das politische Erdbeben, dessen Epizentrum zunächst im thüringischen Landtag lag, hat das Berliner Regierungsviertel erreicht. Der Scoop von AfD-Landes- und Fraktionschef Björn Höcke, der dem ehemaligen Friseurunternehmer Thomas Kemmerich (FDP) für 24 Stunden zum Posten des Ministerpräsidenten verhalf, verändert auch die Machttektonik in Berlin:
© dpaCDU: Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer steht deutlich geschwächt da. Ihre Amtsautorität reicht erkennbar kaum über die Pförtnerloge des Konrad-Adenauer-Hauses hinaus. Die Junge Union und die Mittelstandsvereinigung von CDU/CSU erheben auch öffentlich schwere Vorwürfe gegen die Vorsitzende mit dem unausgesprochenen Ziel, ihr den Griff nach der Kanzlerkandidatur zu verweigern.
Seit der Erklärung von Friedrich Merz, er werde seinen Job bei Blackrock niederlegen und für den nächsten Bundestag kandidieren, fühlen sich die Widerständigen revitalisiert. Kramp-Karrenbauer wird belauert und betuschelt. In der Union herrscht Putschstimmung.
© dpaErst das Machtwort der Angela Merkel – diesmal aus Afrika nach Deutschland übermittelt – sorgte für klare Verhältnisse, sie nannte die Wahl von Thüringen „unverzeihlich“, sprach von einem „schlechten Tag für die Demokratie“ und beharrte darauf das Wahlergebnis zu revidieren:
Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat.
Die Merkel-Renaissance – die in den demoskopischen Analysen seit längerer Zeit schon aktenkundig ist – hat eingesetzt, noch bevor ein konkretes Datum für ihren Umzug von der Kommandohöhe ins Privatleben überhaupt fest steht. „Spiegel“-Autor Dirk Kurbjuweit hat es in seinem Merkel-Buch „Alternativlos“ treffend so beschrieben:
Sie regiert mit kleinem Auftritt, mit inszenierter Authentizität. Merkel entspricht auf eine nahezu unheimliche Weise den Wünschen ihrer Deutschen, politisch und wesenshaft. So symbiotisch war das noch nie.
Das Buch stammt aus dem Jahr 2014 und wird – falls es erlaubt wäre, das Wort Wahrheit zu steigern – immer wahrer.
© imagoCSU: Der Parteichef und bayerische Ministerpräsident Markus Söder war der einzige Spitzenpolitiker der Union, der unmittelbar nach dem Tabubruch von Thüringen klug und eindeutig reagierte.
Es ist ein inakzeptabler Dammbruch, sich mit den Stimmen der AfD und sich gerade mit den Stimmen von Herrn Höcke zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen.
Da solche Vorgänge auch über den Anlass hinaus eine Art Charaktertest für jeden Politiker darstellen, muss man in seinem Fall sagen: Söder hat ihn bestanden. Seine politischen Instinkte sind intakt.
© dpaFDP: Bei den Liberalen ist nichts mehr so, wie es vorher war. Parteichef Christian Lindner kämpft ums Überleben, auch wenn noch niemand öffentlich seinen Rückzug von der Parteispitze fordert. Alles hängt jetzt von der Frage ab: Hatte der thüringische Kurzzeitministerpräsident das Plazet Lindners, als er die Wahl annahm? War der Vorgang ein Betriebsunfall oder ein kühl kalkulierter Ausfallschritt Lindners, um das Publikum mit einer machtpolitischen Volte zu beeindrucken?
Fest steht: Die FDP, die er 2017 zurück in den Bundestag führte, sackte danach ab und stagniert seither. Der grüne Aufwärtstrend und der kometenhafte Aufstieg des Robert Habeck raubten Lindner erst das Momentum und dann die Wählerpotenziale. Das progressive Milieu setzt sich seit längerem von dem Porschefahrer und Rotwildjäger ab, derweil eine ins Christsoziale gewendete CDU reichlich Raum rechts der Mitte lässt. Ein Kritiker aus der Bundestagsfraktion ist überzeugt: Lindner hat bewusst die Schleusen nach rechts geöffnet.
Heute Vormittag treten die Führungsgremien der FDP zusammen. Lindner hat die Vertrauensfrage gestellt. Am Wochenende berät die FDP-Bundestagsfraktion in einer Klausur über das weitere Vorgehen. Dringen keine weiteren, ihn belastenden Details nach außen und behält der thüringische Fraktionschef sein Insiderwissen für sich, ist Lindner vorerst in Sicherheit.
Allerdings hat hinter seinem Rücken eine Flüsterkampagne begonnen. Bereits kursieren Namen für eine Nachfolgelösung. Genannt werden der baden-württembergische FDP-Chef Michael Theurer sowie die ehemalige Stellvertreterin Lindners und derzeitige Oberbürgermeister-Kandidatin für Düsseldorf, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Neu ist: Lindner kann sich auf den Rückhalt der Führungsgremien nicht mehr blind verlassen. Die Loyalität zu ihm hat ein Verfallsdatum.
© dpaSPD: Die SPD versucht, mit einer zügig gestartet Mitgliederkampagne und wortreicher Empörung von den Ereignissen zu profitieren. Aber in Wahrheit sitzt Deutschlands älteste Partei auf der Zuschauerbank. Ihre Wortraketen zünden nicht mehr. Ihre stark geschrumpfte Relevanz wird für jedermann sichtbar.
© dpaAfD: Die Partei von Björn Höcke hofft, von der nun notwendig gewordenen Neuwahl in Thüringen zu profitieren. Fest steht: In ihrem Milieu wird das Machtwort der Bundeskanzlerin und der Rücktritt des FDP-Ministerpräsidenten als Verrat empfunden. Die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Alice Weidel, sagte:
Ich appelliere an die Abgeordneten in Erfurt, sich von derlei demokratiefeindlichen Zurufen nicht beeinflussen zu lassen.
In den Filterblasen des rechtspopulistischen Milieus wackeln die Wände. So heißt es bei dem Blog „Tichys Einblick“:
Der Tag von Thüringen hat den finalen Beweis erbracht, dass das Modell der parlamentarischen Demokratie mit unabhängigen Bürgervertretern der Vergangenheit angehört. Es wurde ersetzt durch eine Parteienautokratie, deren Parlamentsvertreter nur noch willenlose Erfüllungsgehilfen ihrer linksgestrickten Eliten sein dürfen.
Der Parteienforscher Professor Werner Patzelt glaubt, dass Höcke am Ende des Wahlkampfs mit einem Opferbonus belohnt werden dürfte. Im Gespräch mit meinem Kollegen Michael Bröcker für den Morning Briefing Podcast sagt Patzelt:
Björn Höcke hat die Chance, ein Gewinner zu sein, wenn er sich weiter um ein flaches Profil bemüht und um die Vermeidung von skandalisierungsfähigen Aussagen. Und wenn er seine AfD als diejenige Partei darstellt, die zur Stabilität Thüringens habe beitragen wollen, und die ,Alt- oder Systemparteien‘, also diejenigen Parteien, die diese staatspolitisch so wohlmeinende Hilfestellung ausgeschlagen haben.
Für den Politologen ist die Union, die derzeit auf schwarz-grüne Bündnisse setzt, auf dem Holzweg. Die Ausgrenzungsstrategie gegenüber der AfD werde nicht funktionieren:
© dpaDie CDU hat sich in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der sie nicht mehr unbeschadet hervorgehen kann. Richtig wäre gewesen, die AfD gar nicht erst groß werden zu lassen, in dem man nicht klassische CDU-Positionen der AfD zur Selbstbedienung überlässt.
Der ganz große Gewinner dürfte der Verlierer von Mittwoch sein. Der abgewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei hat gute Chancen, seine Stimmen zu maximieren. Einer Blitzumfrage des ARD-Deutschlandtrends zufolge finden 61 Prozent der Befragten Kemmerichs Rücktritt richtig. Im „Spiegel-Interview“ rechnet Ramelow mit den Liberalen und der CDU ab:
Ich habe mich zum Trottel gemacht, weil ich dachte, ich rede mit Demokraten.
Ich bin von Thomas Kemmerich, dem CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring und anderen menschlich zutiefst enttäuscht, weil sie lieber mit Faschisten regieren wollten, als nicht zu regieren.
Bei einer Neuwahl des Landtags steht Ramelow weiter als Kandidat zur Verfügung:
Ich bin bereit, meinen Hut wieder in den Ring zu werfen.
Fazit: Die Ränder erstarken, die Mitte erodiert. Mit der FDP droht sogar die klassische deutsche Mittelstandspartei unter die Räder zu kommen. Ein Liberalismus, der sich an Rechts verkauft, wird nicht gebraucht.
Am heftigsten wird die innerparteiliche Debatte daher auch in der FDP geführt. Die Lindner-Freunde sind so rar wie auf dem Rohstoffmarkt die Seltenen Erden.
Die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist entsetzt und macht daraus keinen Hehl.
Man wird als FDP jetzt immer die Frage beantworten müssen: Passiert so etwas noch mal oder war das wirklich ein einmaliger Blackout.
Michael Theurer , FDP-Fraktionsvize und Chef der baden-württembergischen Liberalen, sagt:
Jetzt muss sich das gemeinsame Bemühen der FDP-Spitze auf Schadensbegrenzung konzentrieren. Die Freien Demokraten werden als Partei der bürgerlichen Mitte gebraucht.
Die Thüringer Verhältnisse sind durch die Wähler verursacht worden. Wir werden mit ihnen über das Erstarken der extremen Rechten, aber auch der extremen Linken reden müssen.
Am Sonntag wird der Verleger Hubert Burda, der die alte wie die neue Medienwelt in seinem Imperium vereint, 80 Jahre alt. Der Mann ist reich, vor allem an Lebenserfahrung und verfügt über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Zuversicht.
© dpaDie Lebenserfahrung hat ihm ein schwieriges Elternhaus regelrecht aufgenötigt. „Der Vater war bockelhart gegen mich und hat mich teilweise vor versammelter Mannschaft zur Sau gemacht“, erinnerte sich Hubert Burda in einem Interview mit dem „SZ-Magazin“, das anlässlich seines 75. Geburtstages geführt wurde. Seine Mutter brannte sich der Familie mit dem Satz ein: „Mir geht’s gut, ich hasse!“
In tief empfundener Einsamkeit verbrachte Hubert Burda seine Jugend: „Das Einzige, was mich überleben ließ, war ein Song von Simon & Garfunkel, den ich immerzu hörte: „I am a rock, I am an island.“
Doch das Produkt dieser Lebensumstände ist kein grantelnder Griesgram, wie man hätte vermuten könne, sondern ein gut gelaunter Impresario. Hubert Burda lacht und singt gerne - zur Not auch schief. „Lebenskunst ist, dass dein Leben nicht auf der Intensivstation endet“, sagt er, „sondern mit einer Überfahrt“:
Für diese Überfahrt musst du dich vorbereiten. Ich fülle mich mit Bildern und Poesie auf, um Proviant für das andere Ufer zu haben.
Möge sich die Abfahrt noch ein wenig verzögern. Ich wünsche ihm und seiner Familie am Samstagabend eine beschwingte Geburtstagsfeier.
Apropos Schiffsabfahrt:
Der Bau unseres Redaktionsschiffs Pioneer One geht planmäßig voran. Am 29. April beginnt die zehntägige Jungfernfahrt von der Lux-Werft in Mondorf bei Bonn ins Berliner Regierungsviertel. Das Motto: „Vom Ich zum Wir. Fluss der Gedanken“. Hier der Baufortschritt in Bildern:
© ThePioneer © ThePioneer © ThePioneer © ThePioneerIch wünsche Ihnen einen fröhlichen Start ins Wochenende. Es grüßt Sie herzlichst Ihr