Wohin driftet Europa?

Europa: Der impotente Kontinent

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Guten Morgen,

gute Politik beginnt mit dem Betrachten von Wirklichkeit, sagt jeder drittklassige Politiker. Im Umkehrschluss bedeutet das: Schlechte Politik beginnt mit dem Leugnen der Wirklichkeit.

Und genau in dieser Disziplin haben es die europäischen Staats- und Regierungschefs zur wahren Meisterschaft gebracht:

Emmanuel Macron © dpa

Der französische Präsident Emmanuel Macron trat gestern mit aufgeblasenen Backen vor die Europaabgeordneten, um mit feierlicher Stimme zu verkünden: Er strebe nach einer „neuen Sicherheits- und Stabilitätsordnung“ auf dem Kontinent, Europa sei die „Macht des Ausgleichs“ und damit die „Macht der Zukunft“.

Angela Merkel hatte in der Abendsonne ihrer Kanzlerschaft ebenfalls gern und zuletzt in einem bayerischen Bierzelt betont:

Wir Europäer müssen unser Schicksal in unsere eigene Hand nehmen.

Ursula von der Leyen © dpa

Auch Ursula von der Leyen ist eine eifrige Emittentin jenes Wortnebels, der in der Garküche ihrer PR-Experten vorproduziert wird:

Europa muss die Sprache der Macht lernen.

Doch diese Weltmachtfähigkeit Europas gibt es eben nur in den Redemanuskripten der Politiker. In Wahrheit ist Europa der Eunuch der Weltpolitik: Eine große Idee, geschmückt mit dem Dekor der beteiligten Kulturnationen, ist schwer gezeichnet von militärischer Impotenz. Europa will, aber kann nicht. Ohne seinen amerikanischen Vormund traut sich dieses europäische Neutrum kaum vor die Tür, ohne die Gefahr, verprügelt zu werden.

  • Als die Weltmächte in Genf bei Tische saßen – die amerikanische US-Vize-Außenministerin Wendy Sherman und Vis-à-vis der russische Vize-Außenminister Sergej Rjabkow – waren die Europäer fürs Catering zuständig. Schon die Bewachung ihrer Spitzenpolitiker übernahmen Amerikaner und Russen lieber selbst.

  • Die Aufgeregtheit der Europäer angesichts des Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze ist verständlich. Denn während die 100.000 russischen Soldaten weitere eine Million aktiver Soldaten in der Hinterhand haben, besteht das wirklich einsetzbare militärische NATO Personal in Europa insgesamt nur aus 100.000 Soldatinnen und Soldaten.

Selbst mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit ist es nicht weit her. Weil Europa das strategische Denken nicht beherrscht und gegenüber Russland sich in eine Freundschaft hinein geträumt hat, begab man sich in eine historisch einmalige Energieabhängigkeit:

43,9 Prozent aller Erdgase (2020) und 25,5 Prozent aller Erdöllieferungen (2020) in die europäische Union stammen aus Russland.

Wladimir Putin © dpa

Der Unterschied zwischen Russland und der EU könnte krasser kaum sein: Putin denkt in Einflusssphären, Europa in Gremien und Prozessen. Im Kreml wird entschieden, in Europa geredet. Putin will Macht, Europa seine Ruhe.

Der Mann aus Moskau – das beschreibt die wohl größte Differenz – besitzt Ambition, Europa hat vor allem Angst. Er will mehr als er heute hat. Europa dagegen ist eine nostalgisch gestimmte Status quo-Macht, die es sich unter dem atomaren Schutz der USA und dicht am Geldautomaten der EZB bequem gemacht hat. Putin macht Wirbel und Europa gönnt sich ein Jahrzehnte währendes machtpolitisches Nickerchen.

Es ist nicht falsch, was Ursula von der Leyen sagt: Europa muss die Sprache der Macht lernen. Doch bisher brabbelt das Baby nur.

Anthony Blinken © dpa

Womit wir bei US-Außenminister Antony Blinken wären. Der Demokrat landet an diesem Morgen für einen 10-stündigen Kurztrip auf dem Berliner Flughafen BER.

Im Gepäck hat er den klaren Wunsch an die deutschen Partner, die Samthandschuhe im Streit mit Russland auszuziehen und mit ihm gemeinsam die rustikale Version der internationalen Politik, also harte Sanktionen, zu entwickeln.

Meine Kollegen Marina Kormbaki und Michael Bröcker haben den vertraulichen Ablaufplan des Staatsbesuchs vorliegen. Sie schreiben, warum der deutsche Bundeskanzler den Termin mit Blinken überraschend auf 30 Minuten gekürzt hat, welche Botschaft von einem Vierer-Treffen mit Frankreich und Großbritannien im Auswärtigen Amt ausgehen soll und warum die einzige deutsche Journalistin, die Blinken interviewen wird, ihn nicht persönlich treffen will.

Hier geht es zu dem Text:

Blinkens Schulterschluss mit Berlin

30 Minuten mit Scholz, 120 mit Baerbock, eine Rede bei Gabriel. Alle Details zu Blinkens Besuch.

Artikel lesen

Veröffentlicht von Michael Bröcker Marina Kormbaki .

Artikel

Annalena Baerbock und Robert Habeck  © dpa

Der grüne Bundesvorstand muss sich nicht nur an seinen eigenen moralischen Vorstellungen, sondern auch an den in Deutschland geltenden Gesetzen messen lassen. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen den gesamten Bundesvorstand der Öko-Partei eingeleitet.

Der Hintergrund: 2020 hatte sich die Parteispitze einen Corona-Bonus in Höhe von 1500 Euro pro Kopf ausgezahlt; auch die beiden Noch-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck profitierten. Erst nach dem Auffliegen der Bonus Aktion und der darauf folgenden parteiinternen Kritik wurde dieser zurückgezahlt.

Jedoch besteht für die Justiz ein „Anfangsverdacht der Untreue zum Nachteil der eigenen Partei“. Denn diese wurde nicht befragt. Gegenstand der Ermittlungen ist demnach die Bewilligung des Corona-Bonus durch die Mitglieder des Bundesvorstands an sich selbst.

Wie die neuen Vorgaben zum Corona-Schutz Kliniken, Praxen und Pflegeheimen zu schaffen machen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

 © Imago

Die Situation an der ukrainischen Grenze bleibt weiter angespannt und somit auch ein Thema für die NATO. Doch welche Möglichkeiten und Optionen hat sie konkret? Und wie schätzt sie das Agieren Russlands ein? Über diese und weitere Fragen spreche ich im heutigen Morning Briefing Podcast mit Dr. Stefanie Babst.

Die promovierte Slawistin und Politikwissenschaftlerin ist eine ausgewiesene NATO-Expertin und Kennerin sowohl der Ukraine als auch Russlands. In beiden Ländern lehrte sie als Gastdozentin. 1998 wechselte sie in den Internationalen Stab der NATO, wo sie zur höchstrangigen Frau der NATO in Europa aufstieg.

Unter NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen baute sie einen Krisenvorausschau- und strategischen Planungsstab für die NATO auf, den sie bis Januar 2020 auch leitete. Das Zusammenziehen russischer Truppen an der ukrainischen Grenze beurteilt sie so:

Wir erleben das, was man im militärischen Jargon als Show of Force bezeichnet - also eine glaubwürdige militärische Machtdemonstration. Ziel von Putin ist es, politische Verhandler an den Tisch zu bekommen.

Zumindest militärisch sei Russland durchaus in der Lage, die Ukraine binnen kürzester Zeit zu besetzen:

Jenseits der 100.000 Mann hat Russland selbstverständlich die militärischen, operativen und technologischen Fähigkeiten, eine Großoffensive zu starten.

Jedoch gibt sie zu bedenken:

Auch militärische Planer in Russland werden wissen, dass die Einnahme eines Landes gegen den Willen ihrer Bevölkerung in einem blutigen Guerillakrieg enden kann. Und den möchte ganz sicherlich Moskau auch nicht.

Auf die Frage, ob die Europäer die Ukraine unterstützen würden, antwortet sie:

Weder theoretisch noch praktisch möchte sich irgendjemand in Europa an einer Verteidigung der Ukraine militärisch beteiligen. Die Ukraine ist kein Bündnismitglied. Wir können die Ukraine militärisch unterstützen. Einige unserer Bündnispartner tun das auch, wie beispielsweise Großbritannien. Aber niemand wird für die Ukraine ins Feld ziehen.

Olaf Scholz © dpa

Bundeskanzler Scholz deklariert Nord Stream 2 gerne als „privatwirtschaftliches Vorhaben”. Zu dieser Äußerung hat sie eine klare Meinung:

Zu sagen, das sei nur ein privatwirtschaftliches Instrument und eigentlich habe das mit dem Konflikt und mit Russland nichts zu tun: Sorry, aber das ist aus meiner Sicht kompletter Blödsinn.

Fazit: Hier spricht eine Frau, die Russland und die NATO genaustens kennt. Wer seine eigene Überzeugung einem Realitätscheck unterziehen möchte, ist in diesem Podcast richtig.

Zeiss: Extrem ultraviolettes Licht für neue Chips

Bei Werkzeugen zur Herstellung von Chips liegt Deutschland vorn – bei der Produktion leider nicht.

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Veröffentlicht in Tech Briefing Business Class Edition von Christoph KeeseLena Waltle.

Podcast mit der Laufzeit von

Jobportal StepStone © dpa

Nicht nur politisch, auch beruflich scheinen die Deutschen in Wechselstimmung zu sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Erhebung des Jobportals StepStone. Demnach gab es Mitte Januar 53 Prozent mehr Suchanfragen als im Tagesdurchschnitt des vergangenen Jahres. Zudem hat sich die Zahl derjenigen, die sich bei der Plattform anmelden, um automatisierte Jobvorschläge zu erhalten, innerhalb von zwölf Monaten verdoppelt.

Laut StepStone-Arbeitsmarktexperte Tobias Zimmermann würden zwei Ereignisse zusammenfallen, die die Zahl der Wechselwilligen in die Höhe treiben.

Zum einen wollen die Menschen die nun schon zwei Jahre andauernde Krise endlich hinter sich lassen und einen Neuanfang wagen.

Zum anderen sähen sie, dass aktuell viele Unternehmen auf der Suche nach neuen Mitarbeitern sind. Die Zahl der offenen Stellen bei StepStone lag Anfang Januar 97 Prozent über der vom Vorjahreszeitraum und 47 Prozent über Vorkrisenniveau.

Nur unsere frühere Bundeskanzlerin stemmt sich tapfer gegen den Trend. In einem Telefonat mit António Guterres lehnte sei ein Jobangebot ab. Konkret bot ihr der UN-Generalsekretär den Vorsitz in einem hochrangig besetzten Beratungsgremium an, das – so versuchte er, ihr den Job schmackhaft zu machen – der gesamten Weltbevölkerung dienen solle. Die Kanzlerin sagte artig danke – und dann nein: Uckermark jetzt, New York später.

Angela Merkel in der Uckermark © dpa

Das Comeback der Inflation lässt sich so schnell nicht stoppen. In einer neuen Studie rechnet das Ifo-Institut für Deutschland im Gesamtjahr 2022 mit einer Inflationsrate von 3,5 Prozent, ein noch mal um 0,3 Prozentpunkte höherer Wert als die EZB in ihrer bereits mehrfach nach oben korrigierten Prognose. Timo Wollmershäuser, Leiter der ifo Konjunkturprognosen, sagt:

Die Inflation wird im Verlauf dieses Jahres nur langsam zurückgehen.

Eine Infografik mit dem Titel: Globaler Anstieg

Jährliche Inflation seit 2016, in Prozent

Es wird immer deutlicher, dass die Unterstützer der Geldflutungspolitik bei der EZB und beim DIW keine wissenschaftlich saubere Arbeit geleistet haben, als sie wider alle Marktindikatoren eine nur geringe Inflation mit schnell rückläufiger Tendenz prognostizierten.

Eine Infografik mit dem Titel: EZB & DIW: Der Wirklichkeitsverlust

Inflationsrate im Euroraum und Prognosen der ifo und Marcel Fratzscher, in Prozent

Im Kommandostand des Euros wurde im letzten Sommer die Lage noch rosarot eingeschätzt. In ihrer Rede auf dem Petersberger Sommer Dialog meinte EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel noch:

Die mittelfristige Inflation dürfte unter dem Ziel des EZB-Rats bleiben.

Insgesamt sagte sie für 2021 eine Inflationsrate von 1,9 Prozent und in 2022 einen Rückgang auf 1,5 Prozent voraus.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) © dpa

Auch der ehemalige EZB Mitarbeiter und heutige Präsident des DIW Instituts Marcel Fratzscher, der sich lange Hoffnungen gemacht hatte, selbst in das Führungsgremium des EZB-Direktoriums einzuziehen, gefiel sich darin, Entwarnung zu geben. Am 2. Oktober 2021 postet er auf Twitter folgende Prognose:

Die #Inflation wird 2022 wohl wieder unter 2 % (Definition von Preisstabilität) sinken, und auch 2023 wohl fallen. Prognosen sind immer mit Unsicherheit behaftet, aber: eine zu schwache Inflation ist deutlich wahrscheinlicher als eine zu hohe Inflation.

Fazit: Das Motto „Follow the science“ ist klug, weil evidenzbasiert. Aber dann muss es sich auch tatsächlich um Wissenschaft handeln. Der Agenda-Wissenschaftler ist der große Bruder des Gesinnungsjournalisten. Deswegen zitieren sich beide am liebsten auch gegenseitig.

Dario Suter und Alev Doğan © DCM Film

Aus dem Stand schaffte es der Film „Spencer“, der drei Tage im Leben von Lady Di erzählt, auf Platz 1 der Arthouse-Kinocharts. Unsere Chefreporterin Alev Doğan hat die Film-Premiere im Berliner Kino International moderiert und dabei den Regisseur des Films Pablo Larraín und die US-Hauptdarstellerin Kristen Stewart interviewt.

Im Morning Briefing Podcast spricht sie über das Drehbuch, die Filmmusik und ihre persönlichen Eindrücke von dem Werk. Interessant: Aufgrund juristischer Bedenken, die vor allem auf der Prozessfreudigkeit des Buckingham-Palastes beruhen, wurde der Film größtenteils in Deutschland gedreht.

Zum Abschluss eine Meldung in eigener Sache: Die Chefredaktion von ThePioneer unter Führung von Michael Bröcker und seinem Stellvertreter Gordon Repinski wird erweitert. Franziska von Haaren, 32, bisher die Leiterin des Morning Briefing Teams, rückt in die Chefredaktion auf.

Die studierte Germanistin und Historikerin hat in den vergangenen anderthalb Jahren mitgeholfen, diesen Newsletter zur Nummer 1 für Entscheider in Politik, Wirtschaft und Kultur zu entwickelt. Zurzeit wird er von rund 500.000 Menschen jeden Morgen gelesen. Pro Woche kommen derzeit rund 1.000 neugierige Menschen – wie Sie einer sind – dazu.

Franziska von Haaren

Da Steingarts Morning Briefing demnächst als das ThePioneer Briefing fortgeführt wird – in einer kostenlosen Economy-Ausgabe und einer zu bezahlenden Business Class Edition – hat Franziska eine wichtige Managementfunktion. Die Texte, Grafiken und Rechercheergebnisse der wachsenden Pioneer-Redaktion mit ihren Schwerpunkten in der exklusiven Hauptstadt – und künftig auch Wirtschaftsberichterstattung gilt es in dieser neuen digitalen Tageszeitung „ThePioneer Briefing” journalistisch sinnvoll zu komponieren. Ich freue mich zusammen mit den Chefredakteuren sehr über diese Verstärkung:

Auf zu neuen Heldentaten, Franziska.

Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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