eine ins Religiöse übersteigerte politische Korrektheit ist die Krankheit unserer Zeit. Viele Zeitgenossen glauben, den Nächsten nicht lieben, sondern rempeln zu müssen. Scheinbar strafen sie ihn für seine Sprache, in Wahrheit aber für seine Gedanken, die er soeben in Worte zu kleiden versuchte. Das Lebensmotto einer Hannah Arendt lautete: Ich will verstehen. Ihre Sprache war ein Entdeckungsverfahren, diente dem Abtasten und Abschöpfen von Wirklichkeit, bevor sie aus dem Rohstoff ihrer Zeit in kunstvoller Produktion sprachliche Plastiken schuf, die in ihren Büchern und Vorträgen ausgestellt wurden. Dort strahlen die Kunstwerke ihres klaren Geistes noch heute. Das Leitmotiv vieler Zeitgenossen lautet jedoch: Ich will recht haben. Neugier wird durch Haltung ersetzt. Sie betreten das Parlament, den Hörsaal, das TV-Studio oder die Redaktionskonferenz mit dem Vorsatz, den Andersdenkenden misszuverstehen, um den derart Fixierten unverzüglich zu etikettieren und zu stigmatisieren. So hofft man, ihn an Erstellung und Vertrieb einer eigenständigen Denkfigur hindern zu können. „Besser als jede Maschinenpistole ist das Wort, denn es tötet blutlos“, fasst „Zeit“-Herausgeber Josef Joffe die Geschehnisse auf dem zeitgenössischen Marktplatz der Meinungen zusammen.
Eine Infografik mit dem Titel: Politische Korrektheit nervt
Ergebnis einer Allensbach-Befragung unter 1283 Bürgern ab 16 Jahre im Mai 2019, in Prozent
Eine Mehrzahl der Deutschen fürchtet sich mittlerweile vor diesen in der Öffentlichkeit begangenen Attentatsversuchen, wobei mit Öffentlichkeit hier das Büro, der Verein oder der Elternabend gemeint sind. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach fand heraus: Annähernd zwei Drittel der Bürger sind überzeugt, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“. Denn es gebe viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind. Neu ist, dass das Volksleiden an der politischen Korrektheit nun auch von namhaften SPD-Politikern wie Boris Pistorius thematisiert wird. Der Bewerber um den Parteivorsitz, im Hauptberuf Innenminister von Niedersachsen, kritisierte, dass während der 23 Regionalkonferenzen Denk- und Sprachverbote gegolten hätten: Über innere Sicherheit, Migrationspolitik, Integration und Extremismus sei bei den Aufeinandertreffen der Postenanwärter nicht ernsthaft debattiert worden. Die Probleme der klassischen SPD-Wähler habe die offizielle Gesprächsführung ohne Not ignoriert. Pistorius mahnt:
Wir dürfen diese Themen nicht unter den Tisch fallen lassen. Denn die Leute trauen uns nur die Lösung von Problemen zu, über die wir auch reden.
Die Erkenntnis, dass die Tabuisierung unliebsamer Themen und Positionen mittlerweile gelebte Praxis in Deutschland ist, hat der Innenminister mit jemandem gemein, der sich als „grün bis in die Knochen“ bezeichnet, auch wenn er von einer Parteimitgliedschaft immer absah. Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem Schriftsteller und Lyriker Matthias Politycki.
In seinem neuen Buch „Haltung finden: Weshalb wir sie brauchen und trotzdem nie haben werden“ beschreibt er sein Leiden an einer Wirklichkeit, die ihm Etiketten aufklebe, „Verkrümmungsdruck“ ausübe und ihn in „Haltungsketten“ zwinge, wo der gute Mensch immer auch Nicht-Flieger, Nicht-Fleischesser, SUV-Hasser, Liebhaber des Grundeinkommens und Flüchtlingsfreund zu sein hat. Deutschland sei ihm auf diese Art „immer fremder geworden“, sagt er.
Ich habe mich nur aufgrund dieses Klimas selbst zum Schweigen verurteilt. Aber das hat mir nicht mehr gepasst.
Sein Denken und Schreiben hätten begonnen, sich unter diesem gesellschaftlichen Druck zu verformen. Immerzu schoss es ihm durch den Kopf:
Heute muss ich jeden Halbsatz auf die Goldwaage legen, um nicht irgendwem Kanonenfutter zu bieten.
Ein verstärkter „Vorab-Meinungsdruck“ führe dazu, dass manche Leute erst zu reden anfingen, wenn die Zeit sehr fortgeschritten und der Alkoholpegel angestiegen sei:
© ThePioneerDann kommen von denselben Leuten ganz andere Wahrheiten – und das finde ich erschütternd.
Jetzt gehe es darum, die vorgefertigten Haltungsketten zu durchbrechen. Politycki wünscht sich:
Selbst denken und auch den Mut haben, jenseits der Meinungskonformität mit einer schrägeren Haltung aufzuwarten.
Fazit: Wir alle sollten es dem Schriftsteller gleichtun und uns ohne Herabsetzung des Andersdenkenden, des Anderslebenden und des Andersaussehenden unsere Meinung bilden, in aller Vorläufigkeit. Denn Wahrheit und Wirklichkeit, das wissen wir mittlerweile, sind flüchtige Geister, deren Rockzipfel wir nur hier und da zu packen bekommen. In liberaler Großzügigkeit halten wir es mit Botho Strauß: „Lieber ein Knecht des Unfasslichen sein als ein Meister des Vorgefassten.“
Der von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan befohlene Militäreinsatz gegen Stellungen der Kurdenmiliz stürzt die Region ins Chaos. Die Fakten heute Morgen:
►Erdoğans Soldaten stoßen plötzlich auf Widerstand. Denn: Die kurdischen Kämpfer bekommen Unterstützung durch Machthaber Baschar al-Assad. Syrische Soldaten seien zwischen den nordostsyrischen Städten Al-Hassaka und Ras al-Ain eingerückt, berichtete die oppositionelle Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Todeszone
Türkische Truppen auf Vormarsch im kurdischen Rebellengebiet
► Die Kurden kämpfen ums Überleben – und opfern dafür möglicherweise ihre Autonomie in der Region. Assad weiß, dass er einen hohen Preis für seine militärische Hilfe verlangen kann. „Wir stehen den türkischen Messern jetzt mit nackter Brust gegenüber“, schrieb der kurdische Kommandant Mazloum Abdi in einem Beitrag für das US-Magazin „Foreign Policy“.
► Die Großen pokern, die Kleinen krepieren: Die Syrische Beobachtungsstelle meldete, dass auf kurdischer Seite seit dem Beginn der Kämpfe mehr als 100 Kämpfer ums Leben gekommen seien. Außerdem seien mindestens 52 Zivilisten getötet worden. Fest steht: Syriens Machthaber ist schon jetzt der Gewinner des Konflikts. Mithilfe Russlands hat sich Assad im Bürgerkrieg behaupten können. Nun steht er kurz davor, seinen Einfluss auf den Norden des Landes auszuweiten. Die USA hat er vertrieben. Die rote Linie, die Ex-Präsident Barack Obama zog und nicht mehr beachtete, hat Nachfolger Donald Trump nun verwischt.
© imagoZweiter Gewinner ist: Wladimir Putin. Russlands Präsident konnte seinen Einfluss in Syrien durch die Treue zu Assad ausbauen. Während der Offensive sucht er allerdings auch den Austausch mit Erdoğan. Es gebe Verbindungen auf präsidialer Ebene, sagt der Kreml. Europa ist wie gelähmt: Am Montag zweifelte die Bundesregierung lediglich die völkerrechtliche Legitimation der türkischen Offensive an. Die EU konnte sich nicht auf ein gemeinsames Waffenembargo gegen die Türkei einigen, Nato-Chef Jens Stoltenberg rief Erdoğan zur Zurückhaltung auf. Dann sagte er:
Die Türkei ist wichtig für die Nato.
So klingen Ertrinkende.
Im Morning Briefing Podcast berichtet die CNN-Chefkorrespondentin Clarissa Ward über die Lage in Nordsyrien. Sie kam erst am Wochenende aus dem Krisengebiet rund um die Grenzstadt Ras al-Ain zurück und erzählt von „unglaublich chaotischen Szenen“, von Massen an Zivilisten, die zum Schutz Matratzen auf ihre Autodächer schnallen und im Verkehrschaos versuchen, zu fliehen. Mit dem Rückzug der US-Truppen sei eine zutiefst destruktive Dynamik entstanden. Die Amerikaner gingen, während Kurden ihre Stützpunkte noch bewachten:
Ich weiß, dass sich viele der amerikanischen Soldaten dafür geschämt haben.
Armin Laschet schiebt sich lautlos nach vorne: Im Politiker-Ranking von Forsa liegt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident derzeit auf Platz drei und genießt mit 48 von 100 Punkten des Trendbarometers in der Bevölkerung mehr Vertrauen als seine möglichen parteiinternen Konkurrenten – nur Kanzlerin Angela Merkel (59 Punkte) und Grünen-Chef Robert Habeck (51 Punkte) schneiden besser ab als er. Gut für ihn: Gegen beide muss er niemals antreten. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer schafft es nicht in die Top 10. Mit 33 Punkten muss sie sich mit Platz 13 zufriedengeben. Für die Erhebung hat Forsa zwischen dem 9. und 11. Oktober bundesweit 1.506 Bürger befragt. Laschets Strategie der freundlichen Zurückhaltung scheint zu zünden. Er regt die Menschen nicht auf, sondern lässt das Bürgertum ruhig schlafen.
Wer in China Geschäfte machen will, braucht die Kommunistische Partei. Ihr Wohlwollen kann man sich erkaufen, so wie es die Deutsche Bank nach Recherchen der „Süddeutschen Zeitung“, dem WDR und der „New York Times“ offenbar in den Jahren 2002 bis 2014 getan hat.
► 100.000 Dollar soll die Bank an eine Beraterfirma gezahlt haben, um ein Treffen zwischen dem damaligen Vorstand und späteren Vorstandsvorsitzenden Josef Ackermann und dem damaligen Staats- und Parteichef Jiang Zemin möglich zu machen.
► So habe Jiang etwa einen Kristalltiger für rund 15.000 US-Dollar sowie eine Stereoanlage von Bang & Olufsen geschenkt bekommen. Der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao habe eine ähnliche Kristallfigur erhalten.
► Deutlich tiefer habe die Deutsche Bank in die Tasche gegriffen, um einen zehnprozentigen Anteil an der staatlich kontrollierten Huaxia-Bank zu übernehmen. Dafür habe sie sich über einen Berater, der mit der Familie Wen eng verbunden war, Insiderinformationen besorgt. Der Mittelsmann habe in mehreren Transaktionen dann mehr als fünf Millionen US-Dollar einkassiert.
► Darüber hinaus habe die Bank mehr als 100 Angehörige einflussreicher Chinesen eingestellt – darunter Kinder von hochrangigen Kadern, Beamten oder Managern staatseigener Betriebe. Laut den Rechercheuren sei die Deutsche Bank, die den Vorfall habe extern aufklären lassen, mit ihrem Fehlverhalten bislang günstig weggekommen. Mit der US-Börsenaufsicht SEC habe man einen Vergleich über 16 Millionen US-Dollar geschlossen, obwohl die Anwälte der Bank 252 Millionen erwartet hatten. Unklar scheint noch, ob die Deutsche Bank der SEC, wie auch der deutschen Finanzaufsicht Bafin, alle ihre Erkenntnisse mitgeteilt hat. Falls Sie Kunde der Deutschen Bank sind, sollten Sie kompromisslos reagieren und auf die im Grundgesetz verankerte Gleichheit der Lebensverhältnisse pochen. Spätestens am 30. Oktober, dem Weltspartag, erwarten Sie mit Sicherheit nicht eine weitere Spardose, sondern: Kristalltiger für alle! Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr