das Lieblingsinstrument dieser Tage ist die Kriegstrommel. Politiker, Militärs und die Medien schlagen geradezu lustvoll Alarm. Seit Tagen lancieren amerikanische Militärs das Gerücht, dass am Mittwoch der Einmarsch der russischen Soldaten in der Ukraine bevorstünde. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzte gestern – anlässlich seiner Amtszeitverlängerung – einen dramatischen Appell ab:
Herr Putin, lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine.
In vielen Medien werden bereits Analogien zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg gezogen. Das soll gelehrig und bedeutsam klingen. Nur: Mit der politischen, militärischen und ökonomischen Realität im 21. Jahrhundert und den objektiven russischen Interessen haben diese Analysen nicht viel gemein.
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Es ist der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari, der im aktuellen „Economist“ daran erinnert, dass der klassische Krieg seine Funktion, die Ausweitung von Macht und Wohlstand, in der Moderne weitgehend eingebüßt hat. Deshalb sei der Krieg zwischen den großen Mächten auch de facto ausgestorben:
Der neue Frieden ist kein statistischer Glücksfall und entspringt auch nicht einer Hippie-Fantasie.
Es sind folgende fünf Gründe, die den Krieg vom historischen Normalfall des 18., 19. und 20. Jahrhundert zum Ausnahme-Phänomen des 21. Jahrhunderts befördert haben:
1. Kriege sind immer der Ausdruck der technologischen Möglichkeiten und der ökonomischen Kosten-Nutzen-Abwägungen der Herrscher. Harari sagt:
Anders als die Schwerkraft ist der Krieg kein Naturgesetz.
Eine Infografik mit dem Titel: Russland in Position
Anzahl russischer Truppen nach Stützpunkten im Grenzgebiet zur Ukraine am 9. Februar 2022
Das bedeutet: Ändern sich die technologischen und die ökonomischen Voraussetzungen, so ändern sich auch der Charakter und die Häufigkeit des Krieges.
2. Die Fähigkeit der Atommächte, sich gegenseitig zu vernichten, hat den Krieg seiner Rationalität beraubt und ihn in einen Akt des kollektiven Selbstmords verwandelt. Deshalb fürchten die Großmächte China, Russland und Amerika zwar noch immer den Atomkrieg, aber sie bereiten ihn nicht vor. Der Krieg hat für sie seine Führbarkeit verloren.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Opfer der Kriege
Gesamtzahl der Kriegsopfer ausgewählter Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg
3. Die wichtigsten Quellen für Wohlstand waren früher Rohstoffe und Nahrungsmittel, also Goldminen, Weizenfelder und Ölquellen. Die wichtigste Quelle für Wohlstand in der heutigen Welt ist Wissen. Aber Wissen kann man nicht mit einem Panzer erobern und mittels eines Folterknechts auch nicht ausbeuten. Harari sagt:
Als Ergebnis dieser Entwicklung ist die Profitabilität einer militärischen Eroberung deutlich gesunken.
4. Als Reflex auf diese ökonomischen und technologischen Veränderungen bevorzugen die Wähler der Nationalstaaten nicht mehr den Typus des militärischen Eroberers. Selbst George W. Bush und Donald Trump, gar nicht zu reden von Merkel und Co, sagt Harari, seien deswegen andere Politikertypen als Attila der Hunnenkönig. Der normale Politiker verdanke seinen Aufstieg nicht dem Krieg, sondern einem Reformversprechen im Innern.
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5. Hinzu kommt, dass die Waffengänge der vergangenen Jahrzehnte für den Angreifer regelmäßig im Desaster endeten. Russen und Amerikaner mussten Afghanistan reumütig verlassen. Auch die Kriege in Vietnam und im Irak brachten den Kriegsherren nicht die gewünschten Ergebnisse. Seit 1945, sagt der Historiker, ist es selten geworden, dass internationale Grenzen neu gezogen wurden. Nicht ein einziger Staat verschwand seither durch Krieg von der Landkarte:
Der Abstieg des Krieges lässt sich in Zahlen fassen.
Allerdings: Ein gedankliches Schlupfloch lässt der Historiker für seine Argumentation dennoch gelten: So wenig wie die Existenz des klassischen Krieges ein Naturgesetz gewesen sei, sei auch das Verschwinden des Krieges in der Moderne kein Naturgesetz:
Eine einzige falsche Entscheidung eines irrational handelnden Menschen kann auch heute noch zu Krieg führen.
Oder anders ausgedrückt: Wir sind im Falle des russisch-westlichen Wettdrohens die Zeitzeugen eines vor großem Publikum durchgeführten Intelligenztests.
© dpaEine Frage, die es dabei zu beantworten gilt, lautet: Wie irrational ist Wladimir Putin? Die frühere ARD-Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz kennt Land und Leute und auch die Führungsstrukturen in Russland wie kaum eine zweite. Von 1987 bis 1991 hat sie in Moskau gelebt und seitdem mehrere Bestseller über das Land verfasst. Mit ihr spreche ich heute im Morning Briefing Podcast. Sie sagt über Putin:
Nicht nur die Ukraine, auch Putin sieht eine Schlinge um sein Land gelegt mit Blick auf die NATO-Osterweiterung und darauf, dass Russland im Grunde genommen seit dem Zerfall der Sowjetunion als zusammengekrachte Supermacht behandelt wird. Sicherheitsinteressen, die Russland ja auch hat, sind einfach nicht zur Kenntnis genommen worden.
Dem Westen rät sie, die Sicherheitsbedürfnisse der Russen ernst zu nehmen:
© dpaVielleicht kann man die Vorgänge auch so interpretieren, dass dieser Truppenaufmarsch und dieses Bedrohungsszenario wie eine Art letztes Stoppschild sind, wie eine Art Hilferuf. Das ist ja kein Zeichen von Stärke, sondern eher von Schwäche, dass man endlich mal ernst genommen werden möchte.
Sie spricht Putin nicht frei davon, verantwortlich zu sein für die aktuelle bedrohliche Situation. Aber sie sieht auch den Westen in der Pflicht, seine jahrzehntelange Russland-Politik zu korrigieren:
Der Westen sollte Russland die Hand reichen, insofern, dass man auf Augenhöhe über existierende Probleme diskutiert. Es geht nicht darum, dass man wieder Symbolpolitik betreibt, sondern das man diesmal wirklich versucht, eine Sicherheitsarchitektur auf die Beine zu stellen, die sowohl den baltischen Staaten als auch den Polen ihr Sicherheitsgefühl erhält, zugleich aber auch Russland in diese Sicherheitsarchitektur einbezieht. Das hielte ich für eine tragfähige Basis.
Fazit: Hier spricht eine Stimme der Vernunft und der Entspannung. Man muss Gabriele Krone-Schmalz nicht in allem folgen. Aber man sollte ihr zuhören.
Nach US-Warnungen vor einem russischen Angriff hat nun auch die Bundesregierung ihre Staatsbürger aufgefordert, die Ukraine zu verlassen. In einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes heißt es:
© imagoWenn Sie sich derzeit in der Ukraine aufhalten, prüfen Sie, ob Ihre Anwesenheit zwingend erforderlich ist. Falls nicht, reisen Sie kurzfristig aus.
Das Ministerium warnte:
© dpaDie Spannungen zwischen Russland und der Ukraine haben angesichts massiver Präsenz und Bewegungen russischer Militärverbände nahe der ukrainischen Grenzen in den letzten Tagen weiter zugenommen. Eine militärische Auseinandersetzung ist nicht auszuschließen.
Vizekanzler Habeck befürchtet, dass es in der Ukraine zu einem Krieg kommen könnte. Dem Sender RTL sagte er:
Es kann sein, dass wir kurz vor einem Krieg in Europa stehen. Mit großen Panzerarmeen, die sich gegenüberstehen. Es ist absolut bedrückend und bedrohlich.
Nach dem Telefonat zwischen Biden und Putin betont der Kreml, die US-Vorschläge zu Sicherheitsfragen würden die wesentlichen Bedenken Russlands nicht berücksichtigen. Zu einem möglichen russischen Einmarsch teilte der Kreml mit, die Warnungen davor hätten inzwischen ein absurdes Niveau erreicht.
Vitali Klitschko appelliert einen Tag vor dem Besuch von Scholz an Deutschland und die Welt, sich eng an die Seite der Ukraine zu stellen. Der Bild am Sonntag sagte der Bürgermeister von Kiew:
Wir sind in der Ukraine auf das Schlimmste vorbereitet, die Welt muss uns jetzt beistehen.
Das neue und alte Staatsoberhaupt heißt Frank-Walter Steinmeier. Die Bundesversammlung wählte ihn gestern für eine zweite Amtszeit mit 1045 von 1472 möglichen Stimmen. Er war von den Ampel-Parteien sowie von der CDU/CSU-Opposition nominiert worden.
Der Hintergrund: Die Liberalen konnten mit einer grünen Kandidatin nicht viel anfangen. Dafür hat man nicht FDP gewählt. Die Grünen als zweitstärkste Koalitionspartei hätten einen Liberalen nicht goutiert. Das hätte die Basis dem Robert und der Annalena wohl nie verziehen. Die SPD wiederum hat zwar die meisten Stimmen, aber die wenigsten Ideen. Und CDU und CSU wollten sich – angesichts ihrer jüngsten Wahlniederlage – nicht mit einem Zählkandidaten verschleißen. Also hieß es für Steinmeier: Vertragsverlängerung aus Mangel an Gelegenheiten.
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In seiner Rede vor der Bundesversammlung warnte er vor einer akuten Kriegsgefahr in Europa und wies Russland die Verantwortung für die angespannte Sicherheitslage zu:
Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa….Dafür trägt Russland die Verantwortung.
Er wandte sich direkt an den russischen Präsidenten Wladimir Putin:
Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!
Altkanzler Gerhard Schröder will sich in den kommenden Tagen etwas zurückhalten in der Russland-Frage. Zumindest öffentlich.
Das hat er angeblich dem SPD-Vorsitzenden und früheren Mitarbeiter in seinem Wahlkreisbüro, Lars Klingbeil, versprochen, wie unser Hauptstadt Team herausgefunden hat. Schröder hatte mit Aussagen zum „Säbelrasseln“ in der Ukraine die Parteiführung gegen sich aufgebracht.
Die Ukraine-Krise soll nicht auch noch von einer SPD-internen Krise über den Altkanzler überlagert werden. Inhaltlich bleibt Schröder bei seiner Position, heißt es. Russlands Präsident Putin sei mit Sanktionen nicht beizukommen, im Donbass würden beide Seiten sich nicht an das Minsker Abkommen halten.
Den Hintergrund lesen Sie hier.
Der kürzlich aus der AfD ausgetretene Bundesvorsitzende Jörg Meuthen sondiert die Gründung einer neuen Partei. Er spricht dafür mit konservativen CDU-Mitgliedern, ob sie sich eine Unterstützung vorstellen können.
Zu dem Kreis der Meuthen-Gesprächspartner gehören Alexander Mitsch, der frühere Bundesvorsitzende der Werte Union und Ex-Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen, wie mein Kollege Michael Bröcker heute morgen in „Hauptstadt. Das Briefing” zu berichten weiß.
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Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Meuthen wolle keine AfD 2.0 gründen, habe er den Gesprächspartnern gesagt, sondern eine wirtschaftsliberale Partei, die sich gegen eine zunehmende Vergemeinschaftung der Finanzpolitik auf EU-Ebene und die EZB-Politik engagiert.
Allerdings: Bisher hat Meuthen noch keine prominenten Mitstreiter für sich gewinnen können. Ihm dürfte es so ergehen wie den früheren AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry. Sie gründeten nach ihrem Rückzug aus der AfD ihre eigenen Parteien, kamen damit aber über die Schlagzeilen der Zeitungen nicht hinaus.
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Die ganze Geschichte lesen Sie in unserem Politikteil.
Bundesfinanzminister Christian Lindner hat eine wichtige Personalentscheidung getroffen: Er macht den renommierten Wirtschaftswissenschaftler und früheren Sachverständigen der Bundesregierung, Lars Feld, zu seinem Chefvolkswirt. Der offizielle Titel lautet: „Persönlicher Beauftragter des Bundesministers der Finanzen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“.
In dieser Funktion soll ihn der Ökonom bei der Bewertung makroökonomischer Fragestellungen unterstützen. Feld wird kein Mitarbeiter des Ministeriums, sondern als Wissenschaftler und Professor unabhängig bleiben.
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Er gilt als Vertreter des Ordoliberalismus und Streiter für solide Staatsfinanzen. So plädiert Feld nicht nur dafür, den Anteil der Staatsverschuldung an der Wirtschaftsleistung auf die im Maastricht-Vertrag zum Schutz des Euros vorgegebene Obergrenze von 60 Prozent zurückzuführen (momentan liegt sie zwischen 70 und 75 Prozent), sondern befürwortet auch ein weiteres Drücken der sogenannten Schuldenquote, um Luft für künftige Krisen zu gewinnen.
In der neuen Podcast-Folge „Feld und Haucap”, die gestern bei ThePioneer erschien, gibt er dem Finanzminister schon einmal ein paar erste Ratschläge:
In der gegenwärtigen Situation muss man klar sagen: Der Finanzminister sollte noch deutlich stärker signalisieren, dass die Wünsche seiner Kollegen nicht umsetzbar sind.
Die haben ja Ausgabenwünsche angemeldet, die jetzt im laufenden Jahr 70 Milliarden über dem geplanten Betrag liegen und es sind sowieso schon knapp 100 Milliarden zusätzliche Nettoneuverschuldung geplant. Das geht so nicht.
In der mittelfristigen Finanzplanung über 400 Milliarden mehr ausgeben zu wollen, ist einfach Wahnsinn. Vor dem Hintergrund werden sich das Duo Lindner und Gatzer bewähren müssen, um die Ausgabenwünsche wieder in den Griff zu bekommen.
In den 80er-Jahren herrschte in den Handelsräumen der Wall Street reges Treiben. Zwischen klingelnden Telefonen und lautstarken Managing Directors saß auch Michael Lewis, damals Verkäufer von Anleihen für die Bank Solomon Brothers. Kurz vor dem Börsencrash 1987 beschloss Lewis, seine Erlebnisse aufzuschreiben und damit den ersten von vielen Bestsellern seiner Karriere zu veröffentlichen. In „Liar’s Poker“ schreibt er:
Niemals zuvor haben so viele ungelernte 24-Jährige in so kurzer Zeit so viel Geld verdient.
Damals, so glaubte Lewis, beschrieb er einen historisch einmaligen Exzess. Doch wie der inzwischen 61-jährige Autor dem Nachrichtenportal „Morning Brew“ erzählt, habe er sich getäuscht:
Ich glaube, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das ganze wie eine Parodie wirkt.
Denn: Immer neue und jüngere Menschen wagen sich auf den Finanzmarkt und verdienen astronomische Summen – ohne zu wissen warum. Über jene, die vor vielen Jahren beispielsweise einen Bitcoin gekauft haben und sich jetzt Millionär nennen dürfen, sagt er:
Es ist eine willkürliche Verleihung von Reichtum ohne einen besonderen Grund.
Er ist bestürzt:
Ich beobachte, wie sich das System nicht von selbst reformiert, sondern immer extremer wird.
Fazit: Michael Lewis beschreibt, was andere vor ihm auch schon beschrieben haben. Der Unterschied: Er hat das Staunen nicht verlernt.
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr