Operation gelungen, Deutschland tot?

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Guten Morgen,

aus leisen Zweifeln wird Widerstand: Die Shutdown-Politik der Bundesregierung gerät unter Rechtfertigungsdruck.

Es hat sich eine Phalanx der Kritiker gebildet, die vom Präsidenten der Ärztekammer über den Philosophen und Experten für Risikoethik Prof. Julian Nida-Rümelin bis zum Chef des Ifo-Instituts reicht. Den fröhlichen Satz – „Ich finde, dass Jens Spahn einen tollen Job macht.“ – spricht nur noch die Kanzlerin. Und auch sie tut es mittlerweile nicht mehr aus Überzeugung, sondern aus Selbstschutz. Wackelt Spahn, beginnt auch ihr Thron zu kippeln.

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Das Missmanagement, das der Minister nicht verursacht, aber zu verantworten hat, ist keine Petitesse. Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, hat in einem vertraulichen Schreiben an Spahn – mit Durchschlag an Kanzleramtsminister Helge Braun – die Mängelliste formuliert:

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer © imago

Wir möchten an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass die zuletzt über die zentrale Beschaffung zur Verfügung gestellten Mengen an Schutzmasken in keiner Weise ausreichend sind.

Seit Wochen arbeiten die ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne angemessenen Schutz.

Die Pflegekräfte besuchen zu pflegende ältere Menschen im Wesentlichen zu Hause und bewegen sich damit ungeschützt unter der am stärksten vom Risiko eines tödlichen Verlaufs behafteten Patientengruppe.

Hausärzte, die in ihrer Praxis täglich mit unter Umständen infizierten Patienten gezwungenermaßen ohne Schutzmasken Kontakt haben, müssen gleichwohl die normale Versorgung von zahlreichen Altenheim-Patienten gewährleisten. Der Fall einer Ketteninfektion in einem Altenheim in Würzburg mit neun Toten ist ein warnendes Beispiel.

Eine Infografik mit dem Titel: Corona in Deutschland 25.03.2020

Anzahl der bestätigten Infizierten und Todesfällen nach Bundesländern

Zum Hintergrund: Die rund 800.000 Pflegebedürftigen und die für sie tätigen rund 764.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen leben und arbeiten miteinander auf engstem Raum. Beide zusammen bilden eine Hochrisikogruppe, für die auch in der dritten Woche nach Ausbruch der offiziell von der WHO erklärten Pandemie weder Schutzmasken noch Schutzbekleidung oder ausreichend Desinfektionsmittel zur Verfügung stehen. Deutschland ist auf die Pandemie, anders als von der Regierung behauptet, nicht schlecht, sondern gar nicht vorbereitet.

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So wurden denn die drakonischen Maßnahmen eines Shutdown des öffentlichen Lebens, die normalerweise den Schlusspunkt einer Eskalationskette bilden, vorsätzlich an deren Anfang gesetzt. Eine Regierung, die das Mindeste nicht garantiert, versucht, mit dem Maximalen zu beeindrucken.

Im Morning Briefing Podcast, für den ich mit dem Präsidenten der Ärztekammer über seine Mängelliste spreche, ist ihm die Fassungslosigkeit anzumerken:

Ich muss ehrlich sagen: Das erschließt sich mir nicht, dass wir darauf nicht vorbereitet waren.

Die Rückmeldungen der von ihm vertretenen Ärzteschaft seien eindeutig, und zwar eindeutig negativ:

Bei den Hausärzten ist keinerlei Schutzmaterial mehr vorhanden und es ist auch nicht kaufbar, von niemandem, weil es einfach vom Markt verschwunden ist.

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Die Maßnahmen des Gesundheitsministers reichen laut Reinhardt nicht aus:

Das hilft nichts, wenn so eine Praxis 20 Masken kriegt. Wenn sie eine normale Hausarztpraxis am Vormittag besuchen, dann kommen Sie mit 20 Masken so ungefähr von acht bis halb zehn hin.

Die fehlende Schutzkleidung wird laut Reinhardt besonders in der Altenpflege zur Gefahr:

Die ambulanten Pflegedienste fahren von einem Alten zum nächsten und sind das, was man einen Super-Spreader nennt. Und das in einer Population, die ein maximales Risiko hat, tatsächlich tödlich zu erkranken.

Die bisherige Corona-Politik, die pauschal alle Alters- und Risikogruppen gleich behandelt, bereitet ihm Kopfzerbrechen:

Wenn wir all diese Maßnahmen, die wir jetzt ausgesprochen haben, weiterführen, mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft, Psychologie der Menschen, soziales Miteinander und alles, was dazugehört, dann frage ich mich, wo landen wir da?

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Eine generelle Ausgangssperre in Deutschland, die als nächste Eskalationsstufe in Regierungskreisen diskutiert wird, lehnt Reinhardt rundweg ab. Er fordert stattdessen ein Verfahren, das die Experten „Cocooning“ nennen, also die Isolierung, der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen:

Ich bin gegen eine Ausgangssperre und eine weitere Verschärfung. Aber ich bin dafür, dass wir die nächsten Wochen nutzen, eine sehr saubere Stratifizierung zur Stabilisierung der Risikogruppen vorzunehmen anhand der existierenden Daten. Und zwar aller Daten, die wir zur Verfügung haben.

Heißt: Reinhardt spricht sich dafür aus, vorbelastete und ältere Menschen zu identifizieren und gesondert zu schützen.

Die würde ich einteilen in verschiedene Kategorien und Risikoklassen. Und für sie würde ich unterschiedliche Maßnahmen überlegen, wie ich sie vor Infektionen schützen kann. Das würde ich in eine Strategie einbauen, sodass man daneben behutsam anfangen kann, wieder soziales Leben oder auch Wirtschaftsleben zuzulassen.

Der Mann weiß um den Finanzbedarf, den ein Erste-Klasse-Gesundheitssystem wie das deutsche zum Funktionieren benötigt:

Von irgendetwas werden wir ja auch die Maßnahmen bezahlen müssen, die wir gegen Corona brauchen.

Schützenhilfe erhält der Ärztepräsident vom Chef des Ifo-Instituts in München. Auch Prof. Clemens Fuest und sein Team raten der Regierung dringend ab, das Herunterpegeln der Volkswirtschaft auch nur einen Tag zu verlängern. In ihrer jüngsten Expertise, die auch dem Bundeswirtschaftsminister vorliegt, heißt es:

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Schon bei einer Shutdown-Dauer von zwei Monaten reduziert sich die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts zwischen 7,2 und 11 Prozentpunkten, bei drei Monaten zwischen zehn und 20 Prozentpunkten. Aus der astronomischen Höhe der Kosten folgt, was dringend zu empfehlen ist, jeden denkbaren Betrag zu leisten, der die Dauer des Shutdown verkürzt.

Debatten, die zwischen der wirtschaftlichen Erholung und der Bekämpfung der Epidemie einen unauflöslichen Zielkonflikt sehen, führen in eine Sackgasse.

Es ist dringend notwendig, nach Möglichkeiten zu suchen, die schrittweise Aufhebung oder Lockerung des Shutdown mit effektivem Gesundheitsschutz zu verbinden. Dazu gehören umfangreiches Testen, ein besonderer Schutz des anfälligen Teils der Bevölkerung, die flächendeckende Verwendung von Atemmasken und Desinfizierungsmaßnahmen im öffentlichen Raum.

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Ähnlich äußert sich der Philosoph und ehemalige SPD-Kulturstaatsminister Prof. Julian Nida-Rümelin in der gestern Abend veröffentlichten Folge des Podcast-Zyklus „Der achte Tag“. Dort unterbreitet der Sozialdemokrat seinen Vorschlag zur Bewältigung der Krise, der ein Ende der bisherigen Volksquarantäne bedeutet:

Unsere Hauptaufgabe ist, jetzt die Gefährdeten konsequent zu schützen. Und dann können wir in den nicht gefährdeten Bereichen die Menschen wieder in das normale Leben entlassen.

Wir brauchen keine allgemeine, das Infektionsrisiko minimierende Praxis, sondern eine spezifische, die das Infektionsrisiko für die gefährdeten Gruppen möglichst auf null herunterfährt.

Die Strategie, die ich vorschlage, ist nicht zynisch. Sie wägt nicht ab zwischen Ökonomie und Gesundheit, sondern sie hat beides im Blick: das Bedürfnis nach Kontakt, die Notwendigkeit von Bildung, ökonomischer und sozialer Aktivität einerseits - und das Leben der Gefährdeten andererseits.

Fazit: Die Regierung mit ihrer Strategie des One-Size-Fits-All ist begründungspflichtig geworden. Und all jene Medien, die bisher wie Groupies dem Gesundheitsminister applaudieren, sind es auch. Der Aufsteiger Jens Spahn muss nicht verbal zerstört, wohl aber kritisiert werden. Oder um es mit Willy Brandt zu sagen: „Journalismus kann abdanken, wenn er harmlos wird.“

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Erstens: Unternehmen, die wegen der Corona-Pandemie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind, können die Zahlung ihrer Sozialabgaben aufschieben. Die Beiträge für Kranken-, Arbeitslosen-, Renten- und Pflegeversicherung wären eigentlich an diesem Freitag fällig. Bis Mai haben die Arbeitgeber nun Zeit, die Zahlungen nachzuholen, zinsfrei.

Zweitens: Heute wird das Parlament über das milliardenschwere Hilfspaket der Bundesregierung beraten. Unter anderem soll eine Notfallregelung die Schuldenbremse außer Kraft setzen und damit eine Schuldenaufnahme in Höhe von 156 Milliarden Euro ermöglichen.

Drittens: Der Bundestag wird heute den Epidemiefall ausrufen. Dadurch soll der Bund zusätzliche Kompetenzen erhalten, um während der Coronakrise den Handlungsspielraum zu erweitern. Dadurch könnten beispielsweise Meldepflichten im grenzüberschreitenden Bahnverkehr oder Untersuchungspflichten angeordnet werden. Die neue Regelung wird auf ein Jahr begrenzt, kann allerdings vorzeitig aufgehoben werden.

Viertens: VW wird rund 80.000 Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken. Der Autohersteller hatte zuvor die Bänder in zahlreichen Werken in Europa angehalten. Die für die Kernmarke VW Pkw und die Komponentenwerke angezeigte Kurzarbeit soll zunächst bis zum 3. April andauern.

Fünftens: Bei der staatlichen Förderbank KfW wurden Anträge für Notfallkredite in Höhe von fast zwei Milliarden Euro gestellt. Davon entfällt eine Summe von 1,968 Milliarden Euro auf vier Darlehensanfragen. Welche Unternehmen die Anträge gestellt haben, ist nicht bekannt.

Fazit: Die Regierung tut etwas gegen den Wohlstandsverfall, den sie selbst ausgelöst hat. Die wirksamste Hilfsmaßnahme für Volkswirtschaft, Gesellschaft und Demokratie beginnt allerdings nicht mit Tonnen von Geld, sondern mit einer Prise Nachdenklichkeit. Damit es später nicht heißt: Operation gelungen, Deutschland tot.

Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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