Merz und das unmoralische Angebot

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Guten Morgen,

unter der Parteienlandschaft brodelt es. Nach der Niederlage auf dem CDU-Parteitag hat das Team Christian Lindner dem gescheiterten CDU-Bewerber Friedrich Merz sowohl ein Parteibuch als auch einen führenden Posten in der FDP angeboten. Mit einem wirtschaftsliberalen Profil in der Tradition von Erich Mende und Otto Graf Lambsdorff, so das Kalkül, würden sich die Liberalen wieder ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen und den Wiedereinzug in den Bundestag absichern.

Doch Friedrich Merz hat fürs Erste abgelehnt. In einem Schreiben an seine Unterstützer, das gestern Abend nach 21 Uhr unter der Betreffzeile „#MerzMail: Ich mache weiter“ verschickt wurde, sichert er Armin Laschet Gefolgschaft zu und wirbt sogar leicht gönnerhaft dafür, ihm jetzt – bei der schriftlichen Bestätigung des Parteitagsresultats – ein besseres Ergebnis zu verschaffen.

Wählen Sie Armin Laschet, damit er mit einem guten Ergebnis seine Arbeit aufnehmen kann.

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Merz verspricht:

Trotz aller Aufforderungen und Angebote, jetzt einen unserer politischen Mitbewerber zu unterstützen oder gar dort einzutreten: Ich bleibe in der CDU.

Damit erhöht Merz zugleich den Druck auf Laschet und Markus Söder, ihn – entgegen den bisherigen Planungen – doch noch in ein Schattenkabinett einzubauen. Doch auch der Widerwillen, dieses zu tun, steigt. Die Neigung im Laschet-Lager, sich vom unterlegenen Rivalen die Bedingungen diktieren zu lassen, ist nur gering ausgeprägt. Die momentane Strategie für den Umgang mit Merz lässt sich in zwei Worten zusammen fassen: Abwarten und Aussitzen.

Doch so schnell dürfte ein Friedrich Merz keine Ruhe geben. Sein Stolz wurde verletzt. Seine Gefolgschaft ist zum Kampf bereit. Er lauert – wie nach der AKK-Wahl – auf die Anfangsfehler des neuen Parteichefs. Er ist der große Untote der CDU.

Nicht nur Viren können Mutanten bilden, auch unser Wirtschaftssystem neigt zum Polymorphismus. Was als freie Marktwirtschaft der Ölbarone und Stahlmagnaten begann und sich in unserem deutschen Grundgesetz in der gezähmten Variante als Soziale Marktwirtschaft findet, hat sich im Zeitalter der Digitalisierung zum Überwachungskapitalismus weiterentwickelt. Dieser „Surveillance Capitalism”, wie die Amerikaner ihn nennen, passt sich perfekt an seine jeweilige Umwelt an, weshalb wir weltweit zwei Mutanten zu besichtigen haben.

Da ist zum einen der staatlich gewollte und vom Politbüro der kommunistischen Partei geführte Überwachungskapitalismus der Volksrepublik China. Ihn erkennen wir an folgenden drei Merkmalen:

1. Alle Bahnhofspolizisten tragen Internet fähige Brillen, an denen winzige Kameras montiert sind, die der Gesichtserkennung dienen, was die Reisenden jedoch nicht mitbekommen.

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2. In China gibt es mittlerweile über 600 Millionen Überwachungskameras, was bedeutet, dass es pro 1000 Einwohner mehr als 100 Kameras gibt und 500 Meter Straße mit durchschnittlich 60 Kameras versehen sind.

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3. In der Coronapandemie werden die Bürger mit einer zusätzlichen Gesundheits-App, die jeder verpflichtend auf seinem Handy installieren muss, überwacht. Vor Supermärkten, Bars oder Krankenhäusern muss jeder einen QR-Code mit seinem Smartphone scannen. Zutritt bekommt nur, wer einen grünen Schriftzug auf seinem Display vorweisen und damit belegen kann, dass er weder Covid-19 hat noch aufgrund seiner Bewegungsabläufe der letzten 14 Tage Verdachtsfall ist. Um die Quarantäne-Verordnungen zu überwachen, zwang der Staat Menschen in einigen Fällen, Webcams in ihren Wohnungen und vor ihren Haustüren zu installieren.

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Und da ist die westliche Spielart, die in den Laboren von Google, Amazon und Facebook gezüchtet wurde und die sich weniger für den Staatsbürger als für den Konsumenten interessiert. Die neueste Netflix-Produktion „The Social Dilemma“ lässt eine beeindruckende Phalanx von Technologieexperten aufmarschieren, die das Geschäftsmodell der großen Plattformunternehmen als gleichermaßen kluge wie hinterhältige Manipulationsmaschine enttarnen.

Die beiden EU-Kommissarinnen Margrethe Vestager und Vera Jourova haben unabhängig voneinander begonnen, sich für dieses Phänomen zu interessieren. Vestager kümmert sich um die Machtkonzentration. Jourova um die unethische Programmierung: „Die großen Plattformen sind die Herren unserer Wahrnehmung”, sagt sie im heutigen „Handelsblatt“.

Eine Infografik mit dem Titel: Mächtige Netzwerke

Top-Ten von Social Media Diensten weltweit, nach Anzahl der monatlichen Nutzer (monthly active users), in Milliarden

Doch sie brauchen keine erneute Expertenanhörung im Europäischen Parlament, nur einen Computerbildschirm und einen Netflix-Account. In obszöner Offenheit beichten die Schöpfer des Überwachungskapitalismus von jener Missgeburt, die sie eigenhändig gezüchtet haben, um sie in Büros und Kinderzimmern auszusetzen:

Die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und frühere Professorin der Harvard Business School Shoshana Zuboff urteilt:

Sie haben mehr Informationen über uns, als man sich das in der Menschheitsgeschichte je hätte vorstellen können. Das hat es noch nie gegeben.

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Jeff Seibert, der früher als leitender Angestellter im Produktmanagement von Twitter tätig war, sagt:

Sie wissen, wann man einsam oder depressiv ist, wann man sich Fotos seiner Ex-Partner ansieht, sie wissen, was man spät abends macht. Sie wissen alles. Ob du introvertiert oder extrovertiert bist, was für Neurosen du hast, was für ein Typ du bist.

Tristan Harris, ehemaliger Designethiker von Google, erklärt:

Alles, was wir jemals getan haben, alle Klicks, alle Videos und alle Likes – das alles fließt bei der Schaffung eines immer präziseren Modells mit ein. Und wenn man das hat, weiß man, was eine Person tun wird. Ich kann vorhersagen, wohin du gehst, welche Videos zu schaust und welche Art von Emotionen dich berühren.

Im Prinzip ging es um dieses historische Novum, dass 50 Designer in Kalifornien, alle zwischen 20 und 35 Jahren, Entscheidungen trafen, die das Leben von zwei Milliarden Menschen tangieren. Zwei Milliarden Menschen haben Gedanken, die nicht ihre eigenen sind.

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Fazit: Beide Spielarten des Überwachungskapitalismus darf man mit Fug und Recht als Entartung bezeichnen. Und doch steht die Politik raunend am Wegesrand, wenn Xi Jinping und Jeff Bezos sich Arm in Arm in Richtung Datenraum bewegen. Gefahr erkannt, aber nicht gebannt.

Prof. Dr. Andreas Rödder  © imago

Prof. Andreas Rödder ist ein bekennender Konservativer und Historiker. Er lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und gehört dem Vorstand der Adenauer-Stiftung an. Sein Buch „Konservativ 21.0“ erschien 2019. Von ihm lasse ich mir im Morning Briefing Podcast die Turbulenzen erklären, in welche die CDU nach dem Rücktritt von Angela Merkel als Parteichefin und dem angekündigten Abgang als Kanzlerin geraten ist. Wir sprechen über Adenauer, Kohl und Laschet und diskutieren die Frage: Wo geht’s zur Mitte? Und was bedeutet konservativ in diesen modernen Zeiten?

Über die Unterschiede von Helmut Kohl und Armin Laschet sagt Andreas Rödder:

Helmut Kohl hat in seinen jungen Jahren als Parteivorsitzender für eine programmatische Profilierung der CDU gesorgt. Das hat sich dann im Lauf der Kanzlerschaft abgeschliffen. Aber Kohl war mal ein richtiger Reformer. Das ist Laschet nicht.

Kohl war aber auch ein großer Integrator, der es immer geschafft hat, die Partei in ihrer ganzen Breite zur Geltung zu bringen. Idealtypisch mit Alfred Dregger auf der einen Seite, Norbert Blüm auf der anderen und Gerhard Stoltenberg dazwischen. Das ist jedenfalls in Nordrhein-Westfalen die Stärke von Armin Laschet. Und diese Integration der Partei ist seine Chance.

Über die in den vergangenen Jahren praktizierte Anpassungsfähigkeit der CDU-Spitze sagt Prof. Rödder:

Innerhalb der Union hat sich dafür in den politischen Entscheidungsprozessen der Begriff, ,Wir müssen das Thema abräumen’, verbreitet. Ich kann davor nur warnen: ,Wer immer nur abräumt, was andere auftischen, wird zum Tellerwäscher des Zeitgeistes.’

Fazit: Prädikat hörenswert. Ein Gegenwärtiger blickt in den Rückspiegel und erkennt das Künftige.

Angesichts der weiter kritischen Corona-Lage müssen sich die Deutschen auf längere Alltagsbeschränkungen bis in den Februar hinein gefasst machen. Dazu könnten auch neue Vorgaben zu stärker schützenden Masken und zum Arbeiten von zu Hause kommen. Die Kanzlerin berät sich erneut mit den Ministerpräsidenten. Das ist die Lage am heutigen Morgen:

  • Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert Koch-Institut (RKI) 11.369 Corona-Neuinfektionen und 989 neue Todesfälle innerhalb eines Tages gemeldet. Vor genau einer Woche hatte das RKI 12.802 Neuinfektionen und 891 neue Todesfälle binnen 24 Stunden registriert.

  • Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte:

Es ist besser, wenn wir jetzt zusammen noch die nächsten zwei, drei, vielleicht vier Wochen die Zahlen deutlich runterbringen.

  • Vor den Bund-Länder-Beratungen zeichnete sich ab, dass der bereits verschärfte Lockdown länger laufen soll – bisher sind die Maßnahmen bis Ende Januar vereinbart. Die SPD-Länderchefs wollen nach Angaben der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer eine Verlängerung bis 14. Februar vorschlagen, wenn auch Wirtschaftshilfen schneller kommen.

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  • Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte dem „Münchner Merkur“ :

Wir müssen den Lockdown bis Mitte Februar verlängern.

  • Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kündigte an, dass auch über schärfere Regeln beim Thema Homeoffice gesprochen werden solle. Er verwies auf neu in Kraft getretene gesetzliche Möglichkeiten, nun bestimmte Verordnungen zu erlassen.

  • Der Chef des Verbandes der Betriebskrankenkassen (BKK), Franz Knieps, kritisiert dagegen die Corona-Politik von Bund und Ländern scharf. Im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland teilt er selbstbewusst in Richtung Kanzlerin aus:

Ich habe Merkel mitteilen lassen, dass wir Bürger seien, keine Untertanen. Leider ist es nach wie vor so, dass insbesondere im Kanzleramt eine Bunkermentalität vorherrscht. Dort wird allein auf Virologen gehört, und dann auch immer auf dieselben.

Die Wissenschafts-Fundamentalisten

Zahlreiche Wissenschaftler beraten die Kanzlerin - doch ihr Rat geht vielen Länderchefs zu weit.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

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Unsere Hauptstadt-Pioniere haben sich der Corona-Politik angenommen und gestern Abend eine brisante Runde recherchiert. Bei einer Expertenanhörung im Kanzleramt haben mehrere Wissenschaftler und einige vorab eingeladene Ministerpräsidenten den Super-Lockdown empfohlen.

In dem dort vorgestellten Strategiepapier wird eine No-Covid-Strategie erläutert, die unter anderem von renommierten Wissenschaftlern wie dem Soziologen Heinz Bude, dem Ökonom Clemens Fuest, der Helmholtz-Virologin Melanie Brinkmann und dem Physiker Michael Meyer-Hermann unterschrieben wurde. In ihrem Katalog plädieren sie für ein Home-Office-Gebot, rigorose Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen. Dies müsse verbunden werden mit einem klaren Wieder-Öffnungs-Plan.

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Der Schutz der vulnerablen Gruppen sei „aktuell deutschlandweit” gescheitert und nicht umsetzbar. Man müsse nun weg von „reaktiven” Maßnahmen und einer „proaktiven Kontrolle” der Pandemie.

Die Bevölkerung soll auf das gemeinsame Ziel eingeschworen werden, das Virus „niederzuringen”, um die Maßnahmen zu akzeptieren.

Wörtlich heißt es in dem Papier.

Der Vorschlag schafft ein neues Narrativ, das die Bevölkerung einbezieht und mitnehmen soll. Es gilt, das Virus gemeinsam vollständig niederzuringen.

Und weiter:

Wir lernen von anderen Ländern, dass die konsequente Eliminierung als strategische Zielsetzung zum geringsten Schaden für die Gesellschaft führt.

Die Bundeskanzlerin soll die Vorschläge der Wissenschaftler wohlwollend kommentiert und eine Umsetzung empfohlen haben.

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ThePioneer One wird zur Konzertbühne: Anlässlich des 76. Gedenktages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert das Projekt „Respond in Music“ mit zwei interaktiven Sonderkonzerten an jüdische, im Dritten Reich verfolgte Musiker. Dazu werden Pianistin Annika Treutler und Sopranistin Sarah Aristidou am 27. Januar ab 12 Uhr und ab 19 Uhr mit ihrem rund 90-minütigen „Floating Concert“ im Berliner Regierungsviertel unterwegs sein. Wir werden beide Auftritte als kostenlose Live-Videos auf ThePioneer.de/Live und den dazugehörigen Social-Media-Kanälen übertragen. Hierzu wird der Newsroom des Medienschiffs ThePioneer One zur digitalen Konzertlocation umgestaltet.

Floating Concert “Respond in Music” mit Annika Treutler und Sarah Aristidou

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Veröffentlicht von ThePioneer One.

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Ich wünsche Ihnen einen guten, einen zuversichtlichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

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Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
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