das beherrschende Thema aller Medien ist heute Morgen das erste TV-Triell der Kanzlerkandidaten. Millionen Zuschauer hatten RTL eingeschaltet. Fast zwei Stunden wurde – moderiert von Pinar Atalay und Peter Kloeppel – in Berlin Adlershof debattiert. Dazu fünf Anmerkungen:
1. Annalena Baerbock ist von ihrem Stolperstart genesen. Sie war die Angriffsfreudigste in der Runde – forsch, manchmal auch frech. Falls sie in den letzten Wochen die Selbstzweifel gequält haben sollten, wovon auszugehen ist, ließ sie sich gestern nichts anmerken. Ihr Lächeln wurde an- und ausgefahren wie ein Klappmesser. Ihr Lieblingsopfer: Armin Laschet.
© dpa2. Olaf Scholz blieb auch in dieser Runde der, der er ist. Er hat nun mal als SPD-Generalsekretär in der Munitionsfabrik für politische Propaganda seine Lehre absolviert. Er weiß, wie man die Worte balanciert, die Mimik unter Kontrolle hält und persönliche Beziehungen im politischen Nahkampf einsetzt. So gesehen war sein Kompliment an Annalena Baerbock („Engagierte Politikerin”) nicht persönlich, sondern politisch. Nur mit ihr kann – und will – er weiter eine führende Rolle in der Bundespolitik spielen. Rot-Grün lebt – und sei es in der Fantasie der Akteure.
Eine Infografik mit dem Titel: SPD führt das Rennen an
Aktuelle Umfrage zur Bundestagswahl, in Prozent
3. Armin Laschet war besser als sein Ruf. Er hat gekämpft, aber überrascht hat er nicht. Sein Diktum, die Tassen im Schrank zu lassen, ist vernünftig, aber macht im Fernsehen nicht viel her.
Das Modernisierungsjahrzehnt, von dem in seinen Vorträgen jetzt oft die Rede ist, spielte gestern Abend keine Rolle. Stattdessen versprach er Kontinuität und Stabilität. Damit fiel er hinter die eigene Erkenntnis und – wichtiger noch – hinter die objektive Notwendigkeit des Landes zurück.
Mit dieser Art Performance, die man ohne Polemik als „Wahlkampf ohne Kampf“ beschreiben kann, gewinnt man den Ehrenpreis der Humanistischen Union, aber nicht das Kanzleramt.
4. Die Machtfrage wurde im Schlussakkord doch noch angesprochen. Laschet nahm all sein Provokationspotenzial zusammen und thematisierte die Camouflage des SPD-Kandidaten bezüglich der Linkspartei. Die Tatsache nämlich, dass der Scholz-Wähler nicht sicher sein kann, dass seine Stimme machtpolitisch nicht doch an die Linkspartei weitergereicht wird, bleibt die große Unheimlichkeit dieser Wahl. Das eben unterscheidet die Scholz-Wahl von der Helmut-Schmidt-Wahl. Wer 1976 Schmidt wählte, bekam Schmidt. Der Mann war unverbiegbar. Wer Scholz wählt, ist womöglich nur der Steigbügelhalter für eine errötete Republik.
Eine Infografik mit dem Titel: CDU: Die Kanzlergeschichte
Zweitstimmenergebnisse der CDU/CSU bei Bundestagswahlen, nach denen die Union den Kanzler stellte, in Prozent
5. Der gute Journalist muss – um mit dem Dichter und Futuristen Wladimir Majakowski zu sprechen – der Wirklichkeit eine Stunde voraus sein. Doch der Blick um die nächste Biegung fehlte gestern Abend. Das Moderatoren-Pärchen war der journalistischen Augenblicksgier verfallen. Dabei haben wir es nach 16 Jahren Merkel mit einem veritablen Reformstau zu tun. Hinterm Horizont geht es so nicht weiter. Die Staatlichkeit ist verstaubt; die demografischen Probleme schieben sich wie eine Endmoräne ins Tal der Zukünftigen, das geostrategische Denken scheint ausgestorben und über alledem thront eine Kanzlerin, so starr und so wächsern als hätte Madame Tussauds sich ihrer zu Lebzeiten schon angenommen. Nichts davon wurde adressiert – von den Moderatoren nicht, aber eben auch nicht von Laschet und Baerbock.
Fazit: Der Kontrast zu den amerikanischen Präsidentschaftsduellen könnte größer kaum sein. Im US-Mehrheitswahlsystem – das ein The-Winner-Takes-It-All-System ist – wird mit harten Bandagen um die Macht gerungen: Der oder ich, lautet die Frage. Das deutsche Verhältniswahlrecht bringt immer mehr als einen Gewinner hervor. Das bedeutet: Die Gegner von gestern sind die Koalitionspartner von morgen.
Im Netz war während und nach der Sendung der Teufel los. Hier einige Stimmen:
Johannes Vogel, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP:
Keine Minute zu Lösungen bei Demographie & Rente im ganzen #Triell, nicht EINE? Obwohl die nächste Legislatur die letzte ist, bevor die Babyboomer in Rente gehen.
Laura Hofmann von den Grünen:
Für sein Schlussstatement hätte Armin Laschet keine Minute gebraucht, sondern nur zwei Worte: Weiter so!
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil:
Armin Laschet kämpft um seine Zukunft, nicht um die Zukunft des Landes.
Die @ABaerbock im #Triell an Laschet: „Es würde mich freuen, wenn sie auch mal Ideen für den Klimaschutz einbringen würden.
© dpaWann wird endlich das heiße Eisen Lastenrad angepackt?
© dpaStarker Auftritt und klarer Sieg von Armin Laschet.
Wann kommt endlich Werbung?
Umfrageschock für Union nach #Triell: TV-Duell-Gebärdendolmetscherin jetzt vor Armin Laschet.
Das Debakel von Afghanistan beschäftigt weltweit Politiker, Wirtschaftsmanager und Militärs. Noch immer stehen die meisten fassungslos vor dieser geostrategischen Niederlage, von der noch unklar ist, wie stark sie die Feinde des Westens zum Feldzug gegen die Freiheit ermuntert. Was man jetzt schon sieht:
Der islamistische Terror flammt auf;
der Flughafen Kabul wird weithin zum Symbol des westlichen Scheiterns;
die großen Gegenspieler, Russland und China, schnurren in der Kulisse wie die Katzen.
Jim Banks hatte als Foreign Military Sales Officer die Aufgabe, die militärische Ausrüstung der USA zur Verteidigung gegen die Taliban an die afghanischen Streitkräfte zu verteilen. In einem Briefing der Republikaner im Repräsentantenhaus legt der frühere Trump-Unterstützer, der sich an der Supreme-Court-Klage gegen das Wahlergebnis von 2020 beteiligte, offen, welche Ausrüstung man der Armee überlassen hat, die sich nun in den Händen der Taliban befindet:
© imagoIch werde Ihnen vorlesen, was für mich und viele andere afghanische Veteranen so schmerzlich ist: Wir wissen jetzt, dass die Taliban aufgrund der Nachlässigkeit dieser Regierung Zugang zu amerikanischer Militärausrüstung im Wert von 85 Milliarden Dollar bekommen hat. Dazu gehören 75.000 Fahrzeuge, mehr als 200 Flugzeuge und Helikopter und über 600.000 Handfeuerwaffen.
Die Taliban verfügen über mehr ‚Black Hawk‘-Helikopter als 85 Prozent der Länder weltweit.
Aber sie haben nicht nur Waffen. Sie besitzen auch Nachtsichtgeräte, Schutzwesten und medizinische Ausrüstung. Und was für mich und viele andere unbegreiflich ist, dass die Taliban jetzt über biometrische Geräte verfügen, welche die Fingerabdrücke, Augen-Scans und biographischen Angaben der afghanischen Soldaten und Ortskräfte beinhalten, die uns in den vergangenen 20 Jahren unterstützt haben.
© dpaDiese Regierung hat noch immer keinen Plan, wie sie diese militärische Ausrüstung zurückbekommen will.
Mit dem ehemaligen Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, der heute die Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne betreibt, spreche ich im Morning Briefing Podcast über den stillen Rückzug des Westens, der bereits in der Akzeptanz der Krim-Besetzung durch Russland und bei der freiwilligen Übergabe Hongkongs an China seinen Ausdruck fand. Fücks, der bei der Auseinandersetzung um den Kosovo-Einsatz im Jahr 1999 auf der Seite der „grünen Bellizisten“ stand, die sich schließlich gegen die Fraktion der Pazifisten durchsetzten, sagt:
Die liberalen Demokratien sind in einer Krise; das betrifft ihre Leistungs- und Handlungsfähigkeit, aber auch die Zustimmung der Bevölkerung.
Der Rückzug des Westens führe zur Ertüchtigung anderer:
Es gibt auf der Welt kein machtpolitisches Vakuum. Deshalb werden die Räume, aus denen wir uns zurückziehen, von denen besetzt, die machtbewusst nach vorne drängen.
In Deutschland und anderswo erfolge kein Aufschrei, sondern er registriere fast schon Erleichterung über die reduzierte weltpolitische Verantwortung. Seine Erklärung:
Es gibt eine ‚Ohne-Mich-Tradition‘, auch in Deutschland, und zwar links wie rechts.
Er empfindet diese Entwicklung nicht als friedensfördernd, sondern als den Krieg begünstigend:
Wer auf militärische Macht prinzipiell verzichten will, überlässt die Welt den Skrupellosen.
Auch mit Sigmar Gabriel, dem ehemaligen Außenminister und Vizekanzler, haben wir die afghanischen Ereignisse analysiert. Im Gespräch mit Gordon Repinski sagt der heutige Chef der Atlantik-Brücke:
Es sind viele afghanische Helferinnen und Helfer, die dort zurückbleiben und jetzt Angst haben müssen, weil sie uns geholfen haben. Soweit ich weiß, sind auch Bundesbürger noch vor Ort. Das ist bitter und eine große Schande nicht nur für Deutschland, sondern für den ganzen Westen.
Das Gespräch mit Ralf Fücks hören Sie im heutigen Morning Briefing Podcast. Das halbstündige Gespräch mit Sigmar Gabriel erscheint als Hauptstadt – Das Briefing Spezial. Sie finden es unter www.thepioneer.de und in der Pioneer App bei Google und Apple.
Die aktuelle Lage heute Morgen:
Bis zum morgigen Dienstag sollen die letzten amerikanischen Soldaten Kabul verlassen haben. Dem TV-Sender CNN zufolge werde lediglich „eine kleine Anzahl US-Diplomaten“ für einzelne Evakuierungen nach dem 31. August vor Ort bleiben. Die Eröffnung einer Botschaft sei laut US-Außenminister Antony Blinken „nicht wahrscheinlich“.
Derweil haben die USA ihre Sicherheitswarnungen für Kabul weiter verschärft und raten dazu, den Flughafen und alle Gates zu meiden. Die Lage vor Ort sei „äußerst gefährlich, die Bedrohung durch Terroranschläge bleibt hoch“, betonte US-Präsident Joe Biden.
Wie das Auswärtige Amt am Freitag mitteilte, warten nach Beendigung der Evakuierungsmission – im Rahmen derer 5347 Menschen gerettet werden konnten – noch immer 300 Deutsche und mehr als 10.000 Afghanen auf Ausreise nach Deutschland.
Einem Bericht der „Welt am Sonntag“ zufolge befanden sich unter den bis Mitte der Woche ausgeflogenen Personen kaum mehr als 100 Ortskräfte mit ihren Familien.
Die beiden ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats Frankreich und Großbritannien wollen am Montag in einer UNO-Dringlichkeitssitzung eine internationale Sicherheitszone in Kabul vorschlagen.
Das amerikanische Elektroauto-Start-up Rivian möchte es Tesla gleichtun und mit einem elektrisch angetriebenen Pick-up und SUV neben Autokäufern auch die Anleger der Börse überzeugen. Entsprechende Unterlagen für einen Börsengang hat das Unternehmen nun bei der Börsenaufsicht SEC eingereicht. Mit einer angepeilten Bewertung von rund 70 bis 80 Milliarden Dollar könnte es der größte Börsengang des Jahres werden.
Einen namhaften Auftraggeber hat das Unternehmen bereits: Im Jahr 2019 beauftragte Amazon das Start-up mit der Entwicklung und Produktion von 100.000 elektrischen Lieferwagen. Momentan werden diese in San Francisco getestet. Zudem verfügt das Unternehmen nach eigenen Angaben über tausende Vorbestellungen für seine hochpreisigen Elektroautos.
© dpaWann die Fahrzeuge ausgeliefert werden können, bleibt unklar. Seit längerem verzögert sich der Produktionsstart der Premiummodelle für Privatkunden. Elon Musk spottet auf Twitter:
Ich will nicht unvernünftig sein, aber vielleicht sollten sie verpflichtet werden, mindestens ein Fahrzeug pro Milliarde Dollar Bewertung *vor* dem Börsengang zu liefern?
Vor 70 Jahren erschien in Deutschland erstmals das „Micky Maus“-Magazin. Das bunte Heft rund um die Einwohner des fiktiven Örtchens Entenhausen, in dem Goofy, Donald Duck, Gustav Gans und Micky Maus leben, erschien bisher über 3300 Mal und gilt mit 1,3 Milliarden Heften als eines der erfolgreichsten Print-Produkte.
Doch der Start der Comic-Helden war holprig. Von den 300.000 Exemplaren der Erstausgabe wurde nicht einmal die Hälfte verkauft. Die Deutschen der 50er-Jahre hatten die Zeichentrick-Streifen als „Teufelszeug“ abgestempelt und von den Kindern aus Angst vor Verdummung ferngehalten.
© dpaDie 2005 mit 89 Jahren verstorbene Erika Fuchs war es, die die Geschichten aus Entenhausen des amerikanischen Donald Duck-Erfinders Carl Barks erstmals ins Deutsche übersetzte. Fuchs, die Kunstgeschichte studiert hatte, ließ in ihre Übersetzungen zahlreiche literarische Anspielungen und versteckte Zitate einfließen.
© dpaDabei entstanden nicht nur die heute gängigen Namen wie Daniel Düsentrieb und Gustav Gans, sondern auch eine neue Verbform: Das „Inflektiv“ – ihr zu Ehren auch „Erikativ“ genannt – beschreibt Ausrufe wie „Ächz“, „Seufz“, „Quietsch“, „Freu“ und „Uff“, die es auch in den deutschen Sprachgebrauch geschafft haben – noch bevor „krass“, „grell“ und „geil“ ihren Auftritt hatten.
Doch auch bei Erika Fuchs machten die deutschen Sprachpolizisten mit ihrem Rotstift nicht halt. So wurde aus der Nebenfigur „Fridolin Freudenfett“ der politisch korrekte „Fridolin Freundlich“. Worte wie „Bleichgesichter“ oder „Indianer“ hat man gestrichen und mit Begriffen wie „Fremdlinge“, „Stamm“ oder "Volk“ übersetzt bzw. umschrieben.
© dpaDas Ergebnis: Empörung unter den Micky-Maus-Fans. Als solche bekennt sich auch Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die ihre Unterstützung des Protests „gegen die Schändung der göttlichen Erika Fuchs“ als ihre „heilige Pflicht“ bezeichnete.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr