Nachhilfestunde mit Anne Will: Gestern Abend in der ARD-Talkshow gleichen Namens wurde deutlich, wofür Angela Merkel sich in der vergangenen Woche bei den Deutschen entschuldigt hatte. Und wofür nicht.
Die Entschuldigung galt einer juristisch schlecht vorbereiteten und politisch nicht umsetzbaren Osterruhe. Aber sie war definitiv nicht zu verstehen als Absage an ihre bisherige Politik der Härte. Im Gegenteil. Merkel wich einen taktischen Schritt zurück, um bald schon im frischen Galopp zwei nach vorne nehmen zu können.
© dpaDadurch, dass Anne Will nicht gegen die Kanzlerin fragte, sondern mit ihr, erlebten wir, wie der Panzer der staatsmännischen Versteifung sich öffnete. Wir blickten in das Innere einer Regierungschefin, die ernsthaft besorgt ist und weniger als nichts von den derzeitigen Lockerungsübungen hält, wie sie von den Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und im Zuständigkeitsbereich des Regierenden Bürgermeisters von Berlin unternommen werden.
Einige Länder seien „sich offenbar der Ernsthaftigkeit der Situation nicht bewusst“, tadelte Merkel. Laschet verstoße gegen die verabredete Notbremse – aber er sei nicht der einzige. Merkel machte deutlich, dass sie diese politischen Manöver für opportunistisch, aber nicht für sachdienlich hält:
Testen und bummeln ist nicht die richtige Antwort.
Und:
© dpaÖffnen ist jetzt nicht das Gebot der Stunde.
Mehrfach machte Merkel deutlich, dass sie zum äußersten entschlossen ist, diese dritte Welle, die sie gar nicht für eine dritte Welle, sondern für eine „neue Pandemie“ hält, zu brechen. Denn mittlerweile definiere die Corona-Mutation mit ihrer verschärften Infektionsgefahr und ihrer erhöhten Tödlichkeit das Geschehen.
Merkel:
Ich werde jetzt nicht 14 Tage lang tatenlos zu sehen.
Wer erwartet hatte, dass die Kanzlerin den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler mit seiner Horrorprognose von 100.000 Infizierten pro Tag zurückweisen würde, der sah sich getäuscht. Sie wies all jene zurück, die diese Prognose nicht ernst nehmen und machte deutlich, an wessen Seite sie steht:
Ich werde nicht zuschauen, bis wir 100.000 Infizierte pro Tag haben.
Mit großer Selbstverständlichkeit nahm Angela Merkel all jene Instrumente in die Hand, die Anne Will ihr anreichte. Kein Zurückzucken nirgends. Schulschließungen, wenn nötig, unbedingt. Das erneute Verdunkeln von Stadien und Kulturbetrieben und schließlich auch die von Militär und Polizei überwachte nächtliche Ausgangssperre: Nichts wurde angekündigt und nichts ausgeschlossen. Merkel, das war zu spüren, will jetzt nicht beliebt, sondern sie will erfolgreich sein. Es geht nicht darum die SPD zu bezwingen, sondern das Virus.
© dpaFazit: Kommunikativ hat die Kanzlerin ihr Ziel einer erhöhten Nachdenklichkeit gestern Abend erreicht. Wer will schon zum zweiten Mal Kassandra überhören. Womöglich passen unsere freiheitlichen Gefühle derzeit nicht zur Lage. Oder um es mit Friedrich Schiller in seinem Gedicht Kassandra zu sagen:
„Zukunft hast du mir gegeben,
doch du nahmst den Augenblick.“
© imagoAls es um die Impfstoffversorgung ging, handelte Deutschland europäisch und Europa handelte naiv. Die Geschichte hinter der Geschichte dieser Pandemie erzählt vom Machtpoker der großen Wirtschaftsmächte, den Europa deshalb nicht gewinnen konnte, weil es die Machtfrage gar nicht als solche erkannte. Die von Ursula von der Leyen geführte Kommission war die Pazifistin im Kreise der Bellizisten Trump, Johnson und Netanjahu.
Der Impfstoff von BioNTech wurde in Deutschland entwickelt und das Unternehmen mit 375 Millionen Euro aus dem COVID-19-Sonderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, um die Entwicklung des Impfstoffs zu beschleunigen. Deutschland versäumte es, diese Subventionen an eine Bevorzugung bei der Impfstoff-Vergabe zu knüpfen.
Zudem ist BioNTech eine Kooperation mit Pfizer eingegangen – einem US-Unternehmen. Diese Kooperation hat zur Folge, dass wichtige Produktionskapazitäten auch bei Pfizer in den USA liegen. Dank einer Verordnung des früheren Präsidenten Donald Trump müssen Hersteller in den USA in erster Linie das eigene Land beliefern. An dieser Regelung hält auch Nachfolger Joe Biden weiterhin fest. Die USA exportieren bislang keinen Impfstoff. Erst wenn die Lieferverträge mit der US-Regierung erfüllt sind, dürften US-Hersteller exportieren. Das Ergebnis: In den USA sind 28,2 Prozent der Bevölkerung bereits mit mindestens einer Dosis geimpft, 20 Prozent bereits zweimal.
Anderes Land, gleiches Denken. Bewusst hat man sich in Großbritannien nicht auf den amerikanischen Freund verlassen. Der an der Universität Oxford entwickelte Impfstoff „Oxford-AstraZeneca“, wie die Briten das Vakzin mit Vermerk auf ihre berühmte Universitätsstadt nennen, wäre fast „Oxford-Merck“ geworden, wie „Sky News“ berichtet. Demnach bestanden bereits Verhandlungen mit dem amerikanischen Pharmakonzern, doch aus Angst vor Donald Trumps „America First“-Politik entschied man sich für die schwedisch-britische Firma AstraZeneca. Laut Sky ist Gesundheitsminister Matt Hancock eingeschritten:
© dpaDie britische Regierung war besorgt, dass Präsident Trump verhindern würde, dass Impfstoffe von Merck das Land verlassen.
Während die Briten seit der Zulassung fleißig mit dem Impfstoff von AstraZeneca impfen, konnte der britisch-schwedische Konzern im ersten Quartal nur einen Bruchteil der vertraglich vereinbarten Menge an die EU liefern. Denn laut dem britischen Gesundheitsminister hat sich das Vereinigte Königreich eine bevorzugte Behandlung vertraglich zusichern lassen. Ergebnis: 45,2 Prozent aller Briten haben mindestens eine Impfdosis erhalten, 11,7 Prozent sind zweimal geimpft.
Die EU hingegen habe sich vertraglich lediglich „beste Bemühungen“ (Englisch: „They have a ‚best efforts‛ contract and we have an exclusivity deal“) seitens des Impfstoffherstellers zusichern lassen. Der „Financial Times“ sagte Hancock nicht ohne Stolz:
Unser Vertrag übertrumpft deren. Das nennt sich Vertragsrecht und ist eindeutig.
Eine Infografik mit dem Titel: Exportweltmeister Europa
Aus der EU exportierte und in der EU verbliebene Impfdosen vom 1. Dezember 2020 bis zum 25. März 2021
Insgesamt ist die Europäische Union der einzige Wirtschaftsraum unter den OECD-Ländern, der weiterhin Impfstoff im großen Maßstab in andere Länder exportiert. 77 Millionen Dosen wurden vom 1. Dezember 2020 bis zum 25. März 2021 ausgeführt; 88 Millionen Dosen verblieben innerhalb der EU, das ergibt eine Exportquote von rund 47 Prozent. Mit dem Ergebnis: Deutschland erreicht nur eine Impfquote von 10,3 Prozent der Bevölkerung, Erstgeimpfte wohlgemerkt. Zwei Impfungen haben in Deutschland bisher nur 4,5 Prozent erhalten.
Der Rest der Welt greift dankbar zu: Laut den Daten der Europäischen Kommission wurden bisher 33 Nicht-EU-Staaten aus der Europäischen Union beliefert, darunter China, die Türkei, die USA und Großbritannien.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kann in alledem kein Versäumnis erkennen. Sie ist gern Impf-Pazifistin:
Die EU ist stolz darauf, Impfstoffhersteller zu beherbergen, die nicht nur die Bürgerinnen und Bürger der EU beliefern, sondern auch weltweit exportieren.
Die Lage sei besser als die Stimmung, meint zumindest Gesundheitsminister Jens Spahn. Im Gespräch mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker für den Hauptstadt-Podcast-Spezial (den wir heute Morgen in Auszügen auch im Morning Briefing Podcast senden) stellte er sich unter anderem folgenden Fragen:
Ihr Kollege Ralph Brinkhaus hat neulich gesagt: ‚Das Gift der Wut sickert inzwischen in diesem Land‛. Viel Aufruhr und Sie stehen schon im Mittelpunkt dieser Kritik. Zu Recht oder völlig zu Unrecht?
Meine Kinder sind auf der Schule und haben noch keinen Test gesehen. Finden Sie das ist eine erfolgreiche Test-Strategie?
Was ist denn jetzt Ihr zentrales Learning aus der Pandemie ein Jahr danach? Den Mund nicht zu voll nehmen?
War es ein Fehler, der EU die Impfstoffbeschaffung zu überlassen?
Ein Spenden-Dinner in Leipzig und der Kauf einer Villa in Berlin: Hat Sie der politische Instinkt verlassen?
Der Minister beantwortet diese Fragen mit einer Mischung aus Demut und Angriffslust. Er mahnt die Medien und die deutsche Öffentlichkeit, auch das zu sehen, was gelingt:
© Anne HufnaglWas mich wirklich in den letzten Wochen umtreibt, ist, dass dieses Land sich selbst immer weiter in so eine ‚Wir haben alles völlig versemmelt‛-Spirale reinredet.
Zu den juristischen Entscheidungen, die es dem „Tagesspiegel“ ermöglichten, den Kaufpreis der Spahn-Villa zu veröffentlichen, sagt er:
Das muss ich akzeptieren als Bundespolitiker und ich akzeptiere es ja nun. Auch wenn es mir ehrlicherweise schwerfällt, weil ich finde, es gibt auch für einen Bundespolitiker noch ein kleines bisschen Privatsphäre.
Die gesamte Diskussion zwischen ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker und dem Gesundheitsminister finden Sie im Hauptstadt-Podcast-Spezial auf ThePioneer.de. Prädikat: streitbar.
Die Krise als Chance? Für viele ist das eine leere Floskel, aber nicht für Stephen Schwarzman. Der Multimilliardär aus Philadelphia, einst Investmentbanker bei Lehman Brothers, dann Gründer und bis heute Chef der Investmentgesellschaft Blackstone Group, weiß, wie man aus Geld mehr Geld und aus mehr Geld sehr viel mehr Geld macht. Der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering meinte Schwarzman und seine Firma, als er einst von „Heuschrecken“ sprach.
Stephen Schwarzman ist heute 74 Jahre alt und immer noch hyperaktiv – als Buchautor („What it takes!“) und Investor. Mehr als eine halbe Billion US-Dollar – also ungefähr die Größe des Corona-Haushalts von Olaf Scholz – haben er und seine über 2.000 Mitarbeiter überall auf der Welt investiert. In fünf Jahren soll das „investment under management” auf eine Billion US-Dollar angewachsen sein. Der Mann hat ehrgeizige Ziele und – spätestens da wird es für uns interessant – er sieht diese Pandemie nicht nur als Tragödie, sondern als Gelegenheit. Einer wie Schwarzman lebt davon, dass er nicht traurig, nicht verzagt, nicht kleinmütig ist.
Für den Morning Briefing Podcast habe ich mich mit ihm unterhalten. Er sagt zu den Perspektiven der US-Wirtschaft in 2021:
Die USA werden sich aufgrund der großen Menge an Impfstoffen, die verteilt wurden, sehr schnell erholen.
Wir rechnen für 2021 mit einem Wachstum von ungefähr acht Prozent.
Eine Infografik mit dem Titel: Rasante Erholung
Jährliches Wirtschaftswachstum der USA seit 2010, in Prozent
Die Geldflutungspolitik sieht er nicht nur positiv. Er teilt die Sorgen der Deutschen vor einer größeren Inflationswelle:
Wir werden sicherlich eine höhere Inflation haben als im letzten Jahrzehnt und wir müssen uns mit diesen Problemen befassen.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Krise als Chance
Kursentwicklung des Dow Jones seit März 2020, in Punkten
Die Lage am heutigen Morgen:
Die deutschen Gesundheitsämter haben dem RKI in den vergangenen 24 Stunden 9872 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Zudem wurden 43 weitere Todesfälle registriert.
Die bundesweite 7-Tage-Inzidenz ist mittlerweile von 107,3 vor einer Woche auf aktuell 134,4 gestiegen.
Laut Jens Spahn soll ab Mitte April auch das Vakzin der Firma Johnson&Johnson in Deutschland verimpft werden.
Das Bundesverfassungsgericht teilte mit, dass Bundespräsident Steinmeier das Ratifizierungsgesetz zum Corona-Wiederaufbaufonds nicht unterzeichnen darf. Es wurde eine Verfassungsbeschwerde von rund 2000 Bürgern eingereicht, die die Ansicht vertreten, dass die EU keine Kredite aufnehmen sollte und die Sorge teilten, dass die Rückzahlung der Kredite schließlich den finanzstarken Ländern überlassen werden könnte.
Karl Lauterbach (SPD) fordert eine bundesweite nächtliche Ausgangssperre im Zuge der steigenden Corona-Fallzahlen. Er sagt:
Ich sehe keinen anderen Weg, als hier mit einer Ausgangssperre ab 20 Uhr zu arbeiten, zumindest für zwei Wochen.
© dpaKeine Öffnungen, keine Modellprojekte. Wir brauchen jetzt nicht Jugend forscht.
Der Kanzleramtschef Helge Braun ist der Ansicht, dass Reisen ab August wieder möglich sein werden, wenn sich die Infektionslage in den kommenden Wochen verbessert.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller gab bekannt, dass bereits angelaufene Modellprojekte für Kunst, Kultur und Sport mit Zuschauern in Berlin wegen der weiter steigenden Inzidenz unverzüglich gestoppt werden.
Ganz Frankreich wird als Hochrisikogebiet eingestuft. Momentan liegt die Zahl der Neuinfektionen hier bei über 300.
Nach fast einer Woche geht es im Suez-Kanal wieder voran. Die „Ever Given“ wurde erfolgreich aus ihrer Blockadehaltung befreit. Die Lieferverspätungen von Alltagsprodukten für Verbraucher weltweit dürften sich damit in Grenzen halten.
© imagoAuch die rumänischen Frachter mit insgesamt knapp 130.000 lebenden Schafen an Bord, die zum Großteil nach Jordanien verschifft werden sollen, finden sich offensichtlich wieder auf froher Fahrt.
Ärger bei den Berliner Grünen. Sechs Monate vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus leistet sich die Ökopartei einen bizarren Streit um die politische Korrektheit von Kindheitsträumen.
Während der Landesdelegiertenkonferenz wurde Spitzenkandidatin Bettina Jarasch gefragt, was sie früher werden wollte, bevor sie den Wunsch hatte, Regierungschefin Berlins zu werden. „Indianerhäuptling“ antwortete die Bürgermeisterkandidatin. Eine Äußerung, die für Irritationen in der Partei sorgte: Der Begriff „Indianer“ gilt vielen bei den Grünen als rassistisch konnotiert und diskriminierend. Politisch korrekt hätte die Frau als Kind von „Native Americans“ träumen müssen.
© dpaDie Reaktionen der Parteifreunde zwangen Jarasch zur öffentlich zelebrierten Selbstkritik. Sie spricht nun von einer „unreflektierten Kindheitserinnerung”.
Thema erledigt – könnte man meinen. Doch der Grünenbasis war das nicht genug. Mittlerweile wurde auch die entsprechende Stelle aus dem Video der Delegiertenkonferenz zensiert. Der Indianerhäuptling wurde herausgeschnitten.
So musste denn Winnetou, der stolze Häuptling der Apachen, zum zweiten Mal sterben. Beim ersten Mal töteten ihn die Weißen, nun ließen ihn die Grünen verschwinden. Oder wie Karl Marx gesagt hat: „Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, dann nur als Farce.“
Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr