die Sozialdemokraten aller Herren Länder laden in diesen Tagen zum Totentanz. In einer spektakulären Choreografie tänzeln moribunde Parteien und ihre präfinalen Protagonisten an den Bühnenrand, um ihre Wollust am eigenen Untergang mit dem Publikum zu teilen.
Von der Seite kommend sehen wir August Bebel und Rosa Luxemburg im Paartanz vereint, gespielt von den deutschen Laienschauspielern Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Im Hintergrund hört man das knatternde Moped von François Hollande, mit dem er seine Freundin besuchte. Es war das Letzte, was man von dem sozialistischen Staatspräsidenten hörte. Aus dem Off meldet sich Jeremy Corbyn zu Wort. Offenbar im Zustand ekstatischer Verwirrung rezitiert der Labour-Chef ein feuriges Potpourri aus den Werken von Karl Marx.
© Media PioneerVorne am Bühnenrand dreht derweil Bernie Sanders seine Pirouetten, während das Publikum – darin besteht die Raffinesse der Inszenierung – jederzeit fürchten muss, der 78-jährige US-Demokrat könnte vornüber in den Saal kippen.
© ThePioneerDie Aufführung lebt von ihrer zeitgenössischen Mischung aus Aktualität und Absurdität. Wer nach einer inneren Handlung für das Spektakel sucht, wird diese im gemeinsam erlebten Verfolgungswahn auf Vermögende, Besserverdiener und Bernies „super-rich“ finden. Man plant nichts Geringeres als einen Mord an den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen, auch wenn der Mord sich später, soviel sei hier schon verraten, als Selbstmord für die sozialdemokratischen Parteien erweisen wird.
Untermalt wird das düstere Spiel vom Gewerkschaftschor aus Manchester, der die Moritat von Bertolt Brecht anstimmt:
Und der Meier bleibt verschwunden Und so mancher reiche Mann Und sein Geld hat Mackie Messer Dem man nichts beweisen kann.
Bei „Anne Will“ gaben gestern Abend die designierten SPD-Vorsitzenden, die von den über 425.000 stimmberechtigten Mitgliedern nur rund 115.000 von sich überzeugen konnten, eine Kostprobe ihrer Unversöhnlichkeit. Sie plädierten für ein 500-Milliarden-Investitionsprogramm, finanziert von den Besserverdienern und auf Pump. Olaf Scholz dürfe Finanzminister bleiben, aber die schwarze Null müsse fallen. Seine Wahl betrachtet Norbert Walter-Borjans als Basisrevolution:
Wenn eines gestern abgestimmt worden ist, dann ist es, dass die Mitglieder nicht sich von oben sagen lassen wollten, wer diese Partei repräsentiert.
Fazit: Das sozialdemokratische Zeitalter in Deutschland endet wie es begonnen hat: mit Klassenkampf. Dazwischen lagen Jahrzehnte einer…
► strategisch klugen Außenpolitik (Willy Brandt), die zur Entspannung zwischen Ost und West führte.
► einer europäischen Staatskunst (Helmut Schmidt), die mit der Schaffung des europäischen Währungssystems als Vorläufer des Euro endete.
► und der geglückte Versuch, den verkrusteten Arbeitsmarkt der Bundesrepublik zu reformieren (Gerhard Schröder).
Eine Infografik mit dem Titel: SPD: Die Partei in der Krise
Zweitstimmenergebnisse der SPD bei Bundestagswahlen seit Wahl von Willy Brandt 1969, in Prozent
Nichts von alledem hat das neue Führungsduo zu bieten, nicht einmal als Möglichkeit. Gedanklich verhärmt stehen die beiden vor uns. Wenn einer Deutschlands ältester Partei in dieser Lage Trost spenden darf, dann Botho Strauß: „Sich verirren ist das bewährteste unter den schöpferischen Entdeckungsverfahren.“
Mein Kollege Michael Bröcker, lange Jahre Chefredakteur der „Rheinischen Post“, kommentiert im Morning Briefing Podcast die Berliner Ereignisse. Seine Kernaussagen:
Die neue Doppelspitze der SPD ist mehr Verzweiflungstat denn Verheißung. In die Nachfolge von August Bebel, Willy Brandt und Gerhard Schröder treten zwei Sozialdemokraten, die nie eine Wahl gewonnen haben.
Die politische Bilanz von Norbert Walter-Borjans ist bescheiden. Seinen Haushalt als nordrhein-westfälischer Finanzminister wies der Verfassungsgerichtshof gleich drei Mal als rechtswidrig zurück. Von Walter-Borjans blieben knuffige Sprüche, hohe Schulden und eine Finanzpolizei, die mit geklauten Daten Jagd auf Steuerbetrüger machte.
Saskia Esken hat ihren Wahlkreis noch nie direkt gewinnen können. Zuletzt bekam sie 16,9 Prozent der Erststimmen, das ist weniger als der SPD-Bundesdurchschnitt in den Umfragen.
Der wahre Gewinner ist Juso-Chef Kevin Kühnert, dessen Truppen zur Wahlurne stürmten, um der ungeliebten Großen Koalition einen Denkzettel zu verpassen. Das ist gelungen. Respekt!
Die SPD strebt raus aus der Regierung. Mit wem aber lässt sich in Deutschland künftig Staat machen? Die Wählerinnen und Wähler haben da laut der jüngsten Forsa-Umfrage eine Idee:
Eine Infografik mit dem Titel: Die schwarz-grüne Mehrheit
Sonntagsfrage zur Bundestagswahl, in Prozent
Angesichts der acht Prozent für die „sonstigen Parteien“ könnten Union (27 Prozent) und Grüne (22 Prozent) mit derzeit 49 Prozent eine hauchdünne Mehrheit bilden. Die FDP würde dazu – sagt Forsa – nicht gebraucht.
Daimler-CEO Ola Källenius kann es derzeit keinem recht machen. Der angekündigte Stellenabbau von 10.000 Jobs bringt die Arbeitnehmer auf die Barrikaden. Im „Spiegel“ sagt Betriebsratschef Michael Brecht:
Wir diskutieren nur über Sparmaßnahmen, die Zukunftspläne gehen dabei völlig unter.
Dem „Handelsblatt“ zufolge fallen auch Investoren über den neuen Mann an der Spitze her. Der Personalabbau geht ihnen nicht weit genug. Die Beschäftigungsgarantie bis 2029 für Mitarbeiter in Deutschland, ausgemacht unter dem damaligen CEO Zetsche, dessen Vorstand Källenius seit 2015 angehörte, behindere den Weg in die Moderne. Der Investor sagt:
Das war ein kapitaler Managementfehler.
Fazit: Der neue Chef kam, die schlechte Laune blieb.
Eine Infografik mit dem Titel: Das Milliardendebakel
Geschätzte Kosten für den Flughafen Berlin-Brandenburg, in Milliarden Euro
Der neue Berliner Flughafen wird – wieder einmal – teurer als gedacht. Die ursprünglich angesetzten Baukosten von 1,9 Milliarden Euro sind mittlerweile ohnehin schon auf 7,1 Milliarden Euro inklusive Finanzierung gestiegen. Da wirkt der aktuelle Nachschlag von nur 300 Millionen Euro geradezu wie ein Schnäppchen. Wir sollten uns darüber nicht mehr aufregen. Das für den Flughafen reservierte Empörungsbudget ist aufgebraucht.
Einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker deutscher Sprache feiert heute Geburtstag: Botho Strauß, wir haben ihn oben schon kurz erwähnt, wird 75. Der Mann, der half, mit seinen Stücken den Ruhm der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz zu begründen, ist der große Einzelgänger des deutschen Kulturbetriebes.
Unvergessen sein im Jahr 1993 veröffentlichter „Spiegel“-Essay „Anschwellender Bocksgesang“, in dem er für eine konservative Lebenseinstellung plädierte, die er in provozierender Absicht „rechts“ nannte:
Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift […] inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse.
Die Moderne mit ihrer Endlosschleife von Talkshows empfindet er als „Distanzraub“. Facebook und Twitter betrachtet er als die „Bakterienschwärme neuer Medien“. „Diskretion wäre heute das zentrale Widerwort zu allem, was da läuft, sich äußert und outet“, schreibt er in „Lichter des Toren“. Vor 30 Jahren zog er sich in die Uckermark zurück und hat seitdem keine Interviews mehr gegeben. Er lässt das Werk sprechen, verweigert sich jeder Lesehilfe, verkneift sich auch die schnelle politische Intervention. Sein Verleger Alexander Fest sagt:
Es gibt bei ihm eine bewusste Entscheidung dafür, aus der Zeit herauszutreten.
Im Morning Briefing Podcast spreche ich nicht mit, sondern über Botho Strauß – und zwar mit dem ehemaligen Theaterregisseur und heutigen Kulturchef des Debattenmagazins „Cicero“, Dr. Alexander Kissler, der den Kern vom Kern des Botho Strauß so zusammenfasst:
Man muss sich aus der Welt zurückziehen, um die Welt zu verstehen.
Er ist ein programmatischer Außenseiter. Einmal verwendet er sogar – nicht negativ – den Begriff des Idioten und sagt: Der Idiot ist vom Griechischen her der Abgesonderte. Und als ein solcher Abgesonderter begreift er sich bis in seine Lebensweise hinein.
Er ist unser Bewusstseinschoreograf, unser Bewusstseinschronist vielleicht auch.
Um Strauß zu verstehen, müsse man auch seine Medienkritik verstehen:
Für ihn ist klar: Man kann nur gute Dichtung schreiben, wenn man auch Medienkritik betreibt. Und warum? Weil die Medien sein Handwerkszeug, die Sprache, entstellen und dadurch auch einen Zugriff haben auf die Gedanken.
Fazit: Botho Strauß ist eine Zumutung – aber eine notwendige. Seine Verzweiflung an der Gegenwart könnte unsere Genesung bedeuten.
Ich wünsche dem Dichter und Ihnen einen kraftvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr