den Chef des Robert-Koch-Instituts könnte man feuern, das Virus nicht. Deshalb lenkt der Streit um die Intensität der Warnungen von Prof. Lothar Wieler nur ab von der Tatsache, dass die neue Regierung da anknüpft, wo die alte endete: beim Abwiegeln und Flickschustern.
Auf die rasante Verbreitung der Omikron-Variante reagieren die einzelnen Landesregierungen bisher taktisch, nicht strategisch.
Alle befassen sich mit ihren fallenden Zustimmungswerten, aber nicht in gleicher Intensität mit den steigenden Infektionszahlen.
Man bekämpft – gelernt, ist gelernt – zuerst den parteipolitischen Gegner oder – auch wichtig – den Klimawandel – und dann erst das Virus.
Karl Lauterbach hat den Lockdown-Verzicht versprochen. Er ahnt zwar, dass er wortbrüchig werden muss, – aber wenn es irgendwie geht, nicht mehr vor Weihnachten.
Olaf Scholz schaut zu, weil er den Unmut der FDP unter Führung des Rebellenführers Kubicki mehr fürchtet als die düsteren Depeschen des RKI.
Der FDP-Führung ist vieles Recht, nur keine Freiheitseinschränkungen vor ihrem großen Feldgottesdienst, dem Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart.
In diese Lage hinein hat der RKI-Präsident eine Botschaft platziert, die den politischen Betrieb massiv stören musste – und sollte. Wie einst Kassandra in den Straßen von Troja sprach er in seinem Strategiepapier vom 21. Dezember, das uns vorliegt, jene Wahrheiten aus, die keiner hören will:
Omikron wird bereits Anfang Januar 2022 die Mehrzahl der Infektionsfälle in Deutschland und mehrere Zehntausend Infektionsfälle täglich ausmachen.
Unter den derzeitigen Bedingungen liegt die Verdopplungszeit in Deutschland bei etwa drei Tagen.
Der weitere Verlauf der epidemiologischen Situation in den nächsten Wochen hängt vom Verhalten der Bevölkerung an den Festtagen ab.
Der Blick ins Ausland zeigt, dass durch diese Variante mit einer Infektionswelle von bisher noch nicht zu beobachtender Dynamik gerechnet werden muss.
Das Schicksal von Lothar Wieler ist offen, das von Kassandra bekannt. Sie wurde erdolcht. Dass die Pop-Gruppe Abba ihr später den Song “Sorry Cassandra” widmete, dürfte ihr keine Genugtuung sein. Zumal es dem Lied mit den einfühlsamen Versen (“Sorry Cassandra, I misunderstood. Now the last day is dawning. Some of us wanted but none of us would”) ähnlich erging wie seiner Protagonistin.
Es wurde kein Erfolg. Es blieb weitgehend ungehört.
© imagoEs gibt ein Leben und Denken jenseits der Tagesaktualität. Und wer es vermag, die Düsterkeit des Augenblicks zu verlassen, und sei es gedanklich, betritt das lichtdurchflutete Reich des Philosophen Prof. Markus Gabriel.
Der 41-Jährige, der an der Universität Bonn lehrt und mit seinem Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten für Aufmerksamkeit sorgte, hat eine Philosophie der Zuversicht entwickelt.
© dpaDarüber sprechen wir im heutigen Morning Briefing Podcast und – weit ausführlicher noch in einem Morning Briefing Spezial.
Er glaubt, dass die Pandemie auch historisch eine Zäsur bedeuten wird. Das wiederum liege nicht allein an COVID-19, sondern am Zusammentreffen von Pandemie, Klimakatastrophe und einem überreizten Finanzsystem:
Der Burnout-Kapitalismus mit seiner ewigen Neigung zur Selbstzerstörung kann so nicht weitermachen.
Wir können nach der Pandemie nicht in die Formate der alten Industriegesellschaft zurückspringen. Die Moderne als Stahlgewitter entspricht nicht mehr dem Projekt der Aufklärung.
Das Ziel aller staatlichen Maßnahmen, die auch er in der Pandemie als zum Teil übergriffig erlebt hat, müsste darin bestehen, die Freiheit der Menschen zurückzugewinnen. Er verlangt:
Das Wichtigste ist jetzt, dass der Staat sich in Demut übt.
Die soeben verabschiedeten Maßnahmen für die Silvesternacht zählt er nicht dazu:
Das Böllerverbot ist unter der intellektuellen Würde der Bundesregierung.
Fazit: Hier meldet sich eine neue liberale Stimme zu Wort, die das Denken in den alten Links-Rechts-Schablonen gesprengt hat.
Studien zufolge fühlen sich 14 Millionen Menschen einsam in diesem Land. Und spätestens seit Corona ist soziale Isolation globaler Status quo. Die Folgen sind für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft riskant, sagt die Publizistin, Unternehmerin und Bestsellerautorin Diana Kinnert.
Nicht nur Demokratie, sondern Politik selbst, der öffentliche Raum, erübrigt sich, wenn sich in ihm keine Gemeinschaft aufhält.
In einem Essay für ThePioneer, den wir für den Podcast vertont haben, schreibt sie über Einsamkeit in Zeiten der Pandemie:
Der Standard-Zustand der Menschheit ist die Isolation.
Sie spricht von einer Gesellschaft der Zersprengten:
Durchindividualisiert, komplett-personalisiert, zu Tode flexibilisiert, alle beisammen, alle verbunden, aber keiner verbindlich. In die Simultanwelten des Digitalen wird wild und abstrakt hineingesprochen, wild und abstrakt schreit die digitale Welt zurück. Adressaten, Sender, alle unbekannt.
Sie will uns zu einer visionären Form des gesellschaftlichen Miteinanders ermuntern:
© Anne HufnaglWir brauchen neue, offene soziale Räume für soziale Gestaltung und Teilhabe.
Dieser Podcast ist ein fundierter und dringend notwendiger Impuls, neu darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft Individualität und gesellschaftliches Miteinander vereinbaren können. Diana Kinnert will uns zu Folgendem ermuntern: Solidarität – neu denken.
Sie können diese Podcasts, an denen die Journalisten Stefan Rupp und Laura Block sowie die Produzenten Thomas Güthaus und Milan Rottinger mitgewirkt haben, auf unserer Webseite hören, in Ihrer Lieblings-Podcast-App und in unserer ThePioneer-App, die Sie im Google Playstore und im Apple Store finden.
Ich wünsche Ihnen einen Tag weihnachtlicher Vorfreude. Bleiben Sie mir gewogen.
Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr