Politik und Sprache

Parlament: Poeten an die Macht

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Guten Morgen,

der Laie denkt, der Politiker sei ein Mensch, der die Öffentlichkeit liebt und sich dem Wähler nur zu gern mit seinen Ansichten zu erkennen gibt.

Doch das Gegenteil ist oft richtig. Die meisten Politiker ernähren sich von Worthülsen und verstecken sich hinter einem Panzer aus Floskeln, den sie in der Munitionsfabrik ihrer Partei haben fertigen lassen. Sie wollen „Chancen wahrnehmen“, „Voraussetzungen schaffen“, „Möglichkeiten eröffnen“ und das Land „gemeinsam nach vorne bringen.”

Sie reden viel, aber wenig davon ist wahrhaftig. Im Parlamentsalltag haben wir es oft mit exakt jenem Politikerverhalten zu tun, das Oscar Wilde in seinem Essay „Der Verfall des Lügens“ beschreibt: eine Verdrehung von Tatsachen, gestützt auf Argumente. Oder wie der Schriftsteller George Bernard Shaw sich auszudrücken pflegte:

Die Politik ist das Paradies zungenfertiger Schwätzer.

Und er sagte das, ohne Heiko Maas gekannt zu haben.

Heiko Maas © picture alliance/dpa/Reuters/Pool

Die Idee vom Parlamentspoeten - die seit gestern in Deutschland zirkuliert - stammt aus Kanada, wo das Amt des „parliamentary poet laureate“ bereits 2001 eingeführt wurde. Es geht darum, dem Parlament das wahrhaftige, das schöne, das kluge Sprechen beizubringen. Katrin Göring-Eckardt als Vizepräsidentin des Bundestages hat die Idee in die hiesige mediale Umlaufbahn geschickt.

Die Idee ist interessant, keine Frage. Es darf nur niemand auf die Idee kommen, den Parlamentsdichter zum Hauspoeten der Politiker oder – schlimmer noch – zu ihrem Hofnarr zu degradieren. Denn Poesie ist nicht ein anderes Wort für PR.

Der öffentliche Raum, wo sich die Mächtigen und die Bürger als Gleiche unter Gleichen begegnen, ist der für die Demokratie zentrale Ort. Beeindruckende Regierungsgebäude haben andere Herrschaftssysteme auch. Marschiert wird woanders imposanter. Einen öffentlichen Raum aber, in dem Regieren vorbereitet wird, in dem Meinung sich bildet, in dem Legitimation entsteht und vergeht, gibt es nur in der Demokratie.

Dieser öffentliche Raum könnte eine Stoßlüftung mal wieder gut gebrauchen. Wir sollten zumindest versuchen, uns den Parlamentspoeten als Wunderheiler zu denken. Er könnte so klingen wie Wolf Biermann, der 2014 vom damaligen Bundestagspräsidenten zur Feierstunde „25 Jahre Mauerfall“ geladen war. Er nahm die Linkspartei, eine Nachgeburt der SED, ins Visier. Er sollte singen, aber dann sprach es aus ihm heraus:

Ich weiß, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest dessen sind was zum Glück überwunden ist.

Wolf Biermann © dpa

Er nannte die unruhig auf ihren Sitzen hin und her rutschenden Abgeordneten der Linkspartei „die Reste der Drachenbrut“:

Ihr seid dazu verurteilt, das hier zu ertragen. Ich gönne es Euch.

Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die viele Jahre die Repression der rumänischen Geheimpolizei Securitate ertragen musste, bietet sich als Parlamentspoetin an. Sie könnte den Abgeordneten am Fuße einer großen außenpolitischen Debatte von ihren Gefühlen gegenüber Putin berichten, wie sie es in einem Gespräch mit der Welt-Journalistin Andrea Seibel getan hat:

Er verursacht ein Gefühl der persönlichen Entwürdigung. Er beleidigt meinen Verstand. Er beleidigt jeden Tag unser aller Verstand, und zwar mit der immer gleichen Dreistigkeit. Er wurde schon 100 Mal beim Lügen erwischt, er wird nach jeder Lüge entlarvt, und er lügt trotzdem weiter. Er tritt mir damit zu nahe. Als würde er einen wirklich bedrängen und für schwachsinnig halten.

Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin © dpa

Und auch die brennende Gegenwartsfrage, was genau Putin mit der Ukraine im Schilde führt, würde sie mit einer Wahrhaftigkeit beantworten, die sich niemand im Deutschen Bundestag auch nur zu denken traut:

Er will die Ukraine ruinieren, das ist das Ziel. Mit Alltagsschikanen, Gasverweigerung, Zerstörung der Infrastruktur, mit dem Tod von Tausenden Ukrainern. Das ist die Strafe, weil die Ukraine es gewagt hat, in Richtung Westen zu schauen.

Womit wir bei Juli Zeh wären, deren Bücher „Unterleuten“ und „Über Menschen“ man ohne Weiteres als Bewerbungsschreiben für den Posten der Parlamentspoetin lesen kann. Sie würde, am besten inmitten einer dieser aufgeheizten Parlamentsdebatten, an die Stelle eines Ordnungsrufes einen Gedanken in die Mitte der Volksvertretung schleudern. Den Gedanken nämlich, sich der Polarisierung zu verweigern:

Man wird gezwungen, eine Seite zu wählen. Und ich versuche, mich zu weigern; ich würde am liebsten allen Menschen sagen: Bitte weigert euch alle, bei dieser Form der Zuordnung mitzumachen. Denn dann würde sich das auflösen, was wir Polarisierung nennen und worüber wir schon seit vielen Jahren sprechen. Denn Polarisierung ist ein Narrativ. Das ist nichts Manifestes, sondern es ist eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen.

Juli Zeh © Anne Hufnagl

Natürlich wäre auch Peter Handke gut für diesen Job geeignet. Er ist der Drachentöter, der sich zutraut, die heiligen Worte der Politik zu erdolchen. Bei einem Gespräch in Paris im März 2016 erlegte er vor den Augen der Journalistin Katja Gasser die Phrase von den „europäischen Werten“, die den europäischen Menschen gegenüber seinem amerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Verwandten moralisch erheben soll.

Europäische Werte - das ist ein Schmäh. Alle tiefen, feinen, zarten Werte der Menschheit sind überall. Die Werte sind in den Formen der großen Werke. Und die Werte sind im Schluchzen eines Kindes oder im Hüpfschritt eines Kindes. Das ist für mich Musik. Das ist ein Wert - und nicht die europäischen Werte.

Peter Handke © imago

Und dann, nach einer kleinen Denkpause, hat er für jene Politiker, die die „europäischen Werte“ dauernd im Munde führen, noch eine Klassifizierung der deutlichen Art mitgebracht:

Arschlöcher.

Fazit: Wem die Deutlichkeit der klaren Gedankenführung nicht behagt, wer sich nach den Floskeln der Parteien zurücksehnt, dem sei – gewissermaßen zur Abhärtung – Sigmund Freud empfohlen. Er hat ein Loblied auf das Deutliche und Drastische verfasst:

Derjenige, der zum ersten Mal an Stelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

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Wintermanöver in Russland © dpa

Heute tagt nach zwei Jahren der Nato-Russland-Rat in Brüssel. Es treffen sich die Nato-Mitgliedstaaten mit Russland auf Ebene der Botschafter. Das Ziel: Ein Dialog auf Augenhöhe. Die Situation könnte brisanter kaum sein:

  • Ultimativ fordert Putin die Amerikaner zum Abzug aller europäischen Atomwaffen auf.

  • Zugleich zieht er seine Truppen an der Ostgrenze der Ukraine zusammen.

  • Die von ihm besetzte Krim will er nie mehr hergeben.

  • In Kasachstan hat er soeben durch eine militärische Eingreiftruppe die sozialen Unruhen gewaltsam beenden lassen.

  • Ungeduldig pocht er auf die Freigabe der Gaspipeline Nord Stream 2.

Im heutigen Morning Briefing Podcast analysiert Gordon Repinski mit dem einst ranghöchsten Bundeswehr-General bei der Nato, Hans-Lothar Domröse, die Lage. Domröse war bis 2016 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command im niederländischen Brunssum.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Über den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze sagt er:

Die Soldaten gehören da eigentlich nicht hin. Sie stellen eine Drohgebärde da, weil wir nicht wissen, ob sie einmarschieren.

Auf die Frage, ob man so etwas tut, wenn man keine aggressiven Absichten hat, sagt er:

Eigentlich nicht. Das gilt als unfein, dafür sind es auch ein bisschen zu viele. Wer mit 100.000 Truppen ins Feld zieht, direkt an der Grenze, dem unterstellt man Böses.

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Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Joseph E. Stiglitz.

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Stephan Wöllenstein  © dpa

VW tut sich schwer in China: 2021 sank der Absatz des Automobilherstellers auf seinem wichtigsten Einzelmarkt um 14 Prozent. Als Gründe nannte VW-China-Chef Stephan Wöllenstein den Mangel an Halbleitern und die Probleme in den Lieferketten.

Es war ein ziemlich schwieriges Jahr.

Ein detaillierterer Blick auf die Zahlen zeigt, dass vor allem die vergleichsweise günstigen Marken vom Rückgang betroffen waren. Besser lief es bei der Premiummarke Audi, die mit einem Minus von 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr glimpflich davon kam. Und im Luxussegment ging es sogar bergauf: So konnte Porsche acht Prozent und Bentley sogar 43 Prozent mehr Autos verkaufen. Dennoch ging der Marktanteil der VW-Gruppe in China, der lange bei 14 oder 15 Prozent gelegen hatte, auf 11 Prozent zurück.

Das Management tat, was man in solchen Fällen tut: Es gelobte Besserung. So kündigte Wöllenstein mit Blick auf 2022 an:

Wir wollen überproportional zurückgewinnen, was wir im vergangenen Jahr überdurchschnittlich verloren haben.

Sätze wie diese füllen im Aufsichtsrat die große Mappe mit der Aufschrift „Wiedervorlage”.

Eine Infografik mit dem Titel: Große Abhängigkeit

Absatz von VW in China von Januar 2021 bis Juni 2021, in Prozent

 © dpa

Die Pandemie macht vielen Unternehmen der Luftfahrtbranche zu schaffen – doch Airbus scheint den Problemen davonzufliegen. Zum dritten Mal in Folge bestätigte das Unternehmen seine Position als weltgrößter Flugzeugbauer.

2021 lieferte Airbus deutlich mehr Verkehrsflugzeuge aus als der US-Rivale Boeing: Insgesamt 611 Flugzeuge überstellte das Unternehmen an 88 Kunden. Das sind acht Prozent mehr als im Vorjahr. Airbus habe damit sein selbstgestecktes Ziel erreicht, wie Airbus-Chef Guillaume Faury betonte:

Auch wenn noch Unsicherheiten bestehen, sind wir auf dem richtigen Weg, die Produktion im Laufe des Jahres 2022 zu steigern.

Faury Guillaume © Anne Hufnagl

Eine deutliche Erholung zeichnet sich bei der Auftragslage ab: 771 Bestellungen konnte das Unternehmen bisher verbuchen – doppelt so viele wie vor Jahresfrist. Rechnet man die Stornierungen heraus, lag der Auftragseingang bei 507 Maschinen, im Orderbuch stehen damit insgesamt 7082 Flugzeuge.

Eine Infografik mit dem Titel: Klarer Überflieger

Anzahl produzierter Flugzeuge von Boeing und Airbus im Jahr 2021

Damit baut Airbus seinen Vorsprung gegenüber Boeing weiter aus: Der US-Hersteller hatte in den ersten elf Monaten gerade einmal 302 Flugzeuge an die Kunden übergeben.

Markus Söder und seine Statisten

Die Bildsprache des CSU-Chefs schwankt zwischen Spaß am bissigen Spott und echter politischer Demontage. Eine Video-Analyse von Vizechefredakteur Gordon Repinski.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Gordon Repinski Noemi Mihalovici.

Video mit der Laufzeit von

Commerzbank © dpa

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende: Der amerikanische Finanzinvestor Cerberus verkauft nach knapp fünf Jahren 21 Millionen Deutsche-Bank-Aktien und 25,3 Millionen Commerzbank-Aktien, wie die mit der Platzierung beauftragte Bank Morgan Stanley mitteilte. Damit sinkt der Anteil des Finanzinvestors an der Deutschen Bank von drei auf 1,99 Prozent, der an der Commerzbank von fünf auf 2,99 Prozent.

Offenbar hat der Investor das Vertrauen in die beiden deutschen Geldhäuser und deren Umbau verloren; zumindest scheint er nicht mehr an einen signifikanten Kursanstieg zu glauben. Verglichen mit den Einstiegskursen bedeuten die Abstoßungen für die Amerikaner einen herben Verlust in Höhe von rund 150 Millionen Euro.

Jeff Bezos © dpa

Ein besseres Geschäft als die Profis von Cerberus machte die Ex-Frau von Jeff Bezos: Ihr Return-on-Investment nach 25 Jahren Ehe macht MacKenzie Scott zur aktuell drittreichsten Frau der Welt. Sie heiratete vor dem Börsengang von Amazon und stieg bei 3200 Dollar aus der Ehe aus: Volltreffer.

Eine Infografik mit dem Titel: Mackenzie Scott: Gutes Investment

Aktienkurs von Amazon von 1998 bis 2020, in US-Dollar

Während die ehemalige Bezos ihre Zeit damit verbringt, das durch die Scheidung erzielte Vermögen an diverse wohltätige Vereine zu spenden, geht der reichste Mann der Welt durch eine schwere Midlife crisis. Aber Krise im Milliadärstyle: In den Niederlanden lässt er sich die größte Segelyacht der Welt bauen, fliegt mit seiner eigenen Rakete ins All und verbringt mit seiner neuen Freundin Lauren Sánchez Silvester in Disco-Montur.

Jeff Bezos und Lauren Sanchez © dpa

Die härteste Konkurrentin von MacKenzie Scott in der Kategorie „Bestes Investment” ist Melinda Gates. Sie heiratete als der Kurs der Microsoft-Aktie bei 2 Dollar stand. Nach der Scheidung im August 2021 nach 27 Jahren Ehe beliefen sich ihre Anteile an Microsoft auf 2,7 Milliarden Dollar bei einem Preis von 285 Dollar pro Aktie.

Auch sie hat zumindest finanziell ins Schwarze getroffen: Ihr Gatte entpuppte sich zwar als menschliche Enttäuschung, aber seine Firma sorgt dafür, dass diese Enttäuschung in Gold geschrieben wird.

Eine Infografik mit dem Titel: Melinda Gates: Die Kursrakete

Aktienkurs von Microsoft von 1990 bis August 2021, in US-Dollar

Weshalb unsere Zukunft von intelligentem Wachstum abhängt

Alev Doğan spricht mit Publizist Ralf Fücks

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Veröffentlicht in Der 8. Tag von Alev Doğan.

Podcast mit der Laufzeit von

ABBA © dpa

Die Deutschen haben einen Schweden-Tick, wie sich in diesen Tagen erneut herausstellte. Die Auswertung der weltweiten Musikverkäufe ergab, dass das ABBA-Album “Voyage“ es nirgendwo auf der Welt zur Nummer eins schaffte - nur hierzulande.

Adele © imago

Die Amerikaner lieben Morgan Wallen, die Briten Adele, aber die Deutschen haben einer Gruppe, die seit den achtziger Jahren gar nicht mehr auftritt, die Treue gehalten. Universal Europa-Chef Frank Briegmann:

Nach den Verkaufszahlen zu urteilen, ist Deutschland das ‘Abba-verrückteste’ Land.

Doch die Vorliebe für Produkte aus Schweden bleibt nicht auf die Popmusik beschränkt. Auch das Möbelhaus IKEA, dass ohnehin 75 Prozent seiner Produkte in Europa absetzt, hat in den Deutschen seine treuesten Kunden. Nirgendwo in Europa werden relativ und absolut mehr Billy Regale, Pax Kleiderschränke und Ektorp Sofas abgesetzt wie hier zu Lande.

Selbst die Autoindustrie der Schweden, die sich mittlerweile vor allem in chinesischer Hand befindet, kann auf Deutschland zählen. In der DDR hatte es Volvo sogar zur Staatslimousine für Erich Honecker und Co. geschafft, denn die Modelle 264 TE und später der 760 GLE wurden den heimischen Fabrikaten Wartburg und Trabi vorgezogen.

Pippi Langstrumpf © dpa

Vielleicht ist die psychologische Erklärung für den Schweden-Tick in der Literatur zu suchen, wo Astrid Lindgren in Deutschland ihre Spuren hinterlassen hat. Mit Pippi Langstrumpf schuf sie eine moderne Heldin, deren Bücher, Filme und Schallplatten bis heute gekauft, verschenkt und konsumiert werden. Für große Teile der Frauenbewegung war Pippi Langstrumpf mehr als eine Romanfigur. Unter Hinweis auf die selbstbewusste Göre aus der Villa Kunterbunt warb sie dafür, tradierte Rollenbilder hinter sich zu lassen: „Sei Pippi, nicht Annika!

Ich wünsche Ihnen einen tatkräftigen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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