die Meinungsforscher haben zwischen der SPD und ihrem Spitzenkandidaten eine Entkoppelung gemessen, die trotz Annäherung in den jüngsten Umfragen – er liegt bei 49 Prozent, die SPD neuerdings bei 17 Prozent – von einer historisch ungewöhnlichen Distanz erzählt. Beide drehen im Universum der Politik auf sehr unterschiedlichen Gestirnen ihre Bahnen.
Scholz lebt auf einer Umfrage-Sonne, mit der er seine Rivalen Armin Laschet und Annalena Baerbock überstrahlt. In einer Direktwahl des Volkes – die unsere Verfassung ausschließt – hätte er demnach Chancen, im Bundeskanzleramt einzuziehen.
Seine Partei dagegen lebt auf einem Sternenfriedhof, wie ihn die Forscher der Columbia-Universität erst kürzlich inmitten der Milchstraße entdeckt haben. Der Glanz der einstigen SPD, die mit Willy Brandt (1969-1974), Helmut Schmidt (1974-1982) und Gerhard Schröder (1998-2005) den Kanzler stellte, ist verglüht.
Eine Infografik mit dem Titel: Adenauer vorn
Wer waren die bedeutendsten Kanzler der Bundesrepublik? Antworten in Prozent
Der Grund für das Verglühen der SPD als Volkspartei ist ihre fatale Neigung, die Kerninteressen ihrer Kernklientel zu missachten. Auf die neue soziale Frage hat die Gegenwarts-SPD keine Antwort. Zuweilen hat man das Gefühl, sie versteht die Frage gar nicht.
Worum geht’s?
1. Zwischen Stadt und Land tut sich eine enorme Kluft auf. Die Schriftstellerin Juli Zeh sagt:
Mir erscheint heute die geografische Trennung zwischen Zentrum und Peripherie als die neue Demarkationslinie, die früher zwischen den Klassen verlief. Der Tag, an dem zwischen diesen beiden Kreisen Feindschaft entsteht, ist der Tag, an dem der gesellschaftliche Frieden bröckelt. Ich fürchte, diesen Tag haben wir bereits hinter uns.
Die SPD aber hat sich auf die Seite der Städter geschlagen und zuweilen beschleicht nicht nur Juli Zeh das Gefühl, die Stadt-SPD schaue verächtlich auf die Menschen in den Vororten, da wo am Wochenende gegrillt und nicht gegendert wird.
Eine Infografik mit dem Titel: Populärer Kandidat
Wer würde sich als Kanzler eignen? Stimmen für den jeweiligen Kandidaten, in Prozent
2. Die geradezu lustvolle Ausgrenzung der Mehrheitsgesellschaft geht weit über das Stadt-Land-Schema hinaus. Im Rahmen der Identitätspolitik erscheint der SPD jede nur erdenkliche Minderheit bedeutsamer und liebebedürftiger als die Millionen von Normalos, die als heterosexuelle Paare in der traditionellen Familie leben oder zumindest nach diesem Leben streben. Peer Steinbrück hat bereits in seinem Buch „Das Elend der Sozialdemokratie“ darauf hingewiesen:
Der hohe Stellenwert, den die SPD der Beseitigung von Diskriminierung nach Geschlecht, sexueller Neigung, Herkunft, Hautfarbe, Religion und nicht zuletzt Menschen in einer prekären Lage einräumt, wird von vielen Werktätigen als eine Abwendung von ihren Lebenswirklichkeiten und Existenzfragen verstanden. Dass die Vertreter von Minderheits- und Gleichstellungsinteressen in vielen Fällen eine rigide, geradezu beklemmende Sprachregelung entwickelt haben, die völlig ironiefrei ist und deren Nichtbefolgung zu einem Bannstrahl führen kann, schafft zusätzlich Distanz.
Steinbrück hatte seine Partei vor den Übersteigerungen gewarnt, die man in der SPD heute stolz Identitätspolitik nennt:
Sofern eine Gruppenbildung aus verschiedenen sexuellen Orientierungen, die in Nordamerika unter der sagenhaften Bezeichnung LGBTQIA (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen) firmiert, in Deutschland Nachahmung finden sollte, empfehle ich der SPD keinen Aufmerksamkeitsüberschuss, wenn sie in der Mehrheitsgesellschaft noch ankommen will.
Diesen Rat hat die SPD vorsätzlich missachtet. Die alte Parteifarbe war rot, die neue schimmert wie der Regenbogen.
Eine Infografik mit dem Titel: SPD: Schwindsüchtige Partei Deutschlands
Zweitstimmenergebnisse der SPD bei Bundestagswahlen seit 1969, in Prozent
3. Hinzu kommt eine Veränderung im produktiven Kern unserer Volkswirtschaft, auf den die Funktionärs-SPD partout nicht reagiert. Die Künstliche Intelligenz, das Verschwinden der einfachen geistigen Tätigkeit aus den Unternehmen, erfordert eine neue Sicht auf das Thema Bildung: „Die wichtigste ökonomische Frage des 21. Jahrhunderts dürfte sein, was wir mit all den überflüssigen Menschen anfangen“, schreibt Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Homo Deus“ .
Doch die SPD gibt dem Thema keine wirkliche Priorität. Die Menschen verlangen nach Zukunft und die Traditions-SPD versteht immer nur „Zuwendung“. Ihr Sozialstaat fördert nicht, er narkotisiert.
Eine Infografik mit dem Titel: SPD: Auf verlorenem Posten
Welche Partei würden Sie wählen, wenn heute Bundestagswahl wäre? Anworten in Prozent
4. Und natürlich hat die neue soziale Frage auch eine außenpolitische Komponente, auf die der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel am Wochenende im „Tagesspiegel“ hingewiesen hat. Der ehemalige Vizekanzler verweist auf die Anstrengungen Joe Bidens, nach der Pandemie ein „Building Back Better“ des Westens zu organisieren. Das sei, sagt Gabriel, das Gebot der Stunde:
Wie gewinnen wir andere demokratische Industriestaaten wieder für ein offensives Eintreten für die demokratischen Werte? Wie bringen wir das neue geo-ökonomische Modell der Verschmelzung von Finanzindustrie mit Kommunikationsplattformen unter demokratische Kontrolle? Und wie formen wir daraus ein für andere Staaten attraktives Modell unseres Zusammenlebens, eine neue globale Ordnung des 21. Jahrhunderts?
Doch der Schulterschluss mit dem neuen US-Präsidenten unterbleibt in der heutigen SPD. Joe Biden wird von Kevin Kühnert & Co nur als Anti-Trump gesehen und wertgeschätzt. Für die Demokraten jenseits von Bernie Sanders und Elizabeth Warren gilt im Willy-Brandt-Haus: Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Fazit: Nur wenn es Scholz gelingt, die Distanz zwischen seiner Sonne und dem Sternenfriedhof zu verringern, hat er die Chance, an der nächsten Regierungsbildung beteiligt zu sein. Sonst landet er dort, wo Steinbrück nie landen wollte und doch gelandet ist: „unter den Rädern des Parteikarrens“.
Olaf Scholz gab am Wochenende sein Bestes, das Aufsteigermilieu nicht weiter zu erschrecken: Im Interview mit der „Bild am Sonntag“ erklärt der Kanzlerkandidat seine Pläne:
Der heutige Spitzensteuersatz soll zukünftig für Singles erst oberhalb von 100.000 und für verheiratete Paare oberhalb von 200.000 Euro Jahresbruttoeinkommen greifen. 96 Prozent der Steuerzahler würden dadurch entlastet. Scholz:
Ich finde es richtig, wenn jemand mit einem so hohen Einkommen wie ich mehr Steuern zahlt.
Des Weiteren garantiert Olaf Scholz ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent des Durchschnittseinkommens. Bei der Union warnt er die Beitragszahler – und Wähler – vor sinkenden Renten und verspricht: „Das wird es mit mir nicht geben.“ Vorbehalte zur Finanzierung seien derweil nur „Unkenrufe“:
Wenn es in Deutschland viele Jobs mit ordentlichen Löhnen gibt, ist die Rente sicher.
Das eben ist das Problem dieses Versprechens: Die Prämissen stimmen nicht. Das große Wachstum findet bei den Jobs im prekären Bereich statt, die ihre Sozialkosten niemals werden einspielen können. Die demografischen Probleme kann kein Kanzler außer Kraft setzen.
Unversöhnlich standen sich Befürworter und Gegner eines Tempolimits jahrzehntelang gegenüber. Die Grünen wollen auf der Autobahn scharf abbremsen, die CDU und auch die Autopartei CSU (BMW, Audi) sprechen sich traditionell gegen neue Verbote aus. Aber: Die Klimadebatte hat manchen Dogmatiker in einen Grübler verwandelt. Die Union wird – das berichtet unser Hauptstadt-Team – vor der Wahl nicht wackeln, aber danach trotzdem umfallen. Physikalisch ist das nicht zu erklären, politisch schon.
Auch bei der zweiten Runde der französischen Regionalwahlen am Sonntag war die Wahlbeteiligung gering. Nachdem am vorherigen Sonntag nur rund 33 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gingen – ein historischer Tiefstand – waren es gestern auch nur 35 Prozent.
Von einem „demokratischem Alarm“ sprach der französische Regierungssprecher Gabriel Attal schon nach der ersten Wahlrunde.
Die Partei von Präsident Emmanuel Macron holte gestern lediglich ca. sieben Prozent. Rund 20 Prozent gingen an die rechtspopulistische Partei Rassemblement National, die letzte Woche deutlich weniger Stimmen bekommen hatte als erwartet. Die von Marine Le Pen geführte Partei konnte so keine einzige Region gewinnen. Stärkste Kraft wurden die Konservativen.
© imagoAm Donnerstag hielt Angela Merkel ihre vierundsechzigste und letzte Regierungserklärung als deutsche Bundeskanzlerin. Ein langes und facettenreiches Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik geht zu Ende.
Der Ex-„Bild“-Vize und spätere „Spiegel“-Hauptstadtbüroleiter Nikolaus Blome, heute Ressortleiter für Politik und Gesellschaft bei RTL, ist einer der profunden Merkel-Insider. Er hat sie jahrelang im Regierungsflieger begleitet und 2013 das Buch „Angela Merkel. Die Zauder-Künstlerin“ geschrieben. Mit ihm bespreche ich im Morning Briefing Podcast die historische Dimension der 16 Merkel-Jahre. Ein großes Charakteristikum dieser Zeit sei, dass Merkel sich stets mit der Mitte der Gesellschaft bewegt habe:
Wenn diese Mitte nach links ging, ist sie mit dieser ins Soziale gegangen. Wenn diese Mitte ein Stück nach rechts gewandert ist, dann ist sie mitgewandert nach rechts. Wenn man wusste, wo Angela Merkel ist, dann wusste man, wo die Mitte ist.
Trotzdem habe sie auch klare Prinzipien, so Blome:
Ein sehr klarer roter Faden von Angela Merkel ist: Deutschland darf Europa nicht schädigen und hat die Pflicht, Europa zusammenzuhalten.
Ihre Vorgehensweise beschreibt Blome folgendermaßen:
Sie war eine defensive Kanzlerin. Sie hat bei Krisen versucht, zu verteidigen bzw. abzuwenden, einzuhegen und dann diese Krisen langsam Stück für Stück zu lösen.
Ihre Schwachstelle bleibe die Bewältigung der Flüchtlingskrise im Jahr 2015:
© imagoBei der Flüchtlingskrise war es eine historisch humanitäre Geste, die Grenzen nicht zu schließen. Aber anschließend hat der Staat für mehrere Wochen die Kontrolle verloren.
Fazit: Nikolaus Blome ist ein journalistischer Wegbegleiter der Kanzlerin, der zwischen Fiktion und Fakten präzise zu unterscheiden weiß. Prädikat: erhellend.
Mehr als 800 spanische Schüler haben sich beim Feiern auf Mallorca mit dem Coronavirus infiziert.
Der Reiseunternehmer Olimar holt hunderte Deutsche Urlauber aus Portugal zurück, weil das Land ab Dienstag wieder als Virusvariantengebiet gelten wird. Schuld daran ist die Ausbreitung der Delta-Variante.
Der Immunologe Leif Erik Sander der Berliner Charité stellt eine mögliche Dritt-Impfung für ältere Menschen und Menschen mit geschwächten Immunsystemen in Aussicht.
Die CSU lehnt einen erneuten „Lockdown-Automatismus“ im Falle einer möglichen vierten Welle ab. „In einer denkbaren vierten Welle mit der Delta-Mutation muss es neue Instrumente geben“, sagte Markus Söder dem „Münchner Merkur“.
Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock ist zurückgetreten, nachdem ein Video an die Öffentlichkeit gelangte, auf denen der verheiratete Minister eine Mitarbeiterin küsst. Hancock brach mit dem Kuss die von ihm selbst aufgestellten Corona-Abstandsregeln zu Mitgliedern anderer Haushalte.
Nicht überall, wo Deutschland draufsteht, ist auch Deutschland drin – das gilt zumindest für den neuen Wahlwerbespot der AfD. Das Motto des Werbespots lautet „Deutschland. Aber normal.“ Wie Recherchen des „Spiegel“ ergaben, spielen Teile des Spots nicht in der Bundesrepublik.
© dpaZum Beispiel ist eine junge Frau zu erkennen, die vor einem kleinen, einladenden Geschäft einen Klappstuhl aufbaut und sich auf ihre Gäste vorbereitet. Diese Sequenz spielt in der englischen Grafschaft Kent und kann von jedermann bei der Bild- und Videodatenbank „Adobe Stock“ ab 63,99 Euro erworben werden. Der englischsprachige Name des Lokals „Teastones“ wurde wegretuschiert.
© dpaWeitere 144 Euro investierte die AfD in die Verwendung von Aufnahmen einer Demonstration, auf der eine junge Frau ein Schild mit der Aufschrift „Klima statt Kinder“ in die Höhe hält. Diese Aussage ist nicht nur auffällig schlecht auf das Schild gephotoshoppt worden, dieselbe Szene wurde auch schon in einem brasilianischen Spot gegen Wildtierhandel verwendet. Die Uniformen der Polizisten im Hintergrund machen deutlich: Dieses Video entstand vermutlich in Russland.
Vielleicht sollten wir die AfD für diesen Bildersalat nicht tadeln, sondern loben: Ihr Nationalismus ist international geworden.
Heute vor genau 40 Jahren durfte Götz George in der Rolle des Horst Schimanski seinen ersten Fall im Tatort lösen. Im deutschen Fernsehen begann damit das Zeitalter der Moderne. Wo früher die Biedermänner Kommissar Heinz Haferkamp und Zolloberinspektor Kressin ihren Dienst schoben, hatte nun ein Kriminalbeamter neuen Typs seinen Auftritt. Sein Hauptnahrungsmittel war die Currywurst, sein stärkstes Ausdrucksmittel waren die Fäuste. Die schnelle Liebschaft im Dienst gehörte für den Junggesellen Schimanski zur Dienstbeschreibung dazu:
Bullen brauchen Instinkt, keinen Hochschulabschluss.
Diese Mischung aus Ruhrromantik, Erotik und Raubeinigkeit bedeutete für die ARD damals eine Revolution. Um heute eine ähnliche Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen, müsste die ARD der Dragqueen Olivia Jones die Rolle anbieten.
© ThePioneerIch wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr