Parteien: Zuhörer gesucht

Teilen
Merken
 © ThePioneer

Guten Morgen,

viele Politiker (und viele Journalisten übrigens auch) glauben, dass sie unentwegt reden müssten, um zu überzeugen. Sie denken, Mund und Stimmbänder seien die entscheidenden Werkzeuge zur Gewinnung neuer Anhängerschaft. Sie kurven wie die Vielseitigkeitsfahrer durch ihre Redemanuskripte, berühren mechanisch alle nur denkbaren Themen, um sich dem Publikum als Mr. oder Mrs. Oberschlau zu empfehlen. So wurde die Hochstapelei das Geschäftsmodell des Berufspolitikers.

Dabei gibt es keine einzige Umfrage, die darauf hindeutet, dass die Wähler sich einen Vielredner und Alleswisser wünschen. Wenn man die verfügbaren demoskopischen Depeschen sorgfältig liest, stellt man fest: Die Wähler wünschen sich ausdrücklich keine politischen Türdrücker und Klinkenputzer, die ihnen etwas aufschwatzen wollen. Sie wünschen sich vielmehr das, was Kinder sich von ihrem Vater wünschen, Mitarbeiter von ihrem Chef und Ehepartner von ihrem Gegenüber: Nämlich, dass man ihnen endlich zuhören möge, um zu verstehen, was sie bedrückt.

Eine Infografik mit dem Titel: Von welchen Parteien kommen die Nichtwähler?

Wen haben die im Juni 2021 ermittelten Nichtwähler bzw. Unentschlossenen bei der Bundestagswahl 2017 gewählt, in Prozent

Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung führen folgende Sätze die Gründe für die Wahlabstinenz an:

  • 34 Prozent sagen: Die Politiker haben kein Ohr mehr für die Sorgen der kleinen Leute.

  • 31 Prozent meinen: Den Politikern geht es doch nur um ihre eigene politische Karriere.

Eine Infografik mit dem Titel: Wahlbeteiligung: Das wählende Volk

Wahlberechtigte bei der Bundestagswahl 2017 unterteilt in Nichtwähler, gültige und ungültige Zweitstimmen, in Millionen

Womit wir bei der schwierigsten, aber gleichwohl attraktivsten und vor allem größten Wählergruppe wären: den Nichtwählern und Unentschlossenen. Denn die bringen es laut der jüngsten Forsa-Befragung auf 14,88 Millionen Menschen und liegen damit leicht vor der Union (13,65 Millionen) und deutlich vor SPD (7,07 Millionen) und Grünen (9,89 Millionen). Nur weil man sich in den Medien angewöhnt hat, diesen größten Block von Anfang an gar nicht erst mitzuzählen, kommen Union und Grüne derzeit auf ihre hohen Prozentzahlen. Aber erst im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Wahlberechtigten – also ohne die statistisch fragwürdige Bereinigung – werden die wahren Kräfteverhältnisse im Lande sichtbar. Die Parteien sind nämlich deutlich schmalbrüstiger als sie erscheinen.

Eine Infografik mit dem Titel: Union: Nur ein knappes Viertel

Umfragewerte der Union zur Bundestagswahl 2021 unter Einbeziehung der Nichtwähler, in Prozent der Wahlberechtigten

Eine Infografik mit dem Titel: Grüne: Nur jeder Sechste

Umfragewerte der Grünen zur Bundestagswahl 2021 unter Einbeziehung der Nichtwähler, in Prozent der Wahlberechtigten

Die Union bringt es gemessen an der Gesamtzahl der Wahlberechtigten derzeit nur auf 22 Prozent. Die Grünen sind nur mit 16 Prozent dabei, die Sozialdemokraten erreichen elf und die FDP zehn Prozent aller Erwachsenen. Ein schwarz-grünes Bündnis würde demnach nur gut ein Drittel aller wahlberechtigten Deutschen repräsentieren.

Eine Infografik mit dem Titel: SPD: Schwacher Rückhalt

Umfragewerte der SPD zur Bundestagswahl 2021 unter Einbeziehung der Nichtwähler, in Prozent der Wahlberechtigten

Eine Infografik mit dem Titel: FDP: Nur jeder Zehnte

Umfragewerte der FDP zur Bundestagswahl 2021 unter Einbeziehung der Nichtwähler, in Prozent der Wahlberechtigten

In völliger Verkennung der Gefühlslage in der Bevölkerung organisieren Parteien und Medien derzeit überall ihren Dreikampf, also das Selbstgespräch der Kanzlerkandidaten Laschet, Baerbock und Scholz. Dem Ideal einer lebhaften Demokratie wird ein dreifacher Schaden zugefügt:

1. Die größte Gruppe der Wahlberechtigten sitzt nicht mit am Tisch.

2. Deren dringlichstes Anliegen, das Zuhören, wird vorsätzlich ignoriert.

3. Schon die parteipolitisch organisierten Stimmen der Andersdenkenden, also die von Linken, Liberalen und AfD'lern, werden ausgeblendet. In den privaten wie den öffentlich-rechtlichen TV-Programmen findet eine künstliche Angebotsverknappung statt.

Eine Infografik mit dem Titel: Wahlbeteiligung: Der Abwärtstrend

Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen 1976-2017, in Prozent

Fazit: Bevor die Parteien weiter Millionen für einen Wahlkampf der Geschwätzigkeit verfeuern, sollten sie innehalten. Ihre Strategie – drei Münder, kein Ohr – geht nicht auf. Ein solcher Wahlkampf wirbt nicht, zumindest nicht für die Demokratie.

Viele Bürger würden, wenn sie denn dürften, die kleine Momo wählen, über die Michael Ende in seiner gleichnamigen Erzählung schrieb:

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Sie konnte so zuhören, dass ratlose und unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz und gar verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören.

Momo im gleichnamigen Film von 1986 © dpa
Wirecard © imago

Am Dienstagmorgen übergab der Ausschussvorsitzende den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zur Wirecard-Pleite an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Der größte deutsche Wirtschaftsskandal der Nachkriegszeit, bei dem sich über 20 Milliarden Euro Anlegergeld in Luft aufgelöst haben, wird darin aufgearbeitet.

In den zurückliegenden sieben Monaten hat der neunköpfige Ausschuss 110 Zeugen befragt – darunter Kanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz, Wirtschaftsminister Altmaier sowie den Journalisten Dan McCrum, der mit seinen Recherchen für die „Financial Times“ den Skandal aufdeckte. Die Geschichte von Wirecard ist die Geschichte eines Betruges mit angeschlossenem Staatsversagen:

  • Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) ist frühen Hinweisen auf mögliche Unregelmäßigkeiten bei Wirecard nicht nachgegangen. Im Gegenteil: Die Aufseher deckten das Management der Betrugsfirma – aber es war nicht kriminelle Energie, sondern Dummheit im Spiel.

  • In ihrem Sondervotum, das dem Abschlussbericht beigefügt ist, fassen FDP, Linkspartei und Grüne ihre Kritik zusammen:

Der Wirecard-Skandal ist viel mehr als ein Bilanzskandal. Es geht um den größten Börsen- und Finanzskandal der Nachkriegszeit, der durch kollektives Aufsichtsversagen, deutsche Wagenburgmentalität gegenüber Nichtdeutschen sowie ein politisches Netzwerk und die Sehnsucht nach einem digitalen nationalen Champion und dessen Markteintritt in China ermöglicht wurde.

Der über 2000 Seiten starke Bericht wird am kommenden Freitag Gegenstand einer einstündigen Debatte im Bundestag sein – dann hat die Staatsanwaltschaft das Wort. Sie ermittelt gegen die ehemalige Geschäftsführung von Wirecard unter anderem wegen Untreue, Bilanzfälschung und bandenmäßig begangenen Betrugs.

Fabio De Masi © dpa

Der führende Kopf im Untersuchungsausschuss war Fabio De Masi. Der finanzpolitische Sprecher der Linkspartei brachte den Ausschuss gemeinsam mit seinen Kollegen aus der Opposition am 1. Oktober 2020 auf den Weg. Im Morning Briefing Podcast zieht er eine für den deutschen Staat wenig schmeichelhafte Bilanz. Auf die Frage, wer der Hauptverantwortliche für diesen Skandal sei, antwortet er:

Verantwortlich sind kriminelle Manager bei Wirecard, die aber ganz genau wussten, dass alle in der Politik besoffen danach waren, ein erfolgreiches Internet-Unternehmen ‘Made in Germany’ zu präsentieren.

Über Markus Braun, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Wirecard, der vor dem Ausschuss aussagte und derzeit wieder in Untersuchungshaft sitzt, sagt er:

Markus Braun ist ein sehr kaltblütiger Typ; er wusste, welchen esoterischen Quatsch er auf Investorenmeetings erzählen muss, damit keiner mehr versteht, was eigentlich das Geschäftsmodell ist. Er ist kein Opfer. Er ist eindeutig Täter.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Aber auch die Politik ist alles andere als unschuldig:

Es gab eine Armee an Lobbyisten aus dem politischen Umfeld, die zumindest dabei geholfen haben, diese Milliardenillusion mit am Leben zu erhalten.

Auch die Aufsichtsbehörden, die im Zuge des Wirecard-Skandals kläglich versagt haben, kritisiert der studierte Volkswirt deutlich:

Generell ist unsere Aufsicht nicht fit für die neuen digitalen Geschäftsmodelle.

Die Rolle des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz beurteilt er folgendermaßen:

Wenn man sich nun um das Amt des Bundeskanzlers bewirbt, sollte man in seinem Job vorher einen guten Job gemacht haben. Das war im Bereich der Finanz- und Geldwäscheaufsicht sicherlich nicht der Fall.

Der schwarz-grüne Schmerzpunkt

Eine strikte Asylpolitik im Unionsprogramm stößt auf scharfe Kritik bei den Grünen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Jack Ma © dpa

Chinas Kommunistische Partei feiert im Juli ihren hundertsten Geburtstag. Weniger in Feierlaune ist Jack Ma, der bekannteste Unternehmer Chinas.

Der Alibaba-Gründer hatte sich vergangenen Oktober kritisch gegenüber dem chinesischen Finanzsystem geäußert. Daraufhin musste er einiges einstecken:

  • Mas geplanter Rekord-Börsengang der Alibaba-Tochter Ant Group, der historische 37 Milliarden Dollar einzubringen versprach, wurde kurzfristig gestoppt.

  • Ma selbst verschwand über Monate fast komplett von der Bildfläche.

Eine Infografik mit dem Titel: Alibaba: Xi Jinping schlägt zu

Kursentwicklung der Alibaba-Aktie seit dem 27. Januar 2020, in US-Dollar

  • Alibabas Internet-Browser UC wurde im März aus sämtlichen App-Stores in China genommen.

  • Im April verhängten Pekings Wettbewerbshüter eine Strafe von umgerechnet 2,3 Milliarden Euro gegen Alibaba.

  • Im Mai trat Ma als Präsident der von ihm 2015 gegründeten Eliteschule Hupan University zurück.

Fazit: Der gelenkte Kapitalismus hat zugeschlagen. In Chinas Wirtschaft regiert nicht die unsichtbare Hand von Adam Smith, sondern die eiserne Faust der KP.

Der Westen und der Aufstieg Chinas

Ex-Vizekanzler Joschka Fischer über die internationale Zusammenarbeit mit China.

Artikel lesen

Veröffentlicht in The Pioneer Expert von Joschka Fischer .

Artikel

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page
Jamie Dimon, JPMorgan-Chef © imago

An der Wall Street hat man die Nase voll vom Home-Office. Jamie Dimon, Chef der US-Investmentbank JP Morgan Chase, unternimmt einen Vorstoß:

Ich bin kurz davor, alle meine Zoom-Meetings abzusagen.

Dimon ist nicht der einzige an der Wall Street, der seine Mitarbeiter wieder zurück in die Handelsräume holen will. Auch weitere große Namen wie Bank of America, Morgan Stanley und die Deutsche Bank in den USA planen in den kommenden Wochen, zurückzukehren. Bei Goldman Sachs wurden alle Mitarbeiter bereits vergangene Woche aus dem Komfort des Home-Office geholt.

Eine Infografik mit dem Titel: Ab ins Büro!

Geplante Rückkehr der Mitarbeiter aus dem Home-Office in ausgewählten Banken, nach Region

James Gorman, Vorstandschef bei Morgan Stanley, hat für die neue Striktheit eine plausible Erklärung:

Wenn Du in New York in ein Restaurant gehen kannst, kannst Du auch ins Büro kommen.

Warum der Bitcoin sich durchsetzen wird

Tech Briefing Dossier: Chancen und Kritik des Bitcoin und warum Kryptos bereits unverzichtbar sind.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Tech Briefing Business Class Edition von Christoph Keese.

Briefing

Annegret Kramp-Karrenbauer © imago

„Mehr Truppe, weniger Stäbe” lautete das Versprechen eines von Annegret Kramp-Karrenbauer vorgelegten Eckpunktepapiers, das „Kopflastigkeit” reduzieren wollte, um die Bundeswehr zukunftsfähiger zu machen. Aktuell sieht es bei der Bundeswehr allerdings anders aus: Das Verteidigungsministerium wächst, während die Zahlen der Soldaten nur langsam zulegen.

Seit 2015 stieg die Zahl der Dienstposten im Verteidigungsministerium von 2176 auf 2933, das bedeutet ein Plus von 35 Prozent, während die Zahl der Soldaten nur um 3,7 Prozent zunahm. Das geht aus einer Antwort des Ministeriums auf Anfrage des FDP-Politikers Christian Sauter hervor, die dem „Business Insider“ vorliegt.

Sauter forderte daraufhin:

Das Ministerium muss organisatorisch und personell gestrafft werden.

Annegret Kramp-Karrenbauer könnte nach der Bundestagswahl den Anfang machen. Sie ist – nachdem sie in der Partei kaum noch Rückhalt besitzt – nur noch bedingt verteidigungsbereit.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Folge

Banksy: Flower Thrower © imago

Urheberrecht ist etwas für Loser”, erklärte der weltberühmte Graffiti-Künstler Banksy 2006 in seinem Buch „Wall and Paint“. Seine Coolness und Anonymität kommen den mutmaßlich britischen Künstler jetzt teuer zu stehen. Die zuständige Behörde der Europäischen Union befand, dass einige seiner Werke nun nicht mehr als geschütztes Eigentum anerkannt werden.

Banksy wird voraussichtlich nichts dagegen unternehmen, denn seine Anonymität ist integraler Bestandteil seiner künstlerischen Identität. Seine eigene Kommerzialisierung sei „der am wenigsten poetische Grund, überhaupt Kunst zu machen“, sagte er. Ein Ende seiner Anonymität könnte die Selbstauflösung dieser Rebellen-Kunst bedeuten, weshalb Banksy sich geschlagen gibt:

Ich möchte nicht als der Typ in Erinnerung bleiben, der eine völlig legitime Form der Protestkunst mit Geld und Prominenz kontaminiert hat.

Maid © Banksy

Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing