wir erleben das Verschwinden der Harmlosigkeit. Es gibt keine unschuldigen Entscheidungen mehr.
Der perfekte Wirtschaftspolitiker ist auf einmal für die Gesellschaft gefährlich, weil seine Kennziffern – Umsatz, Gewinn, Volksvermögen – und seine Sehnsüchte – weniger Steuern, schlanker Staat, Freiheit! – nicht so recht zum autoritären Imperativ der Virusbekämpfung passen wollen. Der Pandemie-Bekämpfer in seiner Absolutheit wiederum stellt eine Gefahr für den Wohlstand dar und bedroht mit seinem vorsätzlichen Angriff auf die Bürgerrechte die Zivilisiertheit der Zivilisation. Der Mensch könnte am Ende gesund und nackt dastehen, so wie im anderen Fall vermögend und tot.
© imagoMan dürfe nicht die Gesundheit gegen die Wirtschaft ausspielen, heißt es immer wieder. Doch die Wirklichkeit hält sich nicht an derartige Belehrungen. Sie zwingt genau zu dieser Ausspielung, die wir im politischen Alltag eine Interessenabwägung nennen. Der Gegenspieler wohnt diesmal nicht links und nicht rechts, sondern in uns selbst. Wir verfolgen zwei Ziele, die im Moment nicht auf einem Weg zu erreichen sind. Überall Sackgassen, Schlaglöcher, Abbruchkanten. Auch die Kanzlerin tappt im Dunkeln: Sie sei kein „Zukunfts-Vorherseher“, sagte Merkel gestern im Bundestag.
© dpaDie obersten Autoritäten des Staates strahlen in diesen Tagen ebenfalls eine würdevolle Verwirrtheit aus. Wer den Satz des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle aus der heutigen „Zeit“ zweimal liest, der spürt, wie die Ambivalenz selbst diesen klugen Mann in Beugehaft genommen hat:
Der Höchstwert der Verfassung ist die Menschenwürde, die ist unantastbar, alle anderen Grundrechte sind einschränkbar, auch das Recht auf Leben.
Wie bitte? Als gäbe es eine Menschenwürde ohne Menschenleben. Oder anders gesagt: Wer das Leben des Nächsten antastet, der berührt unweigerlich auch dessen Würde. Hier sind sich erkennbar zwei Gedanken in die Quere gekommen: Willkommen im Zeitalter der Überforderung.
Wer den Auftritt der Bundeskanzlerin vor den Parlamentariern verfolgte, konnte das Wechselspiel von Macht und Ohnmacht beobachten. Sie würde gern schneller öffnen. Aber sie darf nicht. Sie würde gern konsequenter das Virus bekämpfen. Aber auch das ist ihr versagt.
Die Reichweite ihrer Politik wird durch den Wirtschaftskollaps einerseits und das Infektionsgeschehen andererseits limitiert, auch wenn sie anfangs gehofft hatte, es wäre umgekehrt. „Was kann als Kompass dienen?“, fragte Hans Jonas in seinem „Prinzip Verantwortung“ und gab uns folgende Antwort:
Die vorausgedachte Gefahr selbst! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft werden die ethischen Pflichten entdeckbar, aus denen sich neue Macht herleiten lässt. Wir wissen erst, was auf dem Spiel steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiel steht.
Damit ist in unserem Fall beides gemeint. Es steht die Gesundheit der Gesellschaft auf dem Spiel sowie unser wirtschaftliches Wohlergehen. So gesehen ist der Politikertypus einer Angela Merkel, der nichts riskiert, also auch nicht unser Leben, der kein anderes Ideal verfolgt als das, dem Irrlicht auszuweichen, für diese historische Situation wie geschaffen. Ihre Verteidigung der Normalität gegen die Zumutung einer Zukunft, die plötzlich nach Krankenhaus und Krematorium riecht, erscheint im trüben Licht dieser Tage schon als kühne Vision.
Der politische Populismus aber, dessen wichtigste Fingerfertigkeit in der Zuspitzung besteht, kann der Gesellschaft in dieser Situation keinen Dienst erweisen. Das Instrument des Augenblicks ist nicht die Fackel oder das Megafon, sondern die Waage. Merkel hält sie fest in der Hand.
Über den komplizierten Charakter dieser Abwägungsarbeit – hier die Gesundheit und dort das wirtschaftliche Wohlergehen – macht sie sich und uns keine Illusionen. „Wir haben die Chance, es gut zu bewältigen“, sagte Merkel gestern. „Aber“, fügte sie sogleich relativierend hinzu, „ich sage nicht, dass niemand etwas merken wird.“ Nein, sie plane keine Steuererhöhung „zum jetzigen Zeitpunkt“. Aber für die Zukunft könne sie nichts ausschließen.
Man kann dieser Kanzlerin beim Austarieren regelrecht zuschauen. Ihre Corona-Politik ist tastend, und dadurch durchschaubar und lauter. Die Grabinschrift der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann charakterisiert auch die Spätphase dieser Kanzlerin: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums hat vor einigen Tagen ein 80-seitiges Papier zu den Folgen der Corona-Krise veröffentlicht. Stephan Kohn heißt der Mann, er bekleidete das Amt eines Oberregierungsrats, zuständig für „kritische Infrastrukturen“, also auch den medizinischen Komplex in Deutschland. In seinem Papier heißt es:
Bei der Versorgung von (in DEU insgesamt 3,5 Mio. Menschen) sinkt aufgrund von staatlich verfügten Beschränkungen das Versorgungsniveau und die Versorgungsqualität (in Pflegeeinrichtungen, bei ambulanten Pflegediensten sowie bei privat / innerfamiliär durchgeführter Pflege). Da erwiesenermaßen das gute Pflegeniveau in DEU viele Menschen vor dem vorzeitigen Versterben bewahrt (das ist der Grund dafür, dass dafür so viel Geld aufgewendet wird), wird die im März und April 2020 erzwungene Niveauabsenkung vorzeitige Todesfällen ausgelöst haben.
Bei 3,5 Mio. Pflegebedürftigen würde eine zusätzliche Todesrate von einem zehntel Prozent zusätzliche 3.500 Tote ausmachen. Ob es mehr oder weniger seien, könne mangels genauerer Schätzungen nicht gesagt werden.
Explizit wird vor den gesundheitlichen Kollateralschäden der Pandemie-Bekämpfung gewarnt. Dort heißt es, dass bis zu 125.000 Patienten aufgrund von verschobenen Operationen in diesem Jahr sterben könnten. Die Intensivstationen und Operationssäle würden für den befürchteten Corona-Ansturm freigehalten, der bisher nicht erfolgte.
Der Autor des Papiers wurde unverzüglich vom Dienst suspendiert. Als Kronzeugen benennt er den Pathologen Prof. Peter Schirmacher, Mitglied der Leopoldina-Akademie. Was also ist dran an diesen Zahlen und Zuständen, die der Beamte beschrieb oder auch nur vermutete? Das wollte ich vom Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt wissen. Seine Antwort:
Ich glaube, das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner ernsthaft beantworten. Aber diese Frage grundsätzlich zu stellen, halte ich für angemessen. Was wir tun im Rahmen der Maßnahmen, ist ja erheblich. Auch in Bezug auf die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung und der übrigen zahlreichen Erkrankungen, die auch einer Behandlung bedürfen.
Über die Situationen in den Kliniken und die Auslastung sagt er:
Wir haben deutliche Berichte dazu empfangen, dass es einen erheblichen Rückgang bei der Behandlung der übrigen Erkrankungen gibt und die Beobachtung, dass man zum Beispiel in den Notambulanzen der Berliner Kliniken deutlich weniger Schlaganfälle und Herzinfarkte gesehen hat in den letzten Wochen.
Er regt eine wissenschaftlich fundierte Erhebung zu diesem Sachverhalt an:
Es gibt keine Erhebungen meines Wissens darüber. Die könnte man aber anstellen, wenn man zum Beispiel Abrechnungszahlen gegenüber den Krankenkassen sich anschaut, es wird ja diagnosebezogen abgerechnet. Insofern könnte man auf dieser Basis durchaus recherchieren, ob jetzt die tatsächliche Zahl der behandelten Infarkte oder Schlaganfälle zurückgegangen ist.
Fazit: Der Mann aus dem Innenministerium hat ohne echte Belege Ängste verbreitet. Doch die Fragen, die er aufwirft, sind dennoch relevant. Den Mann kann man suspendieren, die Fragezeichen nicht.
Der Podcast-Zyklus „Der achte Tag“ will Orientierung bieten und Sinn stiften. Menschen mit verschiedensten Lebenserfahrungen und Zukunftsvisionen kommen zu Wort. In der neuen Folge spricht Dr. Simone Bagel-Trah zu uns. Sie ist gelernte Biologin, Aufsichtsratsvorsitzende des Henkel-Konzerns und die Ur-Ur-Enkelin des Firmengründers.
© Marco UrbanAm Rheinufer in Düsseldorf hat uns Simone Bagel-Trah auf dem Redaktionsschiff Pioneer One besucht. Wir haben – anhand von drei Sachbüchern – darüber gesprochen, wie sich die Herausforderungen unserer Zeit, als da wären Klimakrise, Digitalisierung und Pandemie-Bekämpfung, mit Zuversicht und dem Mut zu neuem Denken bewerkstelligen lassen:
Wir müssen als Familienunternehmen über Generationen im Spiel bleiben. Wir haben es uns von unseren Kindern geliehen und geben es in der Form, möglichst besser sogar, an die nächste Generation weiter.
Für Sie bietet die derzeitige Krise viele Chancen zu einem neuen globalen Miteinander:
Corona bietet eine Chance, Dinge nun anders zu betrachten, einen Perspektivenwechsel einzunehmen, intensiver über sich, sein Leben, seine Arbeit und die Welt insgesamt nachzudenken.
Prädikat: authentisch und daher hörenswert.
Die Liberalen sind verzweifelt und suchen etwas ganz Essenzielles, nämlich sich selbst. Als Oppositionspartei ist die FDP in der Defensive: Schlechte Umfragewerte um die fünf Prozent, ein dünnhäutiger Parteichef, gestern gab es außerdem noch eine außerordentliche Vorstandssitzung zum Thema Thomas Kemmerich. Der Fraktionschef in Thüringen hat seiner Partei als von der AfD mitgewählter Kurzzeit-Ministerpräsident viel Ärger gemacht. Gestern wurde er auf stumm gestellt.
Mein Kollege Michael Bröcker hat im Anschluss an die Sitzung Michael Theurer angerufen. Dieser ist nicht nur FDP-Chef in Baden-Württemberg, sondern auch Vize-Vorsitzender seiner Fraktion im Deutschen Bundestag – und damit Stellvertreter von Christian Lindner. Über die Sondersitzung der Parteispitze sagt er:
Ich gehe davon aus, dass Thomas Kemmerich jetzt in sich geht und die wahlkampfführenden Landesverbände in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt dadurch ihre Chancen bei den Landtagswahlen auch entsprechend nutzen können.
Dass Kemmerich erneut Auslöser einer Krisensitzung war, steht auch Parteichef Christian Lindner nicht gut zu Gesicht. Stichwort Durchsetzungskraft. Theurer sagt:
Ich stütze Christian Lindner, Hans-Dietrich Genscher sagte ja; Vorsitzende stürzt man oder stützt man. Ich habe alles dazu gesagt. Ich habe vollstes Vertrauen zu Christian Lindner.
Darüber, dass die Liberalen aus den Zeiten eingeschränkter Grundrechte bislang keinen politischen Profit schlagen, sagt er:
Wir dringen mit den Themen noch nicht ganz so durch, wie wir uns das wünschen. Wir haben einen Zeitgeist, der ist eher staatsinterventionistisch. Umso wichtiger, dass die FDP klar profiliert auftritt.
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► Der Fachkräftemangel in den Kitas ist seit Jahren ein Problem. Die NRW-Landesregierung will nun junge Leute vom Bundesfreiwilligendienst und aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr als Hilfs-Erzieher rekrutieren.
► Nirgendwo lassen sich Abstandsregeln schlechter durchsetzen als in einem Flugzeug. Die Politik ringt mit den Vorgaben für Airlines und zeigt sich überraschend nachgiebig.
Lockdown für die Schausteller des politischen Gewerbes: Der Beschluss der ARD-Verantwortlichen, Sandra Maischberger, Anne Will und Frank Plasberg in eine zweimonatige Sommerpause zu schicken, macht viele Politiker heimatlos.
Eine Infografik mit dem Titel: Talkshow-Hitparade
Deutsche Politiker nach Anzahl der Auftritte in den Polit-Talkshows von ARD und ZDF* seit Januar 2020
So wie andere Menschen in den Ferienwochen ihren Stammplatz am Swimmingpool einnehmen, liegen die Handtücher von Peter Altmaier, Olaf Scholz, Karl Lauterbach, und Franziska Giffey ganzjährig in den TV-Studios. Plötzlich herrscht Badeverbot.
Erstens. Der Bundestag will ab 9 Uhr weitere Hilfsmaßnahmen beschließen. Ein Paket von Gesundheitsminister Jens Spahn sieht eine erneute Ausweitung von Corona-Tests vor, um vor allem Pflegekräfte und Pflegebedürftige besser zu schützen. Ein Paket von Arbeitsminister Hubertus Heil will eine befristete Erhöhung des Kurzarbeitergelds plus längere Bezugsdauer durchsetzen.
Zweitens. Bund, Länder und Kommunen müssen wegen der Corona-Pandemie mit deutlich weniger Steuergeld auskommen. Wie heftig es wird, sagen um 15 Uhr die Steuerschätzer voraus.
Drittens. Der Europäische Gerichtshof urteilt ab 9.30 Uhr darüber, ob die dauerhafte Unterbringung von Asylbewerbern in dem ungarischen Container-Lager Röszke gegen EU-Recht verstößt.
Viertens. Der Energiekonzern RWE legt Geschäftszahlen für das erste Quartal vor. Die deutschen Versorger sind trotz des zurückgegangenen Stromverbrauchs bislang weitgehend unbeschadet durch die Corona-Krise gekommen.
Fünftens. Bei einer Videoschalte wollen die Vertreter der 36 Profivereine heute auf der Mitgliederversammlung der Deutschen Fußball Liga die letzten Details für die Saison-Fortsetzung in der 1. und 2. Bundesliga klären. Dabei wird es auch um Szenarien im Falle eines möglichen Saisonabbruchs gehen. Die gute Nachricht: Der Ball rollt. Die schlechte: Niemand weiß wie lange.
Ich möchte Sie zum Dialog mit dem Team der Pioneer One einladen – und zwar per Livestream auf unserer Facebook-Seite. Um 10 Uhr werde ich mit meiner Kollegin Alev Doğan Ihre Fragen zu unserem ThePioneer-Projekt beantworten. Schauen Sie auf der Facebook-Seite vorbei: Wir freuen uns auf Sie.
Der heutige Donnerstag ist Tag vier auf der Pioneer One. Mit 213 Kilometern haben wir gestern die längste Etappe unserer Überfahrt Richtung Berlin absolviert – Zeit für Interviews und stille Recherche.
© Marco Urban © Marco Urban © Marco Urban © Marco Urban © Marco UrbanAktuell liegen wir in Hannover im Nordhafen – in freudiger Erwartung der niedersächsischen Prominenz. Wir erwarten Sigmar Gabriel, den Hannoveraner Oberbürgermeister, den Wirtschaftsminister und den Sänger der Scorpions. Mehr darüber im morgigen Morning Briefing und vorher schon auf ThePioneer.de.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr