusammenbruch die beliebteste Antwort, sobald die Frage aufkommt, was an die Stelle des Vorhandenen treten sollte.
Diesem in Deutschland weit verbreiteten Negativismus haben die Parteien des Bundestages sich nun verweigert. Es ist untertrieben zu sagen: Die Regierung regiert. Im Grunde regieren hier zwei Regierungen gemeinsam, die alte und die neue, die kommende und die gehende.
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Wenn die Historiker Sinn für die Ironie des Augenblicks empfinden, sollten sie im Geschichtsbuch einen Platz für diese flüchtige, von der üblen Laune des pandemischen Augenblicks erschaffene Figur reservieren, die auf den Namen Angela Scholz hört. Es muss ja nicht gleich eine Doppelseite sein.
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Ginge es nach dem designierten Bundeskanzler Olaf Scholz, dann würde „Ende Februar, Anfang März” kommenden Jahres eine allgemeine Impfpflicht eingeführt werden. Der künftige Finanzminister Christian Lindner würde dieser wahrscheinlich seine Zustimmung geben. „Bild TV” erklärte er gestern die Neuausrichtung seines liberalen Kompasses:
Ich sage offen, dass meine Richtung auch die einer Impfpflicht ist.
Er habe auf eine Impfquote von 85 Prozent gehofft und sei enttäuscht über die geringe Impfbereitschaft.
Auch unter Philosophen und Kirchenvertretern hat die Diskussion über die ethische Vertretbarkeit einer Impfpflicht für alle begonnen. Hier einige Stimmen, die bei der Meinungsbildung behilflich sein könnten:
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Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sprach sich im Morning-Briefing Podcast für eine Impfpflicht für bestimmte Berufs- und Altersgruppen aus. Eine allgemeine Impfpflicht sei hingegen nicht verhältnismäßig. Er argumentiert:
Bis 50 Jahre spielen die Covid-Erkrankungen eine minimale Rolle für die Überlastung des Gesundheitssystems.
Mitte dieser Woche wandten sich die Vertreter von sieben Religionsgemeinschaften mit einem Impfappell an die Gläubigen. Der Domkapitular der katholischen Kirche Paderborn, Benedikt Fischer, geht noch weiter:
Es ist eine Sünde, sich dieser Impfstoffe zu verweigern.
Auch beim Ethikrat steht die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht mittlerweile wieder auf der Tagesordnung.
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„Man darf nicht so tun, als hätte sich die Situation nicht geändert“, sagte die Vorsitzende des Ethikrats, Alena Buyx.
Aber es gibt auch andere Stimmen in dieser Debatte. Zum Beispiel die von Ex-Innenminister Otto Schily, SPD:
Ich bin bereits dreimal geimpft und empfehle die Impfung besonders vulnerablen Menschen. Aber eine allgemeine Impfpflicht ist unverantwortlich. Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China besteht sie.
Jens Spahn greift trotz seines „geschäftsführend”- Status in die deutsche Corona-Politik ein. So war er an den Beschlüssen des gestrigen Bund-Länder-Treffens beteiligt. Im Gespräch mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker erläutert er die neuen Regeln und äußert seine Meinung zu einer allgemeinen Impfpflicht. Er sagt:
Der quasi Lockdown für Ungeimpfte ist notwendig. Wenn wir auf die Intensivstationen schauen und darauf, wer das Infektionsgeschehen treibt, dann sind das vor allem die über 12 Millionen ungeimpften Erwachsenen in Deutschland.
Dass die vierte Welle mit solch einer Wucht kam, läge auch an der fehlenden Einhaltung der AHA-Regeln:
3G war zu oft 0G und wurde gar nicht kontrolliert in Deutschland.
© Anne Hufnagl
Nun plädiert er für eine deutlich härtere Gangart:
Ich bin dafür, es für Ungeimpfte im Alltag so schwer wie möglich zu machen.
Eine Kurzversion des Gesprächs hören Sie im heutigen Morning Briefing Podcast mit Dagmar Rosenfeld. Das ganze Gespräch erscheint heute ab 6 Uhr für Pioneers-only als Morning Briefing Spezial.
In der österreichischen Politik wird der gestrige Tag als Tag der Rücktritte in die Geschichtsbücher eingehen. Nachdem am Vormittag der frühere Bundeskanzler Kurz seinen Rückzug von allen politischen Ämtern verkündete, wurde am späten Nachmittag bekannt, dass auch Kanzler Schallenberg, sein Nachfolger im Amt, zurücktritt.
Kurz begründete seine Entscheidung einerseits mit der Geburt seines Sohnes. In den vergangenen Wochen sei ihm „bewusst geworden, wie viel Schönes und Wichtiges es auch außerhalb der Politik gibt”.
Andererseits wies der 35-Jährige darauf hin, dass in den vergangenen Monaten seine Begeisterung für die Politik gelitten habe. Nicht der Wettbewerb um die besten Ideen hätte im Vordergrund gestanden, so Kurz, sondern nur noch die Abwehr von Vorwürfen und Unterstellungen. Das sei kräftezehrend und habe die Flamme der Begeisterung kleiner werden lassen.
Ich möchte nicht behaupten, dass ich nie etwas falsch gemacht habe.
Aber er legt Wert auf Maß und Mitte:
Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher.
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Die schrille Nina Hagen ist – so könnte man meinen – der Antipode zur bescheidenen und eher stillen Angela Merkel. Doch auch in Merkel steckt ein Stück Hagen. Beide Frauen sind hochpolitisch und subversiv humorvoll. Das konnte man nirgends besser lernen als in der DDR.
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Nur, dass Merkel ihren Humor nicht mehr öffentlich auslebt. Gespottet wird hinter verschlossener Tür. Auch ihre Beherrschungsenergie – zum Beispiel gegenüber den CDU-Männern oder einem übergriffigen Trump – hat Merkel stets lautlos zu kanalisieren gewusst, derweil das Kraftwerk Nina Hagen in regelmäßigen Abständen explodiert.
Von der Liederauswahl der Kanzlerin sei sie „genauso überrascht worden, wie meine Freunde und meine Feinde“, schreibt Nina Hagen auf Facebook. Sie habe die Ankündigung erst für eine „Fake-Meldung“ gehalten.
In ihrer Biografie „Bekenntnisse“, die derzeit ausverkauft ist, erklärt Nina Hagen die eigentliche Bedeutung ihres Hits „Du hast den Farbfilm vergessen“:
Wahrscheinlich müsse man in der DDR geboren sein, „um all die Anspielungen und manchmal recht derben Bezüge zu verstehen“, die dieses Lied zur heimlichen DDR-Nationalhymne machten. Es sei „ein Schlager durch Zerstörung von Schlager“, schreibt Hagen und erklärt – damals von Merkels Liederauswahl noch nichts ahnend – die symbiotischen Sehnsüchte der heutigen Kanzlerin und der späteren Punk-Sängerin:
Der Farbfilm atmet im Hintergrund das giftige Grau von Bitterfeld und die Tristesse von Leipzig... es spielt im Milieu einer irren Sehnsucht danach, dieser Schwarzweißwelt zu entfliehen, hin zu Orten voll Farbe und Licht.
Die Flucht ist beiden Frauen gelungen und auch die Orte voll Farbe und Licht haben sie gefunden – wenn auch an unterschiedlichen Plätzen. Nina Hagen floh in den Punk, Angela Merkel in die Politik.
Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in das zweite Adventswochenende. Bleiben Sie mir gewogen.
Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr