wer den Niedergang der Volksparteien verstehen will, muss nur die Lieblingsthemen der Großen Koalition mit den Schmerzpunkten der Mittelschicht abgleichen – und zügig stellt er fest: Es gibt kaum eine Schnittmenge.
Das Kabinett kreist mit großer Leidenschaft um das Thema Klimaschutz: Die Reise der Kanzlerin nach New York, der nahezu 19-stündige Koalitionsgipfel und die sich in Vorbereitung befindenden Kabinettsbeschlüsse atmen den Geist der Klimaaktivistin Greta Thunberg.
Auch Kanzlerin Angela Merkel, SPD-Finanzminister Olaf Scholz und CSU-Chef Markus Söder tragen neuerdings Grün. Die Volksparteien haben sich im Milieu der Ökopartei derart geflissentlich assimiliert, dass selbst deren Paarungsverhalten bei der Bildung einer neuen SPD-Spitze nachgespielt wird.
Die Mehrheit der Wähler aber verfolgt ausweislich aller Meinungsumfragen andere Prioritäten. Je weiter man sich vom akademisch gebildeten Großstadtmilieu in Richtung der Vorstadt und von dort in die Dörfer bewegt, desto flüchtiger wird die Vision von Elektroauto und Sojaschnitzel. Dort draußen riecht es wie gehabt nach Bratwurst und Diesel.
© dpaNeben den Evergreens der Ängste – Migrationsfurcht, Mietenangst und Konjunktursorgen – ist dort die Skepsis gegenüber dem Euro zurückgekehrt. Was als akademische Debatte begann – und im Jahr 2013 zur Gründung der AfD führte – meldet sich nun als schmerzhafte Alltagserfahrung zurück. Weil die Europäische Zentralbank den Einlagezins für die Geldhäuser in den roten Bereich drehte, greifen die Banken in ihrer Not auf die Sparguthaben der Kundschaft zu. Der Strafzins, der sich neuerdings hinter dem Schleierwort „Verwahrentgelt“ verbirgt, ist die Vermögenssteuer des kleinen Mannes. Nur, dass ihn kein Verfassungsgericht vor diesem Übergriff schützt. Aus bereits versteuertem Einkommen muss er seinen Obolus entrichten.
Eine Infografik mit dem Titel: Zinsniveau: Der Verfall
Entwicklung des durchschnittlichen Zinssatzes für Spareinlagen, in Prozent
► Im Jahr 2018 bekam der Sparer auf seine Einlagen im Schnitt immerhin noch 0,2 Prozent Zinsen ausgezahlt (siehe Grafik oben), was angesichts einer höheren Inflationsrate schon bisher kein Geschäft war. Seit neuestem wird nun am Bankschalter unverhohlen die Hand aufgehalten.
► Vor allem Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken, die ihr Geld größtenteils mit der Zinsspanne zwischen niedrigeren Einlagezinsen und höheren Kreditzinsen verdienen, geben die Belastung an die Sparer weiter.
► Weil das allein nicht hilft, will die Münchner Sparkasse bis Jahresende die Prämien-Sparverträge von 28.000 Kunden kündigen. Im Juli hatte die Sparkasse in Nürnberg vorgelegt: 21.000 Verträge wurden einseitig aufgelöst.
► Laut „Handelsblatt“ verfahren bundesweit mittlerweile 40 Sparkassen genauso. Insgesamt soll es sich um mehr als 100.000 Verträge handeln, die obsolet wurden.
Eine Infografik mit dem Titel: Der Zinsschaden
Netto-Zinsverlust deutscher Sparer seit 2010 in Relation zu anderen Wirtschaftsgrößen
Der Zinsschaden der deutschen Sparer, den die DZ Bank im Mai dieses Jahres noch auf 358 Milliarden Euro netto seit dem Jahr 2010 beziffert hatte (siehe Grafik oben), wird sich weiter vergrößern. Der ehemalige grüne Finanzpolitiker Gerhard Schick, der heute die Nichtregierungsorganisation „Bürgerbewegung Finanzwende“ anführt, weiß auch warum:
Das Problem ist, dass wir elf Jahre seit dem Höhepunkt der Finanzkrise immer noch in einer Situation stecken, in der der Finanzmarkt völlig durcheinander ist. Die Transmissionsfunktion zwischen Sparen und Investieren wird durch den Negativzins massiv gestört.
Eine vergleichbare Störung lässt sich auch für das Verhältnis zwischen Volk und Volksparteien diagnostizieren. Eifrig rennt man den Grünen hinterher, in der Hoffnung spätestens an der Wahlurne den Zeitgeist zu erhaschen. Aber irgendwie ist der immer schon weg. Bislang jedenfalls liefert diese Politik für die Nachahmer-Parteien keine Erfolge. Anders als die Funktionäre von Union und SPD wären die Indianer vom Stamme der Sioux keineswegs überrascht. Sie wissen ja: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.
Die grüne Welle ist eine Welle des Erfolges – aber eben nur für ihre Protagonisten. Die „Fridays for Future“-Bewegung, deren Erfinderin Greta Thunberg mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt wird, mag den Erfolg mit der Groko nicht teilen. Die „deutsche Greta“, ihr Name lautet Luisa Neubauer, gibt auch für das Klimapaket von Merkel & Co. keinen Rabatt. Im Morning Briefing Podcast mit meinem Kollegen Robin Alexander erneuert und verschärft sie die Kritik. Ihre Kernaussagen:
Es spricht schon Bände, dass das Klimapaket verabschiedet wird, und die einzigen, die ihm zustimmen, Personen aus der Automobilindustrie sind.
Die demütigen Respektsbezeugungen der etablierten Politik gegenüber der Jugendbewegung werden von Neubauer dankbar entgegengenommen – und dann nicht erwidert:
Es kann doch nicht angehen, dass wir mehr oder weniger 30 Jahre lang keinen guten Klimaschutz hinbekommen, sich die Koalition in einer Nachtsitzung darauf einigt, was sie tun will, und dieses Ergebnis am Ende dann ein schlechter Witz ist. Ich frage mich, mit welcher Legitimität sich diese Regierung noch für handlungsfähig erklärt.
Fazit: Der politische Opportunismus zahlt sich für die Opportunisten nicht aus. Sie gewinnen in der Innenstadt nicht das, was sie in der Vorstadt verlieren. Der in gefälliger Absicht komponierten Klimapolitik der Groko geht es wie den Sparguthaben der Bürger: Sie verzinst sich negativ.
Mit dem angekündigten Rücktritt von Sabine Lautenschläger aus dem Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) hat der Personalpoker um die Nachfolge begonnen. Die Bundesregierung kann im Benehmen mit der Bundesbank freihändig entscheiden. Hier das Tableau der Kandidaten und Kandidatinnen:
► Claudia Buch, bislang Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank, hält sich mit öffentlicher Kritik an EZB-Chef Mario Draghi zurück. Ihre Chancen stehen gut, auch weil sie die EZB kennt, versteht und wertschätzt.
► Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und ehemaliger Leiter der Abteilung International Policy Analysis bei der EZB, ist der wortgewaltigste Fürsprecher Draghis. Er würde beim DIW keine Lücke, sondern einen Krater hinterlassen.
► Die Ökonomin Elke König, Vorsitzende des Single Resolution Board, ist eine Expertin für Bankenaufsicht und unterstützt die europäische Einlagensicherung der Finanzinstitute. Falls sie Draghi kritisiert, dann nur im Nachtgebet.
► Die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel, Professorin für Finanzökonomie an der Universität in Bonn, ist eine überzeugte Europäerin und vertritt die Positionen der EZB. Eine wohltemperierte Kritik an der ständigen Ausweitung der Anleihekaufprogramme allerdings kann und mag sie sich nicht verkneifen.
► Allenfalls Außenseiterchancen besitzt Elga Bartsch vom Vermögensverwalter Blackrock: Sie ist wie alle Großinvestoren ein Fan der Geldflutungspolitik und findet auch die Idee von „Helikoptergeld“ keineswegs abwegig. Für die Kanzlerin ist sie zu extrem.
Fazit: Keiner der Kandidaten und keine der Kandidatinnen – soviel ist absehbar – wird die ordnungspolitische Kritik von Sabine Lautenschläger fortführen. Eine Traditionslinie der deutschen Geldpolitik stirbt allmählich aus. Nur Bundesbankchef Jens Weidmann hat noch auf Widerstand geflaggt, allerdings auf Halbmast.
In zweitägigen Beratungen mit dem Aufsichtsrat ist es dem Commerzbank-Vorstand gelungen, seine Komfortzone zu erweitern. Weil die Bank in der jüngeren Vergangenheit ihre Gewinnziele regelmäßig verfehlte, wird die Latte nun tiefer gelegt. Statt einer Eigenkapitalrendite von zehn Prozent genügt bis 2023 eine Eigenkapitalrendite von vier Prozent. Der Bund als Miteigentümer hat zugestimmt. Respekt! Falls es einen Oscar für maximale Work-Life-Balance gibt – Vorstandschef Martin Zielke hätte ihn verdient.
Seit seinem Rücktritt als SPD-Parteichef im März 2017 und dem Ausscheiden aus dem Bundeskabinett im folgenden Jahr wurden Sigmar Gabriel und die Sozialdemokraten keine Freunde mehr. Die Partei rückte seither nach links, er blieb in der Mitte, weshalb der Abstand zwischen beiden sich vergrößert hat. Die SPD will sich jetzt selbst spüren und nicht reiben. Und schon gar nicht an einem wie Gabriel.
Im Bundestag hat seine Partei ihm lediglich die Aufgabe eines stellvertretenden Mitglieds im Europa-Ausschuss überlassen, womit sich kein Anspruch auf ein eigenes parlamentarisches Rederecht konstituiert. In den vergangenen 18 Monaten durfte der begnadetste Redner, den die Gegenwarts-SPD zu bieten hat, nur ein Mal ans Rednerpult treten. Gabriel war auf stumm geschaltet.
Zum 1. November gibt er nun sein Mandat zurück, wie er in einem Schreiben an Freunde und Weggefährten mitteilt. Die Gründe seien „sehr persönliche“. Und das ist, eingedenk der lautlosen Demütigung durch die eigene Partei, eine zugleich treffende wie auch diskrete Beschreibung des Sachverhalts.
Unweigerlich kommt einem der alte 68er-Satz, das Private ist auch politisch, in den Sinn. Wobei dieser Satz im Falle des Gefühlsmenschen Sigmar Gabriel immer auch rückwärts galt.
Ich wünsche ihm und Ihnen ein Wochenende in heiterer Gelassenheit. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr