Rente: Der Jahrhundertirrtum

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Guten Morgen,

die Stunde der Wahrheit für das deutsche Rentensystem rückt näher. Ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums beschreibt auf 67 Seiten die Misere:

  • Bis 2025 würden in der gesetzlichen Rentenversicherung „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“ drohen. Zu den klaffenden Löchern im Bundeshaushalt nach der Coronakrise kommen dann noch die Rentenzahlungen an Baby-Boomer hinzu, von denen in den nächsten Jahren immer mehr in Pension gehen werden.

Eine Infografik mit dem Titel: Explodierende Kosten

Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, in Millionen Euro

  • Sollte die Lebenserwartung der Bevölkerung weiterhin steigen, müsste auch das Renteneintrittsalter steigen.

Eine Infografik mit dem Titel: Längeres Leben = Längere Rente

Durchschnittliche Rentenbezugsdauer in Deutschland zwischen 1969 und 2019, in Jahren

  • Es sei realitätsfern zu erwarten, „dass sich höhere Beiträge und ein niedrigeres Rentenniveau dauerhaft vermeiden lassen“, so die Experten.

Eine Infografik mit dem Titel: Steiler Anstieg

Beitragssätze der gesetzlichen Sozialversicherungen in Prozent des Bruttolohns 2020 und Prognose für 2040

Einmal mehr ist deutlich geworden: Der deutsche Sozialstaat beruht auf einem Irrtum, der auch dann ein Irrtum bleibt, wenn ihn Konrad Adenauer, Norbert Blüm und Olaf Scholz in Tateinheit begangen haben. Adenauer meinte: Kinder kriegen die Leute immer. Die ihm nachgeborenen Sozial- und Christdemokraten hielten an dieser Idee fest, die spätestens mit Einführung der Antibabypille und dem darauf folgenden Pillenknick widerlegt war. Die Geburtenrate hat sich seit Adenauers Zeiten halbiert.

Eine Infografik mit dem Titel: Der Pillenknick

Kinder pro Frau vor und nach Einführung der Pille in den USA und Westdeutschland

Auf einen Rentner kamen zu Adenauers Zeiten sechs Arbeitnehmer, sprich Beitragszahler. Im Jahr 2040 aber werden weniger als zwei Arbeitnehmer einen Rentner finanzieren, wenn überhaupt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die finanzielle Belastung für den aktiven Arbeiter im glühenden Kern unserer Volkswirtschaft wird zu groß und die Auszahlung für die Rentner dennoch zu gering.

Der eine kann die Verdoppelung seiner Rentenbeiträge nicht verkraften, den anderen führt die Halbierung seiner Auszahlung in bittere Not.

Die unbequeme Wahrheit lautet daher: Die bundesdeutsche Rentenformel funktioniert nicht mehr. Die Herzgefäße sind verkalkt. Wir müssen einen langfristig funktionierenden Bypass legen − oder bis zum Umfallen arbeiten, wie es der Wissenschaftliche Dienst gestern vorschlug.

Deshalb muss die Analyse im Grundsätzlichen ansetzen: Das Umlagesystem der Sozialversicherung war die Antwort auf die industrielle Massengesellschaft. Der kapitalgedeckte Sozialstaat wäre die Antwort auf ein Wirtschaftssystem, in dem die menschliche Arbeitskraft an Menge (Demografie) und Relevanz (Künstliche Intelligenz) verliert.

Olaf Scholz (künstlich gealtert) © The Pioneer

Doch Olaf Scholz will jetzt nicht einsichtig sein. Er wütete gestern gegen die Experten los:

Die Vorschläge dieses sogenannten Expertengremiums sind falsch gerechnet und unsozial.

Das sind alles Horrorszenarien, mit denen Rentenkürzungen begründet werden sollen, für die es keinen Anlass gibt.

Auf Twitter fasste der Kanzlerkandidat seine Aufregung zusammen:

Rente ab 68? Nicht mit mir!

Zumindest für ihn dürfte diese Aussage der Wahrheit entsprechen. Im Herbst wird gewählt, der nächsten Bundesregierung dürfte kein SPD-Politiker mehr angehören. Scholz, der in fünf Tagen Geburtstag hat, wäre dann mit 63 Jahren reif für die Rente.

Verteidigung, Geopolitik, Diplomatie: Wichtige Schwerpunkt-Themen unserer ThePioneer-Redaktion erhalten mit dem Security Briefing ab sofort ihr eigenes journalistisches Format.

In dem 14-tägig erscheinenden Newsletter informieren unsere politische Reporterin Marina Kormbaki gemeinsam mit Vize-Chefredakteur Gordon Repinski ab heute über aktuelle Themen, Personen und Hintergründe der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik.

Aber auch Experten aus unserer Pioneer-Crew, wie der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels mit seiner Kolumne Situation Room, der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel mit seinem Podcast „World Briefing“ oder unser Investigativreporter Christian Schweppe werden das neue Briefing bereichern.

Der Newsletter erscheint jeden zweiten Mittwoch und kann von allen Pioneer-Mitgliedern bezogen werden.

Stefan Aust © dpa

Stefan Aust ist der Tausendsassa unter den deutschen Journalisten. Er hat die Zeitschrift „Konkret“ zum Leitmedium der Studentenrevolte gemacht; er gründete „Spiegel-TV“, er bescherte dem gedruckten „Spiegel“ wenig später als Chefredakteur über zehn Jahre lang Traumauflagen, die seither in dieser Höhe und Konstanz nie mehr erreicht wurden. Heute ist der „Spiegel“, der seit dem Rausschmiss von Aust im März 2008 an Auflage, Relevanz und politischer Treffsicherheit verlor, nur noch ein Schatten seiner selbst.

Angela Merkel (v.l.), Stefan Aust, Gabor Steingart

Im heutigen Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem heutigen „Welt“-Herausgeber Aust, der nun seine Autobiografie „Zeitreise“ vorgelegt hat. Er erzählt von der gestrengen Mutter und der Kindheit auf dem Lande:

Wir lebten auf einem winzigen Bauernhof zusammen mit sechs Kühen, die später bei der Sturmflutkatastrophe ertrunken sind.

Seine professionelle journalistische Karriere begann im Alter von 20 Jahren bei der Zeitschrift „Konkret“, wo er mit Ulrike Meinhof zusammenarbeitete. Er erinnert sich an seine Kollegin, die später zur Terroristin wurde:

Man merkte schon, dass da ein langsamer Zug in Richtung Gewalt war. Ich hätte mir dennoch nie vorstellen können, dass Ulrike Meinhof allen Ernstes in den Untergrund geht und bewaffnet Banken überfällt.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

In die Zeit des „Spiegel“-Chefredakteurs Aust (1994 bis 2008) fiel die Kontroverse um das Ende der rot-grünen Regierung, für das Schröder nach dem Machtverlust im Jahr 2005 den „Spiegel“ verantwortlich machte. Aust kontert:

Neulich habe ich in dem Zusammenhang etwas ironisch gesagt: ‚Wer hat ihn verraten? Die Sozialdemokraten.‛ Das ist so gewesen. Da gibt's gar keine Frage.

Im Journalismus beobachtet der 74-jährige eine Abkehr von der journalistischen Tugend der Neugier und eine Hinwendung zu den privat gepflegten parteipolitischen Vorlieben:

Der Journalismus hat sich nach links verschoben. Heutzutage gehen vermehrt Leute in diesen Beruf, die sich eher als politische Aktivisten sehen.

Stefan Aust © imago

Heute im Podcast hören sie Ausschnitte aus dem Gespräch, das annähernd zwei Stunden dauerte. Am Samstag dann gibt es − durchsetzt mit Original-Zitaten von Rudi Dutschke, Ulrike Meinhof, Gerhard Schröder und Angela Merkel − die gesamte Unterhaltung unplugged in der neuen ThePioneer Podcast App oder auf ThePioneer.de. Prädikat: lebhaft.

Annalena Baerbock © imago

Die Wahlkampfstrategen um Annalena Baerbock hätten ahnen können, dass Transparenz im Umgang mit den Finanzen der Grünen-Kanzlerkandidatin geboten war. Sie waren vorgewarnt. Unser Leser Andreas Schumacher hatte bereits am 12. März eine Anfrage zu den Nebeneinkünften Baerbocks über das Portal abgeordnetenwatch gestellt. Seine Frage lautete:

Hallo Frau Baerbock, wie hoch sind Ihre jährlichen Nebeneinkünfte in 2020 gewesen − inklusive Einkünfte für Talkshow-Auftritte?

Eine Antwort vom „Team Annalena Baerbock“ kam bereits nach einer halben Stunde:

Frau Baerbock hatte keine weiteren Einkünfte aus Nebentätigkeiten.

Sie sei ihren Anzeigepflichten gegenüber dem Bundestag „vollumfänglich nachgekommen.“

Für Talkshow-Auftritte erhalte Baerbock „grundsätzlich keine finanzielle Entschädigung“, heißt es in der Antwort.

Inzwischen ist klar: Die Aussage zu den Nebeneinkünften ist falsch. Auf Anfrage unseres Hauptstadt-Teams erklärte eine Grünen-Sprecherin, zum Zeitpunkt der Pioneer-Leser-Frage via abgeordnetenwatch habe man in der Parteiführung nichts über die Existenz meldepflichtiger Nebeneinkünfte gewusst.

Das „Versäumnis“ sei erst Ende März festgestellt und dann gemeldet worden.

Gestern äußerte sich die grüne Spitzenkandidatin erneut gegenüber dpa zum Vorwurf, auch ihren Lebenslauf geschönt zu haben:

Das war Mist.

Jens Spahn © dpa

Diese Attacke ging nach hinten los. Die SPD hat − mit Hilfe des „Spiegels“ − versucht, dem CDU-Gesundheitsminister am Zeug zu flicken.

Angeblich wollte der Minister minderwertige Masken an Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger verteilen, was angeblich nur der SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil in letzter Minute habe stoppen können.

Der „Spiegel“ sprach von „Schrottmasken“, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken nannte das Vorgehen Spahns „menschenverachtend“.

Das Magazin hatte die vor rund einem Jahr geführte Diskussion zwischen dem SPD-geführten Arbeitsministerium und dem Gesundheitsministerium zur Verwendung von Masken kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zum Skandal aufgebauscht.

Das Problem: Die Masken hatten das seinerzeit ressortübergreifend akzeptierte interne Prüfsiegel CPI erfüllt, ein für den Alltagsgebrauch ausreichend vor Infektion schützender Standard, der mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel entwickelt wurde.

Schrottmasken? Na ja.

Wer sich an die Stofflappen erinnert, die sich die Deutschen zu Beginn der Pandemie auf Anraten der Bundesregierung vor den Mund und die Nase gehalten haben, ahnt, dass eine Menschenverachtung hier nicht vorliegt.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil  © dpa

Das SPD-geführte Arbeitsministerium verlangte trotzdem Masken mit einem EU-Zertifikat, das einen Schutz auch bei Extremtemperaturen von minus 70 Grad oder plus 30 Grad bietet. Spahns Ministerium begrub daraufhin die Idee.

Das Ergebnis: Viel Lärm um wenig. Die Kanzlerin warf der SPD in der Fraktionssitzung von CDU und CSU gestern die Verbreitung von Fake News vor: Das ist von den Fakten einfach nicht gedeckt.

Fazit: Damit ist das Feuer der Großen Koalition innerlich erloschen. Man schläft noch im selben Bett, aber träumt unterschiedliche Träume.

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Was würde es bringen, auf Inlandsflüge zu verzichten, wie es sich die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock „perspektivisch“ wünscht.

Wenig, sagt unser Hauptstadt-Team. Den Kollegen liegt eine Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei vor.

Demnach beträgt der Anteil von Inlandsflügen an den gesamten Treibhausgas-Emissionen des Verkehrssektors 1,36 Prozent. Zum Vergleich: Auf den Schiffsverkehr entfallen 0,99 Prozent, auf den Schienenverkehr 0,45 Prozent. Den mit 96,47 Prozent größten Anteil hat der Verkehr auf der Straße.

Weitere Details im Newsletter Hauptstadt − Das Briefing.

Die Inlandsflug-Illusion

Was würde ein Verzicht auf Inlandsflüge bringen? Das Verkehrsministerium hat es berechnet.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Kamala Harris © dpa

Kamala Harris hat den Wahlkampf gegen einen denkbaren republikanischen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump eröffnet. Ihr Thema ist sein Thema: Die Migration. US-Präsident Joe Biden hatte seiner Vizepräsidentin die Lösung der US-Flüchtlingskrise anvertraut. Nun reist Harris durch Mittelamerika, um den Ursachen des Flüchtlingsstroms entgegenzuwirken und fand dabei in Guatemala-Stadt deutliche Worte für die Ausreisewilligen:

Kommen Sie nicht. Wenn Sie an unsere Grenze kommen, werden Sie zurückgewiesen.

Die ehemalige Generalstaatsanwältin aus Kalifornien will nicht den Migranten, wohl aber den republikanischen Wählern eine Heimat bieten. Denen ruft sie durch ihr hartes Auftreten zu: Kommen Sie.

Wussten Sie, dass unser Gehirn nur eine halbe bis eine Sekunde benötigt, um ein Bild so zu verarbeiten, dass wir es inhaltlich begreifen UND uns auch daran erinnern können? In derselben Zeitspanne schaffen wir es hingegen lediglich, drei bis fünf einfache Worte zu verarbeiten.

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Diesen und vier weitere wichtige Gründe, warum Bilder im Wahlkampf nicht nur schmückendes Beiwerk sind, erklärt Ihnen ThePioneer-Fotografin Anne Hufnagl in der Auftaktfolge unserer Wahlkampf-Videospecials. Ein Must-Watch für jeden Wahlstrategen − und all jene, die die Wahlkampagnen der Parteien durchschauen wollen.

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Wolfgang Benz © dpa

Heute feiert der Historiker Wolfgang Benz seinen 80. Geburtstag. Seine Forschung widmet er bis heute dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus. Er scheut sich nicht, in die aktuelle Debatte einzugreifen. So sieht und kritisiert er die oft instrumentelle Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs.

Gemeinsam mit Kollegen schrieb er einen Brief an Kanzlerin Merkel, in dem er vor einem „inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismusbegriffs“ warnte.

Bemerkenswert an Benz ist die seltene Fähigkeit, eigene Urteile nicht zu perpetuieren, sondern bei Bedarf auch zu korrigieren.

Auf die Frage, ob die Entwicklung unserer Demokratie an Zustände während der Weimarer Republik erinnert, als 1932 Hitler vor den Toren stand, antwortete er stets verneinend. Benz:

Jahrzehntelang habe ich voller Inbrunst Nein gesagt wegen der völlig anderen Grundvoraussetzungen.

Heute ist er nicht mehr so zuversichtlich. Das liege am verletzenden und oft verleumderischen Treiben auf den sozialen Netzwerken, begründet er die Selbstkorrektur.

Die Sozialen Medien funktionieren außerhalb jeder Kontrolle und außerhalb jedes journalistischen und menschlichen Anstands. Damit ist eine neue Macht entstanden. Niemand weiß, wie sie zu kanalisieren ist.

Ich wünsche ihm und Ihnen einen nachdenklichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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