CDU und CSU wollen es diesmal wirklich wissen: Wie viel Parteienstreit halten die Deutschen inmitten der Pandemie aus? Wie narzisstisch dürfen Politiker sein? Eine Frage von fürwahr historischer Dimension ist aufgeworfen: Geht es wirklich noch um Laschet vs. Söder oder hat hier bereits die Selbstzerstörung der deutschen Konservativen begonnen?
Mit der sonntäglichen Erklärung von Markus Söder, er sei genauso entschlossen wie Armin Laschet die Union in den Wahlkampf zu führen, erreicht der bisher verdeckt geführte Machtkampf der beiden Parteifürsten ihren offiziellen und damit brutalen Teil. Er oder ich?
Der Versuch einer diskreten Klärung der Kanzlerkandidatur am Samstag bei einem mehrstündigen Gespräch zwischen den beiden war gescheitert. Die Ära Merkel endet, wie sie begonnen hat: mit innerparteilicher Turbulenz und einem versuchten politischen Mord.
Damals, 1999, stieß sie mit ihrem „FAZ“-Essay („Die Partei muss laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross Helmut Kohl den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“) Helmut Kohl vom Thron.
Wer diesmal wen stürzt, das entscheiden die nächsten 24 Stunden. Die Union, das allerdings kann jeder sehen und fühlen, blutet in diesen Stunden am offenen Herzen.
Normalerweise würden wir angesichts dieser Szenen einer Zerrüttung gern zur Sozialdemokratie schalten. Bisher war es in Deutschland immer so: Waren CDU und CSU „machtversessen und machtvergessen“, um es mit Richard von Weizsäcker zu sagen, schaute das Publikum Hilfe suchend in Richtung der SPD. Befand sich bei den Sozialdemokraten eine Figur mit Format und Charakter im Angebot – so wie in Gestalt von Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder – griff die Kundschaft befreit zu. Die Demokratie der Bundesrepublik lebte vom Wechselspiel der Farben.
Doch seit einigen Jahren ist eine dramatische Angebotsverengung zu beobachten. Obwohl die Schwarzen nach 16 Jahren im Bundeskanzleramt ermattet wirken, zeigt der historische Antagonist, der bis dahin immer die zweite Herzkammer und die andere Gehirnhälfte unseres politischen Systems repräsentierte, keinerlei Neigung, die Führung zu übernehmen. Die Synapsen scheinen verknotet. Die SPD kann vom archaischen Spektakel der Union nicht profitieren. Seit Monaten kommt die Partei in den Umfragen über die 18 Prozent nicht hinaus. Die Überschrift im Geschichtsbuch kann nach heutigem Stand nur lauten: Brandt. Schmidt. Schröder. Schluss.
Eine Infografik mit dem Titel: SPD: Schwindsüchtige Partei Deutschlands
Zweitstimmenergebnisse der SPD bei Bundestagswahlen seit 1969, in Prozent
Wer die Ursachen dieser Misere verstehen will, muss einen Blick in die Vereinigten Staaten werfen. Denn nicht das sozialdemokratische Zeitalter scheint beendet, nur das der deutschen SPD. Fünf Punkte sind es, die den demokratischen Präsidenten Joe Biden vom deutschen SPD-Kanzlerkandidaten unterscheiden:
1. Biden steht nicht nur als Person in der Mitte der Gesellschaft. Das tut Olaf Scholz auch. Aber Biden hat sich im Zuge eines monatelangen Vorwahlkampfs in der eigenen Partei durchgesetzt. Weder im Wahlkampf noch bei der Regierungsbildung ließ er sich auf Zugeständnisse an seine linken Rivalen Bernie Sanders und Elizabeth Warren ein. Als Vizepräsidentin wählt er die rechts der Mitte beheimatete Ex-Staatsanwältin Kamala Harris. So grausam das für Kevin Kühnert und Saskia Esken klingen mag: Erst diese inhaltliche (nicht menschliche) Zurücksetzung der Linken schuf die Voraussetzung für den Wahlsieg. Biden ist der Fahnenmast, Scholz das Fähnchen, das Andere gehisst haben.
© dpa2. Die US-Demokraten nahmen das zentrale Thema der Gegenwart als das ihre an. Dieses zentrale Thema heißt nicht Verteilungsgerechtigkeit und dreht sich auch nicht um linksidentitäre Wortfindungsschwierigkeiten, sondern es geht um die Bekämpfung einer Jahrhundert-Pandemie. Biden hat den Stier bei den Hörnern gepackt: Shots in the arm; money in the pocket. Wo er geht und steht, trägt er demonstrativ eine Mund-Nasen-Bedeckung. Scholz dagegen muss sich im Bundestag von den Saaldienern des Wolfgang Schäuble eine Maske reichen lassen. Seit Monaten stolpert er mit Merkel durch die vermasselte Impfkampagne. Er ist ihr Double, nicht ihre Alternative.
3. In der Außenpolitik präsentiert sich Joe Biden als Mann ohne Furcht und Tadel. Er redet mit Putin und den Chinesen in der einzigen Sprache, die diese verstehen: Klartext. Und: Er greift auf die klassischen Instrumente der Außenpolitik zurück, also auf Sticks and Carrots. Er arbeitet mit wirtschaftlichen Anreizen und dem Militär. Die SPD dagegen arbeitet in der Außenpolitik ausschließlich mit Karotten, was schon auf dem Ponyhof nicht funktioniert. Die der NATO zugesagte Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent der deutschen Wirtschaftskraft unterbleibt. Scholz, der Außenpolitiker, tut das, was der Innenpolitiker Scholz in Hamburg auch schon tat: Er sitzt in der Loge der Elbphilharmonie, derweil draußen die Welt brennt.
© dpa4. Biden ist der Architekt eines beeindruckenden Infrastrukturprogramms, das Amerika modernisiert. Scholz ist der Flickschuster eines Beihilfen-Pakets, das zwar akute Not lindert, aber kaum Zukunftsimpulse setzt. Beide werden Monster-Schulden hinterlassen. Aber Bidens Schulden sind bessere Schulden, denn sie sichern den USA einen von der FED prognostizierten kräftigen Wachstumsschub von plus 6,5 Prozent in 2021, während Scholz mit seinen Nachtragshaushalten das niedrigste Wachstum innerhalb der führenden Industrienationen erzeugt, plus 3,1 Prozent laut den Vorhersagen der Wirtschaftsweisen. Das bedeutet: Die Kluft zwischen den USA und der Bundesrepublik wird anschließend größer sein als je zuvor.
5. Der fünfte Grund entlastet Scholz und hängt mit der sehr unterschiedlichen Kultur der beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen. Die amerikanischen Demokraten wollen regieren. Sie sind eine Fortschrittspartei. Sie lieben die Macht mehr als ihr Programm. Bei der deutschen SPD ist es umgekehrt. Sie nimmt es Helmut Schmidt und Gerhard Schröder bis heute übel, dass sie an der Macht nicht gelitten, sondern sich mit ihr verbündet haben. Die amerikanischen Demokraten sind per definitionem eine Regierung im Wartestand, die heutige SPD fühlt und denkt wie eine Nichtregierungsorganisation.
Fazit: Wäre der Niedergang der SPD nur das Problem der Sozialdemokraten, dann müssten wir darüber heute Morgen nicht so ausführlich sprechen. Aber so ist es nicht. Der Wegfall der Alternative, der Verlust der Reserveregierung, die dramatische und durch die Kader der SPD mutwillig herbeigeführte Angebotsverengung schwächt die Demokratie. Ohne den Ausfall der SPD als Korrektiv hätte sich die Union dieses Spektakel vielleicht gar nicht geleistet. So selbstbezogen reagieren normalerweise nur Monopolisten. Oder solche, die sich so fühlen.
Die Presselage für die Union am Wochenende und heute Morgen sieht nicht sonderlich freundlich aus:
So schreibt etwa „Der Spiegel“:
Sylvester Stallone hat die Filmfigur des Boxers Rocky Balboa geschaffen, der nie den härtesten Schlag hatte, aber am meisten einstecken konnte. Der immer weitermachte, egal wie zugeschwollen die Augen waren. Armin Laschet ist so etwas wie der Rocky Balboa der deutschen Politik.
© SAMSON für den SPIEGELLaschet verkörpert jene Bodenständigkeit, die Merkel bei den Deutschen so beliebt gemacht hat. Die Frage ist, ob es am Ende einer Ära reicht, die etwas schwächere Fortsetzung der Vorgängerin zu sein. Antwort: eher nicht.
In der „Welt“ von heute morgen schreibt Ulf Poschardt:
Die CDU sollte sich für den möglichen Sieg aufstellen. Da führt gerade kein Weg an Markus Söder vorbei.
Robert Roßmann von der „Süddeutschen Zeitung“ urteilt über Laschet:
Zu oft reagierte er in den vergangenen Monaten unter Druck unbeholfen und widersprüchlich. Von einem möglichen Kanzler erwartet man aber gerade unter Druck Souveränität und Stärke.
Eine Infografik mit dem Titel: Absturz in der Heimat
Zufriedenheit mit der persönlichen Arbeit von Armin Laschet im Vergleich zu Januar 2021, in Prozent
In der „FAZ“ wertet Jasper von Altenbockum die Ereignisse zugunsten von Laschet:
Laschet aber hat Stehvermögen. Insofern deutet die Nicht-Entscheidung vom Sonntag an: Die Würfel sind gefallen.
Im „Handelsblatt“ kommentiert der politische Kopf der Zeitung, Thomas Sigmund:
Am liebsten möchte man Söder und Laschet zurufen: ‚Es reicht, meine Herren!‛
Unser Hauptstadt-Team hat die denkwürdige Sitzung des gestrigen Fraktionsvorstands rekonstruiert und auch die offene Redeschlacht der beiden Kontrahenten im Fraktionssaal recherchiert. Es waren ausgerechnet Wolfgang Schäuble und Angela Merkel, die mit ihren Wortmeldungen dem angeschlagenen Laschet beisprangen, während Markus Söder in seiner Rede vor den Abgeordneten gewohnt pointiert klarmachte, dass er will und kann, aber das er es auch akzeptieren würde, wenn die CDU ihn verhindert:
Wenn die CDU bereit wäre, mich zu unterstützen, wäre ich bereit. Wenn die CDU es nicht will, bleibt ohne Groll eine gute Zusammenarbeit.
Armin Laschet versuchte den Anschlag auf seine Autorität mit Humor zu kontern:
Wir haben zwei, die es können. Die SPD hat keinen.
Der CDU-Vorsitzende will heute im CDU-Vorstand „um Vertrauen bitten“ und sich intern die Rückendeckung für die Kanzlerkandidatur holen. Im Hauptstadt-Newsletter erfahren Sie vorab, wer in dem Gremium wo steht und welche Rolle Friedrich Merz bei der K-Frage spielt.
Wie wirkt dieses muntere Treiben auf einen, der abseits steht und dennoch politischer Insider ist? Das hat mich interessiert. Deshalb habe ich mit Gregor Gysi, 73, gesprochen, der seit 1990 mit kleiner Unterbrechung Mitglied des Deutschen Bundestags ist. Im Herbst 2021 wird der bis heute führende intellektuelle Kopf der Linkspartei erneut kandidieren.
Zum Kampf Söder vs. Laschet sagt er mit einer Prise Schadenfreude:
So ein Personenstreit lähmt. Aber das sei der Union von mir aus gegönnt.
Eine Regierung ohne Union – also ein rot-rot-grünes Bündnis – hält er für wünschenswert, aber noch nicht für realistisch:
Es muss in der Bevölkerung eine Stimmung geben, die nicht nur einen Regierungswechsel will, sondern auch einen Politikwechsel. Die sehe ich noch nicht. Aber das kann sich bis September ändern.
Angesichts des bevorstehenden Abschieds von Merkel, dem die Abschiede von Schröder, Fischer und Lafontaine vorausgegangen sind, sagt er selbstironisch:
Ich bin ein Stabilitätsfaktor für Deutschland.
Prädikat: humorvoll, klug und daher hörenswert.
In einem Brief an die verantwortlichen Politiker, der seit gestern Abend auf den Schreibtischen von Kanzlerin und Gesundheitsminister liegt, äußern führende Aerosol-Forscher ihren Unmut über die Corona-Strategie. Ihr Urteil ist vernichtend: Die Regierung ignoriere wesentliche Erkenntnisse der Aerosol-Forschung, das Vorgehen sei nicht evidenzbasiert und die Verantwortlichen flüchteten sich stattdessen in symbolische Maßnahmen ohne nennenswerten Effekt auf das Infektionsgeschehen.
Ihr Anliegen lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Maskenpflicht beim Joggen oder das Sperren von Promenaden, seien wirkungslos. Die Übertragung des Virus finde fast ausnahmslos in Innenräumen statt.
Die öffentliche Debatte zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 basiere nicht auf wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auf falschen Annahmen über das Ansteckungspotential des Virus. Man müsse den Menschen klarmachen, dass „drinnen die Gefahr lauert“.
Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit draußen einschränken, seien kontraproduktiv, weil sie das heimliche Zusammenkommen in Innenräumen befördern, wo das Einhalten der Hygieneregeln nicht selbstverständlich ist.
Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem Mitunterzeichner und Aerosol-Experten Dr. Gerhard Scheuch, einst Präsident der International Society for Aerosols in Medicine, über seine Kritik an Merkel. Von Ausgangssperren hält Scheuch weniger als nichts, denn:
Wir wissen, dass 99,9 Prozent der Infektionen drinnen stattfinden. Wir sind sehr sicher, dass Corona ein Innenraumproblem ist. Man sollte froh darüber sein, wenn die Leute mehr rausgehen.
Stattdessen wünscht er sich einen Schritt zu mehr Normalität, und damit auch einen Schritt zu mehr Öffnung:
Man sollte gerade jetzt, da das Wetter besser wird, den Leuten ermöglichen, ins Freie zu gehen. Auch Außengastronomie würde ich sofort erlauben.
Fazit: Wer diesem Mann zuhört und das neue Infektionsschutzgesetz liest, der zweifelt am Sachverstand der Politik. Wenn Dr. Scheuch Recht hat, dann kostet uns eine Ausgangssperre nicht nur ein weiteres Stück Freiheit, sondern neuerlich Menschenleben.
Die Lage am heutigen Morgen:
Die deutschen Gesundheitsämter haben dem Robert-Koch-Institut (RKI) in den vergangenen 24 Stunden 13.245 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt von gestern mit 129,2 auf 136,4. Zudem wurden 99 weitere Todesfälle registriert.
Die Deutsche Bahn verhängt bundesweite Zugverbote für wiederholte Maskenverweigerer. Die Verbote gelten für sechs Monate und umfassen das Fahren mit der Bahn im Regional- oder Fernverkehr und auch das Betreten eines Bahnhofs selbst.
In den USA werden dort stationierte deutsche Bundeswehrtruppen zusammen mit den US-Truppen geimpft. Fast 80 Prozent der deutschen Soldaten haben bereits ihre zweite Impfung erhalten, bis Ende April sollen es 100 Prozent sein. In Deutschland selbst hat das Impfen der Soldaten bisher nur im Saarland begonnen.
Der bedeutendste und kommerziell erfolgreichste deutschsprachige Popstar – Herbert Grönemeyer – feiert heute seinen 65. Geburtstag. Geboren im niedersächsischen Göttingen zog er als Junge mit seinen Eltern nach Bochum. „Bochum, ich komm aus dir; Bochum, ich häng an dir“, sang er in der 1984 erschienenen Hommage an die Stadt seiner Jugend. Bis heute läuft der Titel vor jedem Heimspiel des VfL Bochum.
Mit über 17 Millionen in Deutschland verkauften Tonträgern ist Grönemeyer der kommerziell erfolgreichste zeitgenössische Musiker der Bundesrepublik. Er hat das Imperfekte seiner Stimme zur Perfektion gebracht. Seine Texte haben ihn erhöht. In einer Welt klebriger Schlager ist er der Poet. Wenn Grönemeyer „Flugzeuge im Bauch“ hatte, kribbelte es bei einer ganzen Generation:
„Schatten im Blick, dein Lachen ist gemalt, deine Gedanken sind nicht mehr bei mir.
Streichelst mich mechanisch, völlig steril, eiskalte Hand, mir graut vor Dir.
Fühl' mich leer und verbraucht, alles tut weh,
Hab' Flugzeuge in meinem Bauch.
Kann nichts mehr essen,
Kann dich nicht vergessen
Aber auch das gelingt mir noch.“
© dpaSeine Kritik an den Ritualen der Mächtigen war subtil und gerade deshalb wirkungsvoll. Während andere zum Holzhammer griffen, schwang er das Florett:
„Gebt den Kindern das Kommando.
Sie berechnen nicht,
was sie tun.
Die Welt gehört in Kinderhände,
dem Trübsinn ein Ende.
Wir werden in Grund und Boden gelacht.
Kinder an die Macht.“
Ich wünsche Herbert Grönemeyer einen beschwingten Geburtstag. Und uns wünsche ich, dass er bald wieder dorthin zurückkehrt, wo er hingehört: auf die Bühne. Sein Homeoffice sind das Ruhrstadion in Bochum und das Berliner Olympiastadion.
Ich wünsche auch Ihnen einen schwungvollen Start in diese neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr