die Welt ist ein merkwürdiger Ort. Wir schauen Spitzensportlern wie Lionel Messi und Serena Williams bei der Arbeit zu – und ordern Bier und Burger. Wir sind beeindruckt von der Klugheit eines Stephen Hawking – und auf dem Nachttisch verstauben die Bücher. Wir bewundern Greta Thunberg – um anschließend bei EasyJet den Kurzurlaub zu buchen. Warum also soll es dem Wirtschaftsmodell Deutschland besser ergehen? Die uns umgebende Welt ist in Schizophrenie vereint: ► Die Welt bewundert unsere Exportwirtschaft, aber drängt uns, die Binnennachfrage anzukurbeln. ► Man staunt über die soliden deutschen Staatsfinanzen und will mit unserer Zustimmung Billionen von Euro drucken, denen kein realer Wert gegenübersteht. ► Man mag unseren Hang zur Gründlichkeit, und doch wünscht man sich in der Europäischen Zentralbank (EZB) und bei der EU-Kommission nichts sehnlicher, als dass auch wir ein fiskalisches Lotterleben beginnen. Mit den jüngsten Beschlüssen der EZB feiert die europäische Finanzwelt ein Woodstock der Unseriosität: Wenn Christine Lagarde am 1. November ihren Job als EZB-Präsidentin antritt, kann sie unverzüglich auf Shopping-Tour gehen – für 20 Milliarden Euro im Monat. Mit Geld, das im Computer erschaffen wurde, darf sie Anleihen von Staaten und Firmen kaufen. Das neue Aufkaufprogramm ist zeitlich nicht limitiert. Der scheidende EZB-Chef Mario Draghi übergibt Lagarde die Platinum Card, unlimited Edition.
Eine Infografik mit dem Titel: EZB-Anleihekaufprogramm: Die neue Dimension
Volumen der von der EZB gehaltenen Anleihen im Vergleich, in Euro
Dabei beherbergt die Bilanz der EZB bereits heute Anleihen im Wert von über 2,6 Billionen Euro. Das entspricht ungefähr dem Siebenfachen des Bundeshaushalts 2020 und ist fast viermal mehr als die Wirtschaftskraft der Schweiz (siehe Grafik oben).
Eine Infografik mit dem Titel: EZB: Einlagenzins erreicht Rekordtief
Einlagenzins für Banken seit Mai 2009, in Prozent
Zusätzlich zum Anleihekaufprogramm gab Draghi gestern eine weitere Verschärfung der Einlagenzinsen für Banken bekannt. Draghi hat den Strafzins für Geldinstitute, die über Nacht ihr Geld bei der EZB parken wollen, von minus 0,4 auf minus 0,5 Prozent verändert (siehe Grafik oben). Damit sollen die Banken zum Leichtsinn verführt werden. Der Kredit wird honoriert, das Finanzpolster bestraft. Man will die Volkswirtschaften mit der Droge Kredit vollpumpen. Der „goldene Schuss“ wird billigend in Kauf genommen. Die Volkswirtschaft zeigt bereits Anzeichen der Unverträglichkeit: ► Die Summe der Immobilienkredite stieg seit dem Jahr 2009 um 30 Prozent, die Preise für Eigentumswohnungen in den sieben größten Städten sind seither gar um 88 Prozent nach oben geschossen. ► Die Börsen boomen, obwohl die Realwirtschaft Abkühlungstendenzen meldet. Das billige Geld sorgt dafür, dass sich Finanz- und Realwirtschaft entkoppelt haben. ► Die Anleger stecken das billige Zentralbankgeld auch in ETF-Fonds, deren Volumen sich seit der Finanzkrise um sagenhafte 554 Prozent von 716 Milliarden auf über 4,6 Billionen Dollar (siehe Grafik unten) steigerte. Experten wie der US-amerikanische Hedgefonds-Manager Michael sehen hier eine Blasenbildung.
Eine Infografik mit dem Titel: Indexfonds: Der Boom
Entwicklung des ETF-Volumens weltweit, in Dollar
Fazit: Draghi geht, die Geldflutung bleibt. Verzweiflung ist dennoch nicht erlaubt, weil die Euro-Zone einer Ehe ohne Rücktrittsversicherung gleicht. Oder um es mit Woody Allen zu sagen: „Die Ehe ist der Versuch, Probleme gemeinsam zu meistern, die man allein niemals gehabt hätte.“
Am Vormittag schlenderte er noch in Begleitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Automobilmesse IAA – kurz darauf trat er zurück: Der Präsident des Verbandes der deutschen Automobilindustrie (VDA), Bernhard Mattes, erklärte nach weniger als zwei Jahren sein Ausscheiden als oberster Auto-Lobbyist. Sein Rücktritt gleicht einem Rausschmiss, denn Mattes war den Managern in Wolfsburg, Stuttgart und München nicht durchsetzungsstark genug. Der ehemalige Chef von Ford Deutschland verfügt über keinen heißen Draht in die Machtzentralen von Brüssel und Washington, sagen seine Kritiker. Zu nett, zu weich, nicht wirkungsmächtig.
© dpaAls Nachfolger wird auf den Chefetagen der Autokonzerne ein Mann gehandelt, der in der Tat die Idealbesetzung wäre: Günther Oettinger, CDU-Politiker, Ex-Ministerpräsident im Autoland Baden-Württemberg und Noch-EU-Kommissar, verfügt aufgrund seiner langen Berufserfahrung und seiner kommunikativen Persönlichkeit über Zugänge, die andere nicht haben. Mit ihm hätte die Autoindustrie in der Politik wieder das, was ihr fehlt: eine Stimme.
Angela Merkel ist vor Kritik aus den eigenen Reihen nicht mehr sicher: Friedrich Merz, der starke Mann hinter der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, nimmt erkennbar nur noch wenig Rücksicht auf die Kanzlerin. Ihre Haltung gegenüber China passt ihm nicht: „Chinas Umgang mit Joshua Wong und Deutschland ist ein Vorgeschmack darauf, was geschieht, wenn wir uns politisch weiterhin so defensiv verhalten“, schrieb er auf Twitter. Und weiter: „Jetzt entscheidet sich, ob wir auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts hier so frei leben wie in den letzten 70 Jahren.“ Es ist ein Aufruf, der neuen, autoritären Wirtschaftsmacht die Stirn zu bieten. Und ein Lebenszeichen des Außenpolitikers Friedrich Merz ist es auch.
Eine politische Innovation kommt demnächst aus Thüringen. Zumindest, wenn es nach Mike Mohring geht. Der CDU-Landeschef tourt zwischen Gera und Eisenach und wirbt im Landtagswahlkampf – am 27. Oktober wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt – für eine Premiere: eine Koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP. Der stellvertretende Chefredakteur der „Welt“, Robin Alexander, hat für den Morning Briefing Podcast mit Mohring, der die Regierung von Ministerpräsident Bodo Ramelow ablösen will, über den Wahlkampf und die Gefühlswelt der Ostdeutschen gesprochen. Seine Kernaussagen:
Die Linkspartei in Thüringen hat den Slogan geprägt: Bodo oder Barbarei. Das ist eine ziemlich infame und auch völlig unübliche Form des Wahlkampfes.
Über die Gefühlswelt der Ostdeutschen sagt er:
In der politischen Kommunikation kommt es nicht darauf an, was gilt, sondern was ankommt.
Seinen berühmt-berüchtigten Satz „Die Kanzlerin wird nicht als Ostdeutsche wahrgenommen“ erläutert und bekräftigt er:
Angela Merkel hat ihre Rolle nie so gesehen, dass sie nur für Ostdeutschland spricht. Das führt heute in der Wahrnehmung dazu, dass wenn man Ostdeutsche fragt, sie das Gefühl haben, Angela Merkel steht nicht für Ostdeutschland.
Meine Beobachtung ist, dass Berlin den Osten nicht so versteht, wie wir erwarten, wie er verstanden werden sollte. Ich habe nicht zu Unrecht die Priorität Ost eingefordert.
Fazit: Von diesem erst 47-jährigen Politiker wird man noch hören. Warum nicht damit heute Morgen im Morning Briefing Podcast beginnen.
Für den angeschlagenen Bahnchef Richard Lutz könnte dies der Sargnagel sein: Laut einem Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss des Bundestages fehlen dem Konzern bis Ende des Jahres knapp drei Milliarden Euro. Die wirtschaftliche Entwicklung bei der Bahn sei „besorgniserregend“ und die Erträge erodierten weiter, warnen die Prüfer laut ZDF und „Bild"-Zeitung. Die Bestandsaufnahme ist brisant, weil die Bahn die Finanzlücke nicht einfach über neue Schulden abdecken kann. 2016 hatte der Haushaltsausschuss des Bundestags eine Obergrenze für die Verschuldung der Bahn festgelegt. Schon zum 30. Juni dieses Jahres aber hatte die Bahn dem Bericht zufolge den Grenzwert für Ende 2019 überschritten. Lutz, der als ehemaliger Finanzchef einst die Hoffnung auf Solidität verkörperte, ist damit diskreditiert. Es geht nicht mehr um seine Ablösung. Es geht um seine Alternative.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will sich mit dem Kauf eines eigenen Schiffs an der Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer beteiligen. EKD-Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm sagt: Dass Menschen ertrinken, dürfe nicht hingenommen werden. „Not hat keine Nationalität.“ Angesichts der gut belegten Zweifel an der Seenotrettung, der Experten vorwerfen, sie würde die Toten aus Afrika, die sie verhindern will, selbst produzieren, ist diese Entscheidung nur schwer nachzuvollziehen. Womöglich hat sich die Kirchenleitung gedacht: Wenn alle populistisch sind, sollte man sich dem nicht verweigern. Auch Jesus zog schließlich mit seinen Jüngern über die Dörfer und wollte populär sein. Mit kleinen Tricks, die man damals Wunder nannte, sicherte er sich die Aufmerksamkeit des Publikums. Das Wunder für Afrika aber muss in Afrika stattfinden, nicht auf hoher See. Die Kirche sollte Schulen bauen, nicht Schiffe. Damit kleine Menschen groß werden – und nicht flüchtig.
Morgen früh lade ich Sie ein zu einem Morning Briefing Sonderpodcast mit der Schriftstellerin Nora Bossong, die soeben für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Wir sprechen über Literatur und Wirklichkeit. Und sie liest Texte aus ihren Büchern vor. Ich wünsche Ihnen einen gut gelaunten Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr