Sehnsucht nach Gemeinschaft

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Guten Morgen,

Corona hat Folgen, die über das medizinische Infektionsgeschehen hinaus reichen. Die Pandemie verändert über den Ton auch die Tatsachen: Die Lust an der gesellschaftlichen Polarisierung, die weltweit den Aufstieg einer Kaste rhetorisch begabter Populisten begünstigte, weicht einer neuen Sehnsucht nach Gemeinschaft.

Der neue Gemeinschaftsbegriff, das unterscheidet ihn, ist ökonomisch grundiert: Es geht um eine Gemeinschaft ohne Weihrauch. Das verbindende Element sind nicht Pfadfinder-Romantik und Kirchentagslametta, sondern handfeste ökonomische Interessen. „The animal spirit“, mit dem John Maynard Keynes einst den Kapitalismus beschrieb, treibt den Gegenwartsmenschen zur Herde zurück.

Charles Darwin © dpa

Die darwinistische Idee vom „survival of the fittest“ hat gelitten, auch deshalb, weil unklar ist, ob man selbst noch zu den „Fitten“ gehört. Kulturschaffende, Messeveranstalter, Einzelhändler, Verlagsangestellte und Soloselbstständige, aber auch Piloten, Autobauer und Künstler wissen, was hier gemeint ist. Das Wort „Selfmademan“ können wir fürs Erste aus unserem Sprachschatz verabschieden, weil in der jetzigen Lage kaum jemand seines Glückes Schmied ist. Das Virus schmiedet immer mit.

Der Zentralwert der virologisch definierten Moderne handelt daher auch nicht mehr von Rendite und Superbonus, sondern von Geborgenheit, wobei diese – aufgrund der Schwere des pandemischen Eingriffs – nicht allein von Freunden und Nachbarn erbracht werden kann, sondern durch den Staat und seine Institutionen vermittelt werden muss. Wir erleben das, was die Amerikaner „Big Government“ nennen, mit dem Unterschied zur Vor-Corona-Zeit, dass es vielen gar nicht big genug sein kann.

Papst Franziskus © dpa

Der Papst hat das für ihn günstige Zeitfenster erspürt und schlüpft mit seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ in die öffentliche Arena. Es sei notwendig, zu erkennen, dass wir „wieder an alle denken anstatt nur an den Nutzen einiger.“ Es sei möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit biete. Der Markt, so der Papst über den Anti-Christ unserer Zeit, könne die wahren Probleme der Welt nicht lösen.

Wahrheit 1: In diesen Zeiten ein Liberaler zu sein ist keine Freude, sondern eine Zumutung.

Wahrheit 2: Diese Zumutung ist eine notwendige. Wenn wir schon damit beginnen, unser Leben, das bisherige, neu zu denken, warum dann nicht auch den politischen Liberalismus. Der Einzelne und der Andere treten in eine neue Beziehung zueinander.

Dazu passt die Idee von einem Kapitalismus ohne Kapitalisten, die nicht mehr nur gedacht, sondern jetzt erprobt werden soll. Die Initiative für „Verantwortungseigentum“, die zuerst im Pioneer-Podcast „Der 8.Tag“ einem größeren Publikum vorgestellt wurde, versammelt mittlerweile 600 Unterstützer, die für eine Reform des aus der Kaiserzeit stammenden „GmbH-Rechts“ werben.

Nicht mehr der Patriarch oder sein Familiennachwuchs sind das Idealbild dieser Initiative, sondern eine Eigentümerschaft, die Stimmrechte und Gesellschafteranteile entkoppelt. Man bezieht sich auf die „Brüder und Schwestern im Geiste“, wie sie in der religiösen Klostergemeinschaft zu finden sind.

Zu den Unterzeichnern gehören Christof und Ise Bosch, Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, Thomas Bruch (Globus), Götz Rehn (Alnatura), die vielfache Aufsichtsrätin Prof. Ann-Kristin Achleitner und die Digital-Expertin Verena Pausder.

Sie erklärt den Kern der Idee im heutigen Morning Briefing Podcast so:

Anders als bei einem Familienunternehmen, wo das Unternehmen der Familie gehört, gehört dieses Unternehmen einem erweiterten Familienbegriff. Man übergibt das Unternehmen sozusagen an eine Art neue Familie und gewährleistet dadurch die Langfristigkeit, wenn man beschließt, dass es nicht verkauft werden kann.

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Ann-Kristin Achleitner ergänzt:

Die Frage ist, was wir aus unserem Unternehmerbild gemacht haben. Ein Unternehmer ist jemand, der mit viel Energie ein Ziel verfolgt, sich dafür die Ressourcen sucht. Wir haben Unternehmer in allen Bereichen. Ich glaube, dieses erweiterte Unternehmerbild wieder zu beleben, ist wichtig.

Eine Gegenbewegung hat sich bereits in Bewegung gesetzt: Carsten Linnemann, Bundestagsabgeordneter der CDU und Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, sagt:

Wenn Eigentum von Haftung weitgehend entkoppelt wird, hat das mit Sozialer Marktwirtschaft wenig zu tun.

Carsten Linnemann © dpa

Die Debatte über das Denken in Dynastien ist eröffnet. Angesichts einer verbreiteten Kinderlosigkeit auch in Kreisen der Familienunternehmen und eingedenk der Tatsache, dass der Gencode nicht automatisch zur Führung einer Firma befähigt, dürfte der Austausch der Argumente ein lohnender sein. Eine Tradition, die in vielen Fällen aufgehört hat zu funktionieren, ist keine Tradition, sondern ein Relikt.

Andreas Kalbitz, Alexander Gauland, Jörg Meuthen © dpa

Corona hat auch auf der politischen Bühne die Sehnsucht nach nationaler Einheit verstärkt. Parteipolitisches Gezeter, schon in normalen Zeiten eine ungeliebte Disziplin in Deutschland, wird in den Meinungsumfragen abgestraft.

Viele ihrer bisherigen Wähler und Wählerinnen empfinden die AfD daher nicht mehr als Alternative, sondern als Belastung. In der Umfrage für „Bild am Sonntag“, durchgeführt von Kantar (Emnid), kann die Partei selbst in Ostdeutschland, wo sie bislang als beliebteste Partei galt, nicht mehr reüssieren.

Innerhalb eines Jahres sind die Rechtsnationalen von Platz eins auf Platz drei gerutscht. Im Oktober 2019 lag die AfD im Osten noch bei 24 Prozent und damit einen Prozentpunkt vor der CDU. Aktuell kommt sie auf 18 Prozent, hinter CDU und der Linken.

 © dpa

Drei handfeste Ereignisse sind für diesen Absturz verantwortlich:

1. Die Tatsache, dass der ehemalige Sprecher der Bundestagsfraktion, Christian Lüth, die Vergasung von Migranten angeregt hatte, stößt ab. Bürgerliche AfD-Wähler sind sprachlos.

2. Die Rüpelhaftigkeit des ehemaligen brandenburgischen Fraktionsvorsitzenden Andreas Kalbitz, der seinem Parteifreund Dennis Hohloch zur Begrüßung einen Milzriss verpasste, kann ebenfalls nicht überzeugen. So treten Wirtshausschläger auf, keine Politiker.

Björn Höcke © dpa

3. Thüringens Landes- und Fraktionschef Björn Höcke, der immer wieder den Parteivorsitzenden Jörg Meuthen zu demütigen versucht, hat die Koordinaten der Partei durch die von ihm angeführte „Flügel“-Gruppierung weiter nach rechts verschoben – und damit in den toten Winkel des deutschen Parteienspektrums.

Fazit: Viele AfD-Wähler wünschten sich bei der Parteigründung durch den Wirtschaftswissenschaftler Prof. Bernd Lucke eine konservative CDU, aber keine getarnte Vorfeldorganisation der NPD.

Donald Trump und Joe Biden © imago

In den USA wird der TV-Auftritt von Donald Trump als Gruß aus der Vergangenheit empfunden. Laut einer gestern veröffentlichten Reuters/Ipsos-Umfrage konnte dessen Rivale Joe Biden seinen Vorsprung auf den Präsidenten auf zehn Prozentpunkte ausbauen:

Eine Infografik mit dem Titel: Biden klar vor Trump

Umfrage* unter US-Amerikanern, wer die anstehende Präsidentschaftswahl gewinnen sollte

Alle Augen richten sich nun auf die anstehende Debatte zwischen den beiden Kandidaten für das Vizepräsidentenamt, Mike Pence und Kamala Harris. Trumps Stellvertreter und die Senatorin aus Kalifornien werden – nach bisherigen Planungen – in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag (3 Uhr deutscher Zeit) zu ihrer ersten und einzigen Fernsehdebatte aufeinandertreffen. Nach Trumps Corona-Erkrankung soll in dem Saal in Salt Lake City (Bundesstaat Utah) eine Maskenpflicht herrschen.

Doch angesichts des hohen Alters von Trump und Biden; und angesichts auch der Erkrankung des Präsidenten wird die Stellvertreter-Debatte mit anderen Augen gesehen. Hier haben zwei denkbare Präsidenten ihren Auftritt.

Anton Hofreiter und Annalena Baerbock © imago

Rund zwölf Monate vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr legt die Grünen-Spitze die Latte für eine Regierungskoalition weit nach oben. In einem gemeinsamen Vorstoß fordern Partei- und Fraktionsführung ein Moratorium für den Neubeginn von Autobahnen und Bundesstraßen.

Parteichefin Annalena Baerbock zur „Süddeutschen Zeitung“:

Wir brauchen eine andere Verkehrspolitik.

Der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter fügt an:

Die Planungen für Autobahnen und Bundesstraßen müssen grundsätzlich auf die Einhaltung der Klimaziele, Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit überprüft werden.

Ein besonders umstrittenes Bauprojekt, der Weiterbau der A49 in Hessen, wird unter dieser Prämisse zum Politikum. Baerbock fordert den Baustopp, die hessischen Grünen haben allerdings in der Koalition den Weiterbau genehmigt. Unser Pioneer-Hauptstadt-Team hat mit dem betroffenen SPD-Ortsbürgermeister Philipp Rottwilm gesprochen. Er wirft den Grünen „unerträgliche Doppelmoral“ vor.

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Es gibt einen Aufstand gegen den Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus, organisiert von den Abgeordneten des Wirtschaftsflügels. In einer internen Sitzung hat man Brinkhaus, der einst als durchsetzungsstarke Alternative zu dem Merkelianer Kauder angetreten war, nun vorgeworfen, SPD-Gesetze wie am Fließband durchzuwinken; auch solche, die gegen zentrale Werte der Wirtschaftsparteien CDU und CSU verstoßen.

Ein Sündenregister von 55 Verordnungen und Gesetzen liegt den Kollegen vom Hauptstadt-Newsletter vor, das den Nachweis führen soll, dass Brinkhaus vor allem der SPD-Politik zum Durchbruch verhilft. Im Falle eines Durchmarsches des Teams Laschet/Spahn, auch das wird Brinkhaus heute Morgen lesen müssen, sind seine Tage als Fraktionschef gezählt. Jens Spahn hat mehr als nur ein Auge auf den Posten geworfen.

Details finden Sie auf unserer Webseite ThePioneer.com.

Anton Piëch © dpa

Konkurrenz belebt das Geschäft: Das denkt sich auch Anton Piëch, der Urenkel des Porsche-Gründers Ferdinand Porsche und eines der 13 Kinder des VW-Chefs Ferdinand Piëch.

Für sein Schweizer E-Auto-Startup „Piëch Automotive“ holt er sich nun prominente Verstärkung: Er besetzt den Chefposten des Aufsichtsrats mit Matthias Müller, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des VW-Konzerns, der auf diesem Weg anderthalb Jahre nach seinem Abschied bei Porsche und VW in die Automobilbranche zurückkehrt.

 © imago

Neben Müller verpflichtet Anton Piëch auch den ehemaligen BMW-Technikchef Klaus Schmidt sowie den Porsche-Mitarbeiter Andreas Henke als Co-Vorstandschef. Mit Jochen Rudat ist auch ein ehemaliger Tesla-Mitarbeiter dabei: Der frühere Europachef des amerikanischen E-Autobauers leitet künftig den Vertrieb.

Finanzielle Unterstützung erhält die abenteuerlustige Truppe vor allem von Peter Thiel, dem deutschen Tech-Milliardär und Investor, der zusammen mit Elon Musk PayPal gegründet hat.

 © imago

Das Coronavirus entwickelt sich für die Filmindustrie zur existenziellen Krise: Der Kinostart des neuen James-Bond-Films „Keine Zeit zu sterben“ ist erneut verschoben worden. Die Produzenten Michael G. Wilson und Barbara Broccoli begründeten den Schritt damit, dass der Film so „von einem weltweiten Kinopublikum“ gesehen werden könne.

Es ist bereits die vierte Verschiebung von „Keine Zeit zu sterben“. Die Premiere des 25. Bond-Films scheiterte immer wieder an der Funktionsfähigkeit des Kinos. Erst waren sie geschlossen, nun ist eine Bestuhlung nur für rund 20 Prozent der Sitzplätze erlaubt.

Daniel Craig als James Bond © imago

Wir lernen: Auch James Bond hat Angst – vor einem Fehlstart mit Verlusten.

Jeff Jarvis © dpa

Das neuerliche Verlangen nach Harmonie (siehe oben) hat auch auf den Journalismus beruhigend gewirkt. Für den New Yorker Medienwissenschaftler Jeff Jarvis ist es höchste Zeit, die gesellschaftliche Polarisierung zu beenden und zu produktiven Formen der Auseinandersetzung zurückzukehren.

Wir müssen uns die Mittel der Argumentation zurückerobern.

Auch in Deutschland, wo unser Pioneer-Projekt von den etablierten Redaktionen zunächst mit Argwohn und dann mit offener Ablehnung begleitet wurde, hat sich mittlerweile ein gemäßigter Ton eingestellt. Das Anliegen, durch Dialog den Perspektivwechsel zu ermöglichen und einen Journalismus der Mitte zu stärken, wird mittlerweile besser verstanden als noch im Frühjahr.

Matthias Daniel © dpa

In der neuen „Journalist“-Ausgabe, dem Branchenmagazin des Deutschen Journalistenverbandes, schreibt Chefredakteur Matthias Daniel:

Wenn man an Steingarts Provokations-Masche vorbeischaut, erkennt man auf dem Schiff in der Tat einen relevanten Journalismus, mit neuen Formaten und Ideen.

Sebastian Turner © dpa

Auch Sebastian Turner, der ehemalige Chef der Agentur Scholz & Friends und nunmehr scheidende Herausgeber und Co-Gesellschafter des „Tagesspiegels“, hat für unser Projekt Worte der Anerkennung zur Hand:

Das Spreeschiff ist eine herrliche Idee von Gabor Steingart, die ich auch gerne gehabt hätte. Seine journalistische Seefahrt beeindruckt mich sehr.

ThePioneer © Anne Hufnagl

Fazit: Wir Journalisten müssen und dürfen nicht alle das Gleiche sehen, fühlen und schreiben. Aber der andere, auch der anders sehende, fühlende und schreibende, ist Mitstreiter, nicht Feind. Das Christian-Wulff-Motto „Vielfalt statt Einfalt“ gilt auch für die Medien. In diesem Sinne danken wir aufrichtig für die Anerkennung.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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