Globalisierung - neu Denken

Willkommen in der G-Null-Welt

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Annalena Baerbock © ThePioneer

Guten Morgen,

die neue Außenministerin hat den Zettelkasten mit den diplomatischen Floskeln ihres Vorgängers offenbar schon kurz nach der Vereidigung geplündert. Sie droht wie er: Russland würde „einen hohen politischen Preis“ für seine Aktivitäten in der Ukraine zahlen. Sie beschwichtigt wie er: Lösungen könnten „nur diplomatisch“ gefunden werden.

Wladimir Putin wird sich mächtig erschrocken haben.

Die deutsche Rhetorik und die machtpolitische Realität auf der Welt passen nicht zusammen. Deutschland ist nicht die Stimme eines westlichen Chores, sondern die Stimme eines Solisten im Kreise anderer Solisten. Nicht einmal die Konzertierung der Europäer gelingt.

Annalena Baerbock © dpa

Annalena Baerbock hat diese Welt ohne Zentrum nicht zu verantworten. Aber sie muss in dieser Welt zu navigieren lernen. Und lernen heißt in diesem Fall auch, die Limitierungen einer deutschen Außenministerin anzuerkennen und nicht durch einen diplomatischen Verbalismus zu überdröhnen. Von den zwei Instrumenten einer wirkungsvollen Außenpolitik – „sticks and carrots“ – steht Annalena Baerbock eben nur ein Bund Karotten zur Verfügung.

Aber wer besitzt dann die Schlagstöcke? Und wo bitte ist die Hard Power zu Hause, die sich mit der deutschen Soft Power kombinieren ließe?

Hier genau beginnt das Problem der Zettelkasten-Außenpolitik. Die deutschen Karotten sind weitgehend unverbunden mit der amerikanischen Militärkraft. Die Nato ist vor Jahrzehnten als Tiger gestartet, um am Flughafen von Kabul als Bettvorleger zu landen. Wir leben, sagt der außenpolitische Vordenker Ian Bremmer – im Hauptberuf Präsident der Denkfabrik Eurasia – in einer „G-Null-Welt“, wo keine Nation und keine Ländergruppe über ausreichend Willen und Werkzeuge verfügt, um der Welt seine Agenda vorschreiben zu können.

Diese Welt ohne Führung – in die hinein Annalena Baerbock vereidigt wurde – ist durch fünf Merkmale gekennzeichnet:

Wladimir Putin © dpa

1. Putin sucht Streit. Die westliche Ablehnung seines Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine scheint ihn nicht zu stören, sondern zu stimulieren. Jeder zusätzliche Soldat und jede weitere Feldhaubitze ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Russland will keine Ruhe. Russland will Respekt.

2. China strebt zeitgleich nach Dominanz. Die Zeiten sind vorbei, wo sich die Volksrepublik als Lieferant von Billigspielzeug und Produzent von Plastikkugeln für amerikanische Weihnachtsbäume verstand. China ist mittlerweile eine Technologie-Großmacht. Das Land setzt zum Überholmanöver an.

Eine Infografik mit dem Titel: China vs. USA

Vergleich zwischen dem BIP (in heutigen Preisen) der USA und China, in Billionen US-Dollar

3. Der Weltpolizist USA hat derweil den Dienst quittiert, ohne dass ein Nachfolger benannt wurde. Am Flughafen von Kabul hat er den Kampfanzug ausgezogen und sein Kriegsgerät den Taliban kampflos überlassen. Auf absehbare Zeit – das haben Trump und Biden bekräftigt – wird es keine humanitäre Interventionen des Westens mehr geben.

4. Die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf internationalen Institutionen: UN, WHO, WTO, OECD, IMF und Weltbank. Die Welt des 21. Jahrhunderts beruht auf technologischer Vorherrschaft. Genau darum ringen die USA mit den Chinesen. Deutschland – die Industriemacht des 20. Jahrhunderts – sitzt nur noch in der Zuschauerloge. Digitalisierung? Nicht so unser Ding, sagen die Deutschen.

5. Europa erodiert. Der Kontinent wird derzeit vor allem durch die Schulden der EU-Kommission und die Geldflutung der EZB zusammengehalten. Politisch weiß jeder, was er nicht will. Die Polen wollen kein EU-Recht, die Franzosen keine Migranten, die Skandinavier mögen keine neuen Schulden und alle zusammen sind gegen eine deutsche Dominanz.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Schulden der EU

Staatsverschuldung der EU27 in Relation zum BIP (Staatsschuldenquote), in Prozent

Fazit: Alle Völker liegen im selben Bett, aber träumen unterschiedlichste Träume. Die Welt hat ihr geistiges Zentrum und damit auch ihre strukturelle Friedfertigkeit verloren. Die tektonischen Platten haben zu schiften begonnen.

Die Kunst der neuen Außenministerin sollte darin bestehen, diese widrige Wirklichkeit anzuerkennen, ohne an ihr zu verzweifeln. Die bittere Ironie des Albert Einstein verpflichtet sie und uns zur Zuversicht:

Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.

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Sigmar Gabriel © Anne Hufnagl

Der ehemalige SPD-Chef, Außenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel war gestern an Bord der PioneerOne, um mit Chelsea Spieker den Podcast „World Briefing” aufzuzeichnen. Heute morgen hören Sie Ausschnitte aus diesem rund 45 minütigen Gespräch; die gesamte Produktion wird am Samstagmorgen auf ThePioneer.de hochgeladen. Gabriel sagt:

Ich glaube, dass wir ein Jahrzehnt von innen- und außenpolitischen Zumutungen vor uns haben.

Der große Lichtblick sei für ihn Italien:

Mario Draghi hat mit der Politik seines Vorgängers Schluss gemacht, sich immer stärker den Chinesen zu öffnen.

Chelsea Spieker © Anne Hufnagl

Die Südstaaten und die Skandinavier allerdings könnten sich auf eine gemeinsame Fiskalpolitik kaum mehr verständigen. Gabriel:

Auf Deutschland wird eine schwierige Vermittlerposition zukommen.

In der Weltwirtschaft sieht er einen Kurswechsel; plötzlich gelte wieder das Primat der Politik:

Wir haben in der Globalisierung 30 Jahre erlebt, dass die Wirtschaft wichtig war und die Politik sich raushalten sollte. Jetzt erleben wir eine Phase, wo genau das Gegenteil passiert. Staaten entscheiden sich sogar gegen ihre wirtschaftlichen Interessen, nur damit sie im Ringen um eine neue Weltordnung Vorteile, Geländegewinne und letztlich mehr Macht bekommen.

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Seine Prognose für die Ampelkoalition:

Die Bundesregierung wird möglicherweise viel mehr mit außenpolitischen Fragen zu tun haben als mit innenpolitischen.

 © imago

400.000 neue Wohnungen sollen pro Jahr gebaut werden. Die Verlängerung der Mietpreisbremse und neue Förderungen für die energetische Sanierung der Gebäude sind ebenfalls geplant. Die Ampel-Koalition rückt die Wohnungs- und Baupolitik demonstrativ in den Mittelpunkt der Sozial- und Klimapolitik. Ein neues Ministerium wurde eigens dafür geschaffen.

In ihrem ersten Interview als neue Ministerin gibt Klara Geywitz meinem Kollegen Michael Bröcker einen ersten Einblick, was auf Mieter, Vermieter und Immobilienbesitzer zukommt.

Schon Anfang 2022 sollen Immobilienwirtschaft, Verbände und Handwerk zu einem Bündnis für neues Bauen im Ministerium zusammengerufen werden.

“Ich werde sehr schnell im neuen Jahr in den Dialog mit der Bauwirtschaft und dem Bauhandwerk eintreten. Bezahlbares Wohnen ist eine der großen Sorgen der Menschen im Land", so Geywitz.

Klara Geywitz  © dpa

Die Politikwissenschaftlerin aus Potsdam will sowohl die Angebotsseite stärken als auch bestehende Mieter schützen.

Es heißt Wohnungsmarkt, weil es ein Markt ist. Man muss aber beides tun, das Angebot vergrößern, deshalb schieben wir ein riesiges Wohnungsbauprogramm an. Zugleich müssen wir Maßnahmen einführen, die dämpfend auf die Mieten wirken.

Das gesamte Gespräch hören Sie heute im Podcast „Hauptstadt. Das Briefing” ab 12 Uhr in der Pioneer App, im Google- oder Apple-Store und natürlich auf unserer Seite thepioneer.de

So will die neue Bauministerin Wohnungen schaffen

Die Bauministerin will die Mietpreisbremse verlängern und 2022 ein Bündnis für Bauen einberufen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

 © smb

Die aktuelle Corona-Lage am Freitagmorgen:

  • Gesundheitsminister Karl Lauterbach schreitet direkt zur Tat: So will er noch in dieser Woche eine Impfstoffinventur durchführen und prüfen, ob das Ziel von 30 Millionen Impfungen bis Jahresende eingehalten werden kann.

  • Begleitet wird er dabei durch den Bundeswehrgeneral Carsten Breuer, der den neuen Corona-Krisenstab im Kanzleramt leitet.

    Karl Lauterbach © dpa

  • Zuvor hatte Lauterbach angekündigt, dass ein voller Impfschutz künftig erst nach drei statt nach zwei Impfungen erreicht sei. Man müsse mit den Booster-Impfungen erreichen, dass die Virus-Mutation Omikron Deutschland so spät wie möglich erreicht, sagte Lauterbach.

  • Der Fußballspieler Joshua Kimmich fällt bis zum Jahresende aus. Grund dafür sei eine „leichte Infiltrationen in der Lunge“ – sprich Flüssigkeit in der Lunge. Bei Schonung bildet sich diese jedoch in der Regel zurück. Kimmich, der durch seinen fehlenden Impfschutz eine Kontroverse auslöste, hatte sich mit dem Coronavirus infiziert.

  • Die Ständige Impfkommission will die Corona-Impfung für Kinder von fünf bis elf Jahren mit Vorerkrankungen und Kontakt zu Risikopatienten empfehlen. Aber auch alle anderen Kinder sollen sich bei individuellem Wunsch impfen lassen können. Die finale Empfehlung muss jedoch noch abgestimmt werden.

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Mercedes S-Klasse © imago

„Eines der besten Mittel gegen das Altwerden ist das Dösen am Steuer eines fahrenden Autos”, sagte einst Rennfahr-Legende Juan Manuel Fangio. Doch genau das könnte bei Mercedes bald ohne Risiko möglich sein: Mercedes wurde als weltweit erstes Automobil die Erlaubnis zum Einsatz von Level-3 Fahrsystemen durch das Kraftfahrt-Bundesamt erteilt.

Auf einer Skala von 1 bis 5, die vom einfachen Tempomat bis zum vollautonomem Fahren alle Verkehrssituationen beschreibt, bedeutet Level 3 die Fähigkeit eines Autos, auf einer freigegebenen Strecke ohne Zutun eines Insassen autonom zu fahren. Während der Fahrer bei Level 1 und 2 voll verantwortlich für das Fahrverhalten ist, muss er bei Level 3 nur noch dazu bereit sein, das Steuer in Notsituationen zu übernehmen.

Es kommt zur Umkehrung der Verhältnisse: Der Mensch wird zum Fahrassistent der Maschine.

Im Falle von Mercedes gilt die Zulassung für Autobahnen und kann dort bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h genutzt werden. In den Genuss der neuen Wundertechnik kommen zunächst die Kunden der Oberklasse: Ab 2022 soll die Software als kostenpflichtiges Update für Mercedes S-Klasse- und EQS-Modelle angeboten werden.

Der ehemalige Vorstandschef Dieter Zetsche ist gegangen. Seine Ambition vom autonomen Fahren blieb. Jetzt wird sie von der Vision auf die Straße transportiert.

Reiner Hoffmann © dpa

Weckruf für die deutschen Gewerkschaften: Die Reallöhne sind erstmals seit zehn Jahren wieder gesunken. Mit 1,4 Prozent wiegt der Verlust jedoch deutlich schwerer als vor zehn Jahren. Damals sanken die Löhne um 0,1 Prozent, ebenso wie in den Jahren 2006 und 2007.

Eine Infografik mit dem Titel: Das Geld schwindet

Entwicklung der Tariflöhne gegenüber dem Vorjahr seit 2000, in Prozent

Das durchschnittliche Lohnplus belaufe sich brutto auf 1,7 Prozent, wie aus der am Donnerstag veröffentlichten Bilanz des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht. Die Verbraucherpreise dürften dagegen mit 3,1 Prozent deutlich schneller zulegen, woraus sich „ein ungewöhnlich starker Reallohnverlust“ von 1,4 Prozent ergebe.

Fazit: Arbeitnehmer hört die Signale. Lohnpolitik und Geldpolitik haben sich im Moment gegen die Menschen, die man früher als arbeitende Klasse bezeichnete, verschworen.

Jack Welch © imago

Alle reden heute immer von Empathie. Manche Manager wissen gar nicht was damit gemeint ist.

Albert J. Dunlap zum Beispiel. Er verdiente sich während seiner Zeit als skrupelloser Manager den Spitznamen „Kettensägen Al“, weil er die Firmen in ihre Einzelteile zerlegte und die Mitarbeiter wie die Späne im Sägewerk auf den Boden purzelten.

In den 90er Jahren, als er die Firma Scott Paper leitete, entließ er 11.200 Arbeiter und erhielt dafür 100 Millionen Dollar Vergütung. Im Shareholder-Value Kapitalismus wurde Brutalität prämiert. Als er die Leitung des Haushaltsgeräte-Produzenten Sunbeam übernahm, kündigte er an, die Belegschaft von damals noch um 12.000 Mitarbeiter zu halbieren und die meisten Standorte zu schließen. Sein Motto:

You’re not in business to be liked. If you want a friend, get a dog.

Auch Jack Welch hatte sich einen Namen als harter Hund gemacht. Er leitete 20 Jahre lang General Electric. Er war der Mann, der aus dem Sammelsurium von Industriebeteiligungen den zeitweise wertvollsten Konzern der Welt formte. „Fortune“ wählte ihn zum „Manager des Jahrhunderts“.

Doch bei den Arbeitern und einfachen Angestellten nannte man ihn nur „Neutronen-Jack“, weil er über die Jahrzehnte mehr als 100.000 Mitarbeiter feuerte, die sein Tempo nicht mitgehen konnten. Jeder Bereich von GE solle in seiner Branche zum Weltmarktführer aufsteigen. Sparten, denen das nicht gelang, wurden verkauft. Alle Vorgesetzten waren in der Pflicht, die am wenigsten produktiven Beschäftigten einmal pro Jahr zu nominieren und dann zu entlassen.

Vishal Garg, der CEO von Better.com, trägt sich in diesen Tagen ins Geschichtsbuch der berüchtigten Konzernbosse ein. Seine Waffe ist modern gewählt: Der Zoom-Call.

Zoom-Call © imago

Der indisch-amerikanische CEO des Kreditanbieters Better.com warf vergangene Woche 900 Beschäftigte auf einen Schlag aus seiner Firma. Der Grund: Sie hatten seiner Ansicht nach nicht genug Leistung gebracht. Für eine persönliche Ansprache allerdings blieb keine Zeit, weshalb er sich für die digitale Massenexekution entschied. Er lud alle Kündigungskandidaten zum Zoom-Call ein und feuerte los:

Wenn Sie in diesem Call sind, gehören Sie zur unglücklichen Gruppe, die entlassen wird. Ihr Arbeitsverhältnis ist mit sofortiger Wirkung beendet.

Einer der Unglücksraben hatte den Zoom-Auftritt mitgeschnitten und umgehend ins Internet gestellt. Enge Mitarbeiter, darunter die Chefs der Marketing- und Kommunikationsabteilung, reichten daraufhin ihre Kündigung ein. Der Zoom-Killer hat sich inzwischen entschuldigt – wenn auch nur teilweise. Er habe „bei der Mitteilung der Entscheidung Fehler gemacht“.

Wir lernen: Alles wird heutzutage zeitgemäß interpretiert – offenbar auch die Grausamkeit der Manager.

Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Start in dieses Adventswochenende. Bleiben Sie mir gewogen.

Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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