auch am Tag nach den nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen kommt die SPD nicht zur Ruhe. Sie hat ihre Stimmen und Wähleranteile seit der guten alten Zeit halbiert. Ursachenforschung ist daher nur ein anderes Wort für Schmerztherapie.
Beginnen wir mit den zwei guten Nachrichten:
Die sozialdemokratische Idee hat sich keineswegs zu Tode gesiegt. In Zeiten heftiger Lohnspreizung, der Entwertung einfacher geistiger Arbeit und dem bevorstehenden Durchbruch der Mensch-Maschine brauchen die kleinen Leute, auch die kleinen großen Leute, womit ich die Angestellten meine, einen schlagkräftigen Anwalt.
In den äußeren Beziehungen wird ebenfalls eine Stimme der Mäßigung benötigt; ein Charakter, der sich auf das Austarieren von Interessen versteht. Eine Welt der Bollerköppe, wo jeder den anderen gering schätzt und nach maximaler Demütigung strebt, ist keine gute Welt.
Aber, und jetzt kommt das große Aber: Von der Nachfrage nach sozialdemokratischen Dienstleistungen, die auch dann Dienstleistungen bleiben, wenn der Volksmund sie Politik nennt, kann die SPD seit Längerem nicht mehr profitieren. Das kann sie deshalb nicht, weil Volkes Begehrlichkeit auf ein SPD-Angebot trifft, das in Design, Packungsgröße und Preis in keinster Weise zur Nachfrage passt. Es kommt zum Käuferstreik, sprich zum Abwandern der einstigen Stammwählerschaft in alle Himmelsrichtungen.
Der Befund im Einzelnen:
Erstens. Der Preis für die Ware „Soziale Sicherheit“ ist aus Sicht der steuerzahlenden Mitte zu hoch. Im Bundeshaushalt wird jeder zweite Euro gebraucht, um den Sozialstaat zu finanzieren, während die Solo-Selbstständigen vom Staat im Stich gelassen werden.
Kurz und gut: Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt nicht mehr. Der Ruf der SPD nach neuer staatlicher Wohlfahrt beglückt die verunsicherte Mitte nicht, sondern ängstigt sie. Robin Hood, so der begründete Verdacht, wird entgegen aller Beteuerungen wieder nur den Facharbeiter überfallen, derweil „die Reichen“ mit ihrem Steueranwalt längst im Baumhaus hocken.
Zweitens: Die SPD bietet als Packungsgröße immer die Familien-Vorratspackung an. Ihr kollektivistisches Sozialstaatskonzept behandelt die Schmerzen der untergehenden Industriegesellschaft; aber versäumt es, ihre Wähler für die Reise in das digitale Neuland zu ertüchtigen. Der aktivierende Sozialstaat, der Bildung vermittelt, der Horizonte erweitert, der den Einzelnen erhöht und nicht wieder nur nivelliert, hat es auf Programmparteitage geschafft, aber nicht in den SPD-Regierungsalltag.
© dpaDrittens. Das Schrecklichste aber ist das verbale Design der Kevin-Kühnert-SPD. Wenn er sagt „Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW ,staatlicher Automobilbetrieb‘ steht oder ,genossenschaftlicher Automobilbetrieb‘“, dann gibt es von diesen Worten zum Denken, Fühlen und Sprechen der Gegenwartsgeneration keine Brücke, sondern nur einen Graben des Unverständnisses. In der Kühnert-SPD riecht es nach Kegelbahn und Eckkneipe. Die progressivste Forderung ist die nach Homeoffice für alle. Für eine positiv erlebte Selbstständigkeit, für Erfindergeist und den brennenden Wunsch nach einem biografischen Aufstieg, scheint in dieser Partei kein Platz zu sein.
Eine Infografik mit dem Titel: Die Jugend wählt Grün
Stimmenanteile der 16- bis 26-Jährigen in NRW, in Prozent
Fazit: Immer wenn die politischen Ränder das Zentrum einer Partei dominieren und damit verformen, sinkt die Bindekraft zur politischen Mitte. Darin genau liegt die Parallelerzählung von Björn Höcke und Kevin Kühnert, gegen die sich beide verwehren:
Seit der völkische Flügel nicht mehr Flügel ist, sondern die AfD dominiert und den Bundesvorsitzenden Meuthen wie eine Marionette wirken lässt, hat sich das Bürgertum abgewandt. Der Höhenflug der AfD darf als beendet gelten.
© dpaBei der SPD dasselbe Spiel nur seitenverkehrt: Der Juso-Chef will nicht mehr nur Juso-Chef, sondern will Königsmacher und strategischer Spielführer sein, was die Flucht der Schröder-Wähler nur weiter begünstigt. Ein Kanzlerkandidat von Kevins Gnaden kann niemals erfolgreich sein. Den zehn Millionen Schröder-Wählern, die der Kanzlerkandidat Martin Schulz zuletzt als verloren melden musste, wird eine Kühnert-SPD weitere hinzufügen. Das Bürgertum spürt es doch: Hier will einer die Mitte nicht überzeugen und gewinnen, sondern erst täuschen und dann melken. Oder anders gesagt: Über die Mehrheitsfähigkeit der SPD entscheidet kein äußerer Gegner. Die Kraft der Zersetzung wirkt im Innern.
© dpaWas bedeutet die NRW-Wahl für die Bundespolitik? Meine Kollegen vom Hauptstadt-Newsletter, die ThePioneer-Chefredakteure Michael Bröcker und Gordon Repinski, haben sich für den Morning Briefing Podcast bei Politikern, Wahlforschern und Historikern umgehört.
© imagoFür die CDU sind vor allem zwei Botschaften entscheidend: Im tiefen Westen ist sie noch Volkspartei. Im Westmünsterland oder im Siegerland erreichen CDU-Landräte und Bürgermeister 70-Prozent-Ergebnisse. Und im Rheinland heißt der Corona-Held nicht Markus Söder, sondern Armin Laschet.
Prof. Andreas Rödder, Historiker und Konservatismus-Experte, sagt:
Wir erleben eine Stabilisierung der Mitte und im selben Augenblick eine Extremisierung der Ränder.
Der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sieht Laschet durch den integrativen Ansatz im Vorteil gegenüber Friedrich Merz:
© dpaLaschet mobilisiert durch Integration. Merz versucht, durch Polarisierung zu mobilisieren.
Dass Armin Laschet sich stets als Merkel-Versteher präsentiert habe, könne in der Krise sein Vorteil sein. Korte sagt:
© dpaAus dem Merkel-Malus ist ein Merkel-Bonus spürbar.
In der FDP ist Ratlosigkeit spürbar. Die Partei kommt nicht aus dem Fünf-Prozent-Loch und Parteichef Christian Lindner twitterte, die Welt der FDP sei intakt, weil man 2015 auch nicht mehr Stimmen bekommen habe. Die Wahlanalyse teilt nicht jeder. Benedikt Brechtken, Jungliberaler aus Recklinghausen, geht mit der Parteiführung im Morning Briefing Podcast hart ins Gericht:
Ich finde die Reaktion auf die Wahl genauso schlimm wie die Wahl an sich. Das zeigt den Unwillen, sich damit zu beschäftigen, warum die FDP in dem Umfrageloch ist. Wir müssen uns auf unsere Kernthemen konzentrieren und mutigere Forderungen stellen – sonst gibt es bei der Bundestagswahl 2021 ein böses Erwachen.
FDP-Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat ihrer Partei gezeigt, wie man zweistellige Ergebnisse erzielen kann. Sie holte bei der Wahl als OB-Kandidatin in Düsseldorf respektable 12 Prozent. Ihr Urteil:
Es gibt eine Menge liberale Wähler, die mit ihrer Stimme nicht so richtig wissen, wohin.
Die Grünen haben bei der Kommunalwahl bewiesen: Das Ende des Umfragehochs zu Beginn der Corona-Pandemie mündet nicht in einen Abschwung, sondern es endet auf einem ziemlich komfortablen Hochplateau. Bei 20 Prozent landen die Grünen durchschnittlich – und das in einem Bundesland, das immer fest zwischen konservativen Christen und sozialdemokratischem Arbeitermilieu aufgeteilt schien. Landeschefin Mona Neubaur dazu:
Wir haben überall zugelegt – das schafft man nicht, wenn man nur in einem Lager fischt.
Im Hauptstadt-Newsletter bei Thepioneer.de/hauptstadt lesen Sie übrigens auch noch exklusiv den neuen EU-Klimaschutzplan von Präsidentin Ursula von der Leyen und warum dieser bei der Industrie gar nicht gut ankommt.
Durch die Corona-Krise ist die Wirtschaftsleistung in Deutschland eingebrochen:
Eine Infografik mit dem Titel: Corona: Wirtschaft bricht ein
Quartalsweise BIP-Veränderung in Deutschland 2019 und 2020, in Prozent
Für das Jahr 2020 sagt die Regierung die schwerste Rezession der Nachkriegszeit voraus: Das Bruttoinlandsprodukt dürfte um 5,8 Prozent schrumpfen. Darunter leidet vor allem der heimische Mittelstand. Eine Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zeigt das auf eindringliche Art:
40 Prozent der befragten Unternehmen geben an, dass sie bis Dezember einen Rückgang der Mitarbeiterzahl um bis zu zehn Prozent im Vergleich zu Ende 2019 erwarten. Jeder Fünfte vermutet sogar einen noch radikaleren Arbeitsplatzabbau.
Fast die Hälfte der befragten Firmen erwartet Umsatzrückgänge von bis zu 25 Prozent. 27 Prozent der Befragten stellen sich sogar auf noch größere Einbußen ein.
Gut 40 Prozent der Befragten gaben an, ihre entsprechenden Ausgaben hierzulande verringern zu wollen.
Aber: Trotz der Rezession wollen fast zwei Drittel der befragten Unternehmen auf staatliche Finanzhilfen verzichten.
Auf den neuen CDU-Chef wartet eine Krönungsmesse im kleinen Rahmen: Das CDU-Präsidium hält trotz der wieder größer werdenden Corona-Gefahr an dem Anfang Dezember in Stuttgart geplanten Parteitag zur Wahl eines neuen Vorsitzenden fest. So will es das engste Führungsgremium um Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Generalsekretär Paul Ziemiak. Ein strenges Hygienekonzept soll verhindern, dass der Parteitag zum politischen Spreader-Event wird:
Demnach sollen am 3. Dezember Präsidium und Bundesvorstand der CDU tagen.
Am 4. Dezember, einem Freitag, soll der Parteitag am frühen Morgen beginnen. Das Ende ist für den Nachmittag geplant. Ursprünglich sollte der Parteitag drei Tage lang dauern.
Anders als sonst soll es keine Gäste etwa aus dem Ausland und auch, schlechte Nachrichten für Lobbyisten, keine Aussteller geben.
Auf der vorläufigen Tagesordnung stehen bisher nur die Rede der scheidenden Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die Aussprache dazu und die Wahl des neuen Parteivorstands.
Für jeden der 1001 Delegierten soll es einen festen Platz geben, elektronische Plaketten werden die Delegierten warnen, wenn sie sich auf weniger als 1,5 Meter Abstand nähern.
Für die Delegierten wird es ein singuläres Erlebnis werden. Schon beim Betreten der Halle spüren sie den Unterschied. Statt CDU-Plastikkugelschreiber und anderen Parteitagsnippes gibt es diesmal eine von AKK angeordnete Fiebermessung.
Ich wünsche Ihnen einen herzhaften Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr