SPD: Verrat auf Samtpfoten

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Guten Morgen,

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um 15:10 Uhr am 1. Oktober des Jahres 1982 verkündeten die Radiostationen aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn etwas Großes, etwas im Grunde Unfassbares: 256 von 495 Abgeordneten des Bundestages stimmten dem konstruktiven Misstrauensvotum zu.

Damit war Helmut Schmidt als Kanzler abgewählt. Der liberale Koalitionspartner war ihm von der Fahne gegangen. Der neue Bundeskanzler hieß Helmut Kohl. Vergeblich hatte sich Schmidt in seiner letzten Rede als Regierungschef gegen den Kanzlerwechsel gestemmt:

Mehr als dreiviertel der Bürgerinnen und Bürger sind für Neuwahlen zum Bundestag. Sie empfinden die Art des Wechsels der heute von ihnen in geheimer Abstimmung herbeigeführt werden soll als Vertrauensbruch. Sie sind bitter darüber, vorausgegangene Erklärungen nachträglich als Täuschung betrachten zu müssen.

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Sein Fahrer fuhr ihn in das leere Reihenhaus in Hamburg Langenhorn, wie wir später von seinem letzten Finanzminister Manfred Lahnstein erfuhren. Frau Loki weilte zu diesem Zeitpunkt im Ausland. Vor dem Haus des einsamen Verlierers marschierte ein Fackelzug auf, organisiert von Henning Voscherau und den Hamburger Jungsozialisten.

Im hessischen Marburg, wo ich damals studierte, war es ein Abend zwischen Wut und Beklommenheit. In den Studentenkneipen der Oberstadt gab es nur ein Thema: den Kanzlerwechsel ohne Neuwahl. Er blieb bis heute ein Novum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Als wir nach Hause gingen, klemmten unter den Scheibenwischern der parkenden Autos Flugblätter, die unsere Gefühle prägnant zusammenfassten: Verrat!

Diesen Verrat will 37 Jahre später die SPD an sich selbst begehen. Sie will die Regierungsverantwortung wegschmeißen wie eine leere Blechdose.

Das Vorgehen der neuen Parteiführung bleibt auch dann ein Verrat, wenn auf dem heute beginnenden Parteitag der Bruch mit der Großen Koalition nicht beschlossen, sondern nur fintenreich vorbereitet wird: ein Verrat auf Samtpfoten.

Olaf Scholz auf dem SZ-Magazin-Cover © Twitter/@pavel

Die Demontage des Finanzministers hat begonnen. Dabei geht es bei der schwarzen Null, die Angela Merkel und Olaf Scholz verteidigen, nicht um eine Zahl, sondern um eine Haltung. Es geht um die gebotene politische Selbstbescheidung und damit die Zurückweisung dessen, was Ingeborg Bachmann mit „Augenblicksgier“ beschrieben hatte.

Es gibt keinen triftigen Grund, das Seriositätsversprechen, das der sozialdemokratische Vizekanzler dem Land gegeben hat, zu brechen. Es gibt – im Gegenteil – sieben gute Argumente, den Aufstand in den eigenen Reihen heute niederzuschlagen:

► Deutschland befindet sich nicht in der Rezession. Die Arbeitskräfte sind knapp, die Wirtschaft brummt, wenn auch etwas verhaltener. Die Milliarden-Munition wird für den konjunkturellen Ernstfall gebraucht.

► Die Investitionsplanung von Olaf Scholz ist besser als ihr Ruf. In den kommenden zehn Jahren will der Bund – inklusive Klimapaket – 550 Milliarden Euro investieren. Für das kommende Jahr sind 43 Milliarden Euro geplant – zehn Prozent mehr als im Vorjahr: ein neuer Investitionsrekord.

► Der Haushalt wird auch in 2019 einen Überschuss ausweisen, dieses Mal in Höhe von 40 Milliarden. Das Problem sind nicht fehlende Mittel, sondern bürokratische Hürden, um die Gelder abzurufen. Ein zweistelliger Milliardenbetrag liegt einsatzbereit auf den Konten des Bundes.

Eine Infografik mit dem Titel: Belastung für die nächsten Generationen

Summe der impliziten Staatsschulden für Deutschland, in Billionen Euro

Neue Schulden sind das Gift, das die Gegenwart der Zukunft injiziert. 2018 stieg die implizite Verschuldung, unter der die Summe aller bislang ungedeckten Leistungsversprechen des Staates zusammengefasst werden, auf 7,6 Billionen Euro (siehe Grafik). Das entspricht einer Verschuldung in Höhe von 226 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Eine Infografik mit dem Titel: Ausgeprägter Sozialstaat

Sozialausgaben insgesamt gegenüber Bruttoinlandsprodukt in 2018, in Milliarden Euro

► Gebraucht wird nicht zusätzliches Geld, sondern eine neue Balance zwischen Konsum und Investitionen. Fast die Hälfte des Bundeshaushaltes geht mittlerweile an das Sozialministerium. Die SPD sollte in die Chancen und Sehnsüchte der kleinen Leute investieren, statt diese zu narkotisieren.

► Investitionen, die nicht zu Korruption, Verschwendung und Missmanagement führen sollen, benötigen eine sorgfältige Planung. Deutschland braucht eine Idee von sich selbst und seiner Zukunft.

► Ein wichtiges Argument für die SPD-Delegierten zum Schluss. Eine Sozialdemokratie mit Linksdrall verschreckt die Wähler der Mitte. Laut ARD-Deutschlandtrend von gestern ist Olaf Scholz der zur Zeit beliebteste SPD-Politiker. Wer ihn übers Kliff schiebt, erweist der SPD keinen Dienst. Wahrscheinlich tut er sogar das Gegenteil: Wer nach links flieht, stärkt rechts.

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Fazit: Die Genossen müssen sich entscheiden, ob sie einen zweiten Schmidt-Moment erleben wollen. Der Einkauf im Second-Hand-Laden der abgelegten Ideologien wird die Wähler der Mitte nicht überzeugen. Das von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken konzipierte Programm einer sozialdemokratischen Freak-Show ist nicht fortschrittlich, nur kauzig. Dieses Spektakel führt ins Nirwana, aber niemals ins Bundeskanzleramt.

Geht es nach dem neuen SPD-Duo, muss die Bundesregierung einen Neustart hinlegen. Doch ist die Union dazu bereit?

Über diese und andere Fragen unterhält sich „Welt“-Vize Robin Alexander im Morning Briefing Podcast mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und CDU-Landeschef Armin Laschet. Zu Walter-Borjans Vorhaben, das Prinzip des Haushalts ohne neue Schulden zu kippen, sagt der CDU-Vize:

Man kann einen Haushalt ohne neue Schulden aufstellen. Zur Überraschung von Walter-Borjans zeigen wir gerade, dass so etwas selbst in Nordrhein-Westfalen möglich ist.

Seine Empfehlung an Union und SPD:

Jeder muss sich überlegen, wie wird man eigentlich besser in den Umfragen. Wird man besser, wenn man gute Politik macht – oder wenn man jeden Tag darüber nachdenkt, dass man keine Lust zum Regieren hat.

Über seine eigenen Ambitionen schweigt sich Laschet aus. Traut er sich die Kanzlerkandidatur zu? Seine Antwort:

Über die Frage reden wir, wenn sie ansteht.

Erst zwei Bundeskanzler – Helmut Schmidt und Helmut Kohl – haben in ihren jeweiligen Amtszeiten das Konzentrationslager Auschwitz besucht. Heute wird mit Angela Merkel wieder eine Regierungschefin den Ort des Grauen besuchen.

Grund genug für meinen Kollegen Robin Alexander, im Morning Briefing Podcast mit Götz Aly zu sprechen. Der Historiker gilt als einer der bekanntesten deutschen Forscher zum Nationalsozialismus.

Im Gespräch geht es zum Beispiel um die jüngste Aktion des Künstlerkollektivs „Zentrum für Politische Schönheit“. Die Gruppe hatte in Sichtweite des Reichstagsgebäudes eine „Gedenkstätte“ errichtet, Teil davon ist eine Stahlsäule, die offenbar die Asche von Opfern des Nazi-Regimes enthält. Götz Aly sagt:

Dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, ist prima.

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In dem Gespräch geht es aber auch um die Frage, ob die politische Gegenwart mit der NS-Zeit verglichen werden darf. Aly:

Der Rechtsnationalismus ist längst nicht die einzige Quelle, die zu so etwas führen kann wie dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933. Dazu gehört die Zersetzung von demokratischen Institutionen vorher. Dazu gehört auch der Radikalismus und die Republikfeindlichkeit der KPD in der Zeit vor 1933. Und dazu gehören selbstverständlich auch schwere Wirtschaftskrisen.

Fazit: Ein Gespräch das erhellt. Prädikat: wertvoll.

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Die Jury der Journalistenvereinigung „The Group of 20+1“, der Reporter von „Spiegel“ und „FAZ“ angehören, müsste eigentlich heute Morgen geschlossen zurücktreten. Eben noch hatten sie den 58-jährigen CEO der italienischen UniCredit, Jean Pierre Mustier, zum „European Banker of the Year 2018“ gewählt. Der Franzose sei eine „stringente und prinzipientreue“ Persönlichkeit, er habe den Konzern „eindrucksvoll gedreht“, heißt es in der Urteilsbegründung.

Womöglich war da eine Umdrehung zu viel. Denn Mustier trennt sich angesichts fallender Zinsen und geringer Wachstumsaussichten von 8.000 Mitarbeitern – in den vergangenen drei Jahren waren es bereits 14.000.

Die Kosten der nach der Finanzkrise in schwierige Fahrwasser geratenen Bank – 2016 machte sie 11,8 Milliarden Euro Verlust – sollen bis 2023 um eine Milliarde gesenkt werden. Bis dahin will man die Anleger mit einem Aktien-Rückkaufprogramm bei Laune halten. Der Preis, den der CEO im Regal stehen hat, gehört da nicht hin.

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Greta Thunberg für Fortgeschrittene: Das Umweltbundesamt liefert jene drastischen Maßnahmen zur Klimapolitik, vor denen sich das Bundeskabinett bislang gedrückt hat.

Die Experten listen auf, was wirklich helfen würde: Eine Erhöhung der Energiesteuern, vor allem für Diesel, den Wegfall der Pendlerpauschale und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Der CO2-Preis, den die Bundesregierung zunächst auf zehn Euro pro Tonne angesetzt hat, sollte nach Vorstellung der Behörde auf 205 Euro pro Tonne steigen. Da kommt Freude auf – vor allem aber bei Greta Thunberg.

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In den vergangenen Jahrzehnten hat sich unsere Persönlichkeit verändert – und zwar zum Besseren. Das fanden Verhaltensforscher der Universität Helsinki heraus, die messbaren Werte für Selbstsicherheit, Bedächtigkeit und Geselligkeit sind demnach angestiegen. Der bessere Mensch wohnt mitten unter uns. Zuweilen sieht er aus wie wir.

Dazu passt: Die Gemütslage der deutschen Konsumenten lässt sich von der Flut der negativen Nachrichten nicht beeindrucken. Dem Handelsverband Nord zufolge profitiert das Weihnachtsgeschäft von der ausgesprochen guten Stimmung der Konsumenten.

Diese lassen sich weder von Trump und Terrorangst noch von der allgemeinen Konjunktureintrübung beirren. Was in der Medizin mit Resilienz, also psychischer Widerstandsfähigkeit, beschrieben wird, gilt auch für den Alltag der Konsumenten. Wir hadern - und wir lachen. Irgendjemand hat in uns den Optimismus gepflanzt. Oder um es mit Albert Camus zu sagen:

Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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