viele Meinungsforscher sind Hochstapler. Sie verkaufen ein flüchtiges Stimmungsbild in Polaroid-Qualität als venezianisches Sittengemälde.
Manfred Güllner, der Gründer und Geschäftsführer von Forsa, zählt nicht zu dieser Spezies. Er weiß um die Unschärfe seiner Befunde. In Gesprächen mit ihm, zuletzt gestern Nachmittag, lernt man viel über das, was sich derzeit in der Seele des Souveräns abspielt, und die Schwierigkeit der Demoskopen, diesen Seelenaufruhr exakt zu erfassen.
© imagoEs sind vor allem fünf Gründe, die uns mit Vorsicht, vielleicht sogar mit Skepsis auf den Vorsprung des SPD-Kanzlerkandidaten schauen lassen:
1. Die Befunde der Demoskopie sind grundsätzlich keine Prognose, sondern eine Momentaufnahme. Sie werden von vielen Medien falsch gelesen.
2. Nie zuvor waren so viele Menschen so kurz vor einer Wahl in doppelter Weise unentschieden. Wen sollen sie wählen? Und gehen sie überhaupt wählen? Das bedeutet: Die exakten Prozentangaben der Institute suggerieren eine Genauigkeit, die es derzeit gar nicht geben kann.
Eine Infografik mit dem Titel: Schwere Entscheidung
Anteil der Unentschlossenen etwa zwei Wochen vor der Bundestagswahl, in Prozent
3. Die veröffentlichten Sonntagsfragen aller Institute besitzen eine Fehlertoleranz von etwa plus/minus drei Prozent. Das bedeutet: Die SPD-Führerschaft in den Umfragen ist womöglich ein statistischer Irrtum, der sich am Wahlabend von selbst aufhebt. Das ist nicht wahrscheinlich, aber das ist möglich.
© dpa4. Pro Umfrage werden von den Demoskopen normalerweise maximal 1000 Menschen befragt. 1000 Menschen bedeuten bei einer Wahlbevölkerung von derzeit knapp über 60 Millionen Wahlberechtigten lediglich einen Prozentsatz von 0,0017. Deshalb werden die Rohdaten anschließend unter Verschluss gehalten und von den Chef-Demoskopen, auch von Prof. Güllner, „gewichtet“. Diese „Gewichtung“ ist bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen und entsprechend knappen Zieleinläufen entscheidend.
© imago5. Güllner registriert bei den Unionswählern eine „Laschet-Hürde“. Das heißt, die Wähler tun sich schwer, diesem Mann ihre Stimme zu geben. Das kommt in den geringen Zustimmungswerten zum Ausdruck. Aber das ist von der Wahrheit nur die eine Hälfte. Güllner registriert zugleich bei den Unentschlossenen eine „CDU-Reserve“. Das heißt: Unter ihnen befinden sich auffällig viele Ex-Unions-Wähler, die nicht wegen, sondern trotz Laschet bis zum Schluss ansprechbar sind. Das SPD-Reservoir dagegen scheint leergefischt.
Eine Infografik mit dem Titel: CDU: Die Kanzlergeschichte
Zweitstimmenergebnisse der CDU/CSU bei Bundestagswahlen, nach denen die Union den Kanzler stellte, in Prozent
Fazit: Wir sollten der Scheingenauigkeit der Zahlen misstrauen. Die Demoskopie soll das Wahlkampfgeschehen beleuchten, aber nicht entscheiden. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die Demoskopen einmal als „außerparlamentarische Herrschaftsinstanz“ bezeichnet. Es liegt an uns, ihnen diese Macht zu entziehen. Denn der Thron dieser Herrschaftsinstanz steht in unserem Kopf.
Früher hieß es in der FDP leicht spöttisch: Christian Lindner leidet nicht unter Realitätsverlust. Er genießt ihn.
Doch diese vorsätzliche Leichtigkeit des Seins ist Geschichte. In der Schlussphase des Wahlkampfes erleben wir einen FDP-Chef, der sich und seine Partei fokussiert hat. Er verfolgt exakt drei Wahlkampfziele:
1. Ein zweistelliges Ergebnis, möglichst in Sichtweite der Grünen.
2. Eine Regierungsbildung ohne die FDP soll nicht möglich sein.
3. In den dann notwendigen Koalitionsverhandlungen will er für sich das Finanzministerium und für seine Wählerinnen und Wähler den Verzicht auf jede Steuererhöhung durchsetzen.
So war denn das knapp einstündige Gespräch, das ich für den Morning Briefing-Podcast mit Christian Lindner geführt habe, in der Sprache klar und in der Sache staatstragend. Vielleicht wird man später sagen, es war das erste Gespräch mit dem neuen Finanzminister.
Er sagte:
Die FDP wäre bereit, in einer Koalition Verantwortung im Finanzministerium zu übernehmen. Für solide Finanzen und die Stärkung des Aufschwungs in finanzpolitischer Eigenverantwortung in Europa.
Die fortschreitende Inflation schätzt er als bedenklich ein:
Wir haben die höchste Inflation seit fast drei Jahrzehnten. Das ist keine gute Nachricht, beispielsweise für Rentnerinnen und Rentner. Und es ist auch eine schlechte Nachricht für Kleinverdiener. Generell sind Preissteigerung und Geldentwertung Gift für die wirtschaftliche Entwicklung.
Über die Rolle der EZB sagt er:
Ich habe die Befürchtung, dass die Europäische Zentralbank aufgrund der enormen Verschuldung in der Eurozone gar nicht ein Instrumentarium wie die amerikanische Notenbank in der Hand hält, um auf Inflationsrisiken zu antworten. Sie ist quasi in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt aufgrund der hohen Verschuldung in Europa.
Bei der Migrationspolitik würde er folgende Aspekte korrigieren:
Wir haben viele Staaten in der Welt, mit denen wir über Partnerschaft sprechen müssen. Partnerschaft bedeutet für Studierende Visaerleichterungen und wirtschaftliche Zusammenarbeit, also Geld aus der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit.
Doch diese Partnerschaft darf für ihn keine Einbahnstraße sein. Er will die deutschen Geldzahlungen auch nutzen, um die Rückführung straffällig gewordener illegal eingereister Migranten zu ermöglichen:
Wer aber diese Form von Partnerschaft will, muss umgekehrt auch Verantwortung für seine eigenen Staatsangehörigen übernehmen, wenn sie illegal nach Deutschland eingewandert sind. Ein Gespräch kann nicht nur darum kreisen, eine wirtschaftliche Hilfe anzubieten und unsere Märkte und Hochschulen zu öffnen, sondern müsste auch das umfassen.
Auf die Frage, ob er bei einem Wahlergebnis, das vor den Grünen liegt, das Finanzministerium gegen das Außenministerium tauschen würde, sagt er:
Es geht jetzt darum, Deutschland für die 20er Jahre auf einen richtigen Kurs zu bringen und dafür muss man in einem Gestaltungsressort wirken können. Und das möchte die FDP. Wir wollen bei der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen etwas tun, auch bei der Rente, die einen Kapitalstock braucht. Wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern.
Es geht ihm darum, die Mitte der Gesellschaft für den politischen Liberalismus zu öffnen:
In der Mitte der Gesellschaft muss es wieder möglich sein, sich private Lebensträume zu erfüllen. Selbst gut Qualifizierte schaffen doch gar nicht mehr den Traum von den eigenen vier Wänden, weil sie so viel an Steuern und Sozialabgaben abgeben.
Und dann die Frage aller Fragen: Gibt es eine Garantie darauf, was mit der FDP in Koalitionsverhandlungen auf keinen Fall passiert? Seine Antwort:
Keine höheren Steuern in Deutschland. Das wäre Sabotage am Aufschwung. Im Gegenteil: Es muss auf ein Jahrzehnt der Belastung bei Steuern und Abgaben jetzt ein Jahrzehnt der Entlastung folgen.
20 Minuten des Gesprächs hören Sie heute Morgen kostenfrei im Morning Briefing-Podcast. Das gesamte Gespräch gibt es exklusiv nur für Pioneers auf ThePioneer.de oder in unserer neuen Podcast-App im Google oder Apple Store. Alle, die sich ernsthaft mit der Zukunft befassen wollen, also jener Zeit, die am Montag, dem 27. September beginnt, sind herzlich eingeladen.
Eine Infografik mit dem Titel: Anhaltender Aufwärtstrend
Bundestagswahlergebnis 2017 und Umfrageergebnisse der FDP, in Prozent
Olaf Scholz hat den Bundestags-Finanzausschuss mit seiner Anwesenheit überrascht und die Union dadurch düpiert. Nur ein Finanzminister, der sich wegduckt, ist im Wahlkampf als Zielobjekt zu gebrauchen.
Im Mittelpunkt des Ausschusses standen die Ermittlungen gegen die Anti-Geldwäsche-Spezialeinheit FIU, die zu einer Durchsuchung des Finanzministeriums geführt haben. Der Vorwurf: FIU-Mitarbeiter sollen Hinweise auf Terrorfinanzierung nicht rechtzeitig an Justiz und Polizei weitergeleitet haben. Sowohl die Opposition als auch der Koalitionspartner sehen den Fehler bei Scholz. Zu lange habe er als Finanzminister die Bekämpfung der Geldwäsche vernachlässigt.
© dpaDer SPD-Spitzenkandidat wies erwartungsgemäß die Vorwürfe zurück und verteidigte die Arbeit der FIU. Nach der Sitzung sagte er, die Behörde habe in den vergangenen drei Jahren mehr hinbekommen als in den vergangenen 30 Jahren. Die Finanzminister Waigel, Lafontaine, Eichel, Steinbrück und Schäuble dürfen sich hier angesprochen fühlen. Das ist zwar nicht fair. Aber das ist Politik. Die Amerikaner haben dafür ein schönes Wort erfunden: Blame Game.
Die Trilogie der Kanzlerkandidaten-Befragung ist kein Publikumsrenner mehr. Nur 4,1 Millionen Zuschauer schauten das „TV-Triell“, das auf ProSieben, Sat.1 und Kabel Eins ausgestrahlt wurde, von Anfang bis Ende. Zum Vergleich: Das RTL-Triell konnte 5,6 Millionen Bürger vor den Bildschirm locken, das öffentlich-rechtliche Triell, das bei ARD und ZDF zeitgleich ausgestrahlt wurde, schaffte rund elf Millionen Zuschauer.
Vielleicht lag es auch an dem betulichen Plot: Denn die Aufgabenverteilung des Trios hat sich kaum weiterentwickelt. Der SPD-Mann spielte den Kanzler in spe; Annalena Baerbock gab die Frau an seiner Seite, derweil Armin Laschet nach beider Waden schnappte. So blieb keine Zeit, das Wort „Marktwirtschaft“, einst ein Zentralwert der Union, in die Debatte zu werfen. Schade für die Auseinandersetzung, die dadurch keine geistige Flughöhe gewann: Wahlkampf auf Waden-Niveau.
Vollständig geimpfte EU-Bürger sowie Briten dürfen bald wieder in die USA einreisen. Wie der Corona-Koordinator des Weißen Hauses Jeffrey Zients gestern mitteilte, sollen die Reisebeschränkungen für immunisierte Ausländer ab Anfang November aufgehoben werden. Bereits zu Beginn der Pandemie hatte Donald Trump einen Einreisestopp verhängt, auf den auch sein Nachfolger Joe Biden beharrte. Die EU hatte die Mitgliedsstaaten bereits im Sommer dieses Jahres aufgefordert, Beschränkungen für Reisende aus den USA und mehreren anderen Ländern sukzessive aufzuheben.
© dpaLufthansa-Chef Carsten Spohr ist erleichtert:
Die heute angekündigte Rücknahme von Reiserestriktionen in die USA stellt nicht nur für unsere Airlines einen großen Schritt aus der Krise dar, sondern sie ist auch eine hervorragende Nachricht für die transatlantische Partnerschaft. Ab November können sich Familien und Freunde endlich wiedersehen und Geschäftspartner ihre Beziehungen wieder persönlich weiterentwickeln.
Auch dem Aktienkurs hat der Beschluss der Amerikaner gutgetan: Rund sechs Prozent legte das Papier gestern zu.
Der chinesische Immobilienkonzern Evergrande sorgt für Ängste an der Börse. Der Hongkonger Hangseng-Index – dort ist Evergrande gelistet – sackte gestern zeitweise um 3,9 Prozent ab. Der Konzern selbst verlor gestern gut zehn Prozent und verzeichnete damit den stärksten Rückgang seit zehn Jahren.
Der Grund: Evergrande ist möglicherweise nicht zahlungsfähig. Das Unternehmen führt Schulden von über 300 Milliarden US-Dollar in seinen Büchern und ist damit der am höchsten verschuldete Immobilienkonzern der Welt. Am Donnerstag läuft die entscheidende Frist für die Zinszahlungen auf seine Offshore-Anleihen ab.
Eine Infografik mit dem Titel: Evergrande im Absturz
Kursverlauf der Aktie von Evergrande seit 2009, in Hongkong-Dollar
Der Absturz bedroht womöglich die Weltwirtschaft. Zumindest befürchten das einige Analysten. An der Wall Street fielen die Indizes S&P 500 und Nasdaq Composite um 2,7 und 3,1 Prozent. Die Anleger sorgen sich einerseits um die möglichen Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft und den Hongkonger Immobiliensektor, andererseits um die Reaktionen der chinesischen Führung.
Denn: Auch keine Antwort ist eine Antwort. Ding Shuang, Chefvolkswirt bei Standard Chartered Plc in Hongkong erklärt:
Auch wenn die meisten Menschen nicht erwarten, dass Evergrande plötzlich zusammenbricht, sorgen das Schweigen und das Ausbleiben größerer Maßnahmen seitens der politischen Entscheidungsträger dafür, dass alle in Panik geraten.
Das Thema hinter dem Einzelfall sind die Schuldenexzesse der chinesischen Immobilienwirtschaft, die wiederum die Geldhäuser in Schwierigkeiten bringen könnten. Guo Shuqing, der Chef der chinesischen Bankenaufsicht, bezeichnete im vergangenen Jahr das übermäßige Engagement der Banken auf dem Immobilienmarkt als das größte Risiko für das Finanzsystem.
© imagoDas Szenario erinnert an die US-Bank Lehman Brothers, deren Pleite ebenfalls politisch gewollt war und eine Kettenreaktion auslöste, die zur Weltfinanzkrise führte. Die Wall Street Banker standen mit über 600 Milliarden Dollar in der Kreide.
Auch hier war die tollkühne Immobilienfinanzierung der Grund der Schwierigkeiten. Der damalige Finanzminister Henry Paulson wollte mit dem Niedergang der Bank ein Exempel statuieren. Die Chinesen sind für eine Politik der harten Hand ebenfalls bekannt. Amerikanische Republikaner und chinesische Kommunisten sind, wenn es um die Finanzen ihrer Geldwirtschaft geht, Falken.
„Nicht das Model soll auffallen, sondern die Mode“, sagte einst Giorgio Armani und definierte damit die Rolle des Models als Projektionsfläche des Designers. Ein Berufsleben lang hielt sich auch das deutsche Supermodel Claudia Schiffer, die Armanis Entwürfe auf den Laufstegen präsentierte, an dieses Prinzip.
Nun will sie es brechen.
Claudia Schiffer, die in der Düsseldorfer Diskothek „Checker’s“ von einem Agenten entdeckt wurde und seither mehr als 1000 Coverbilder zierte, warb für Luxusmarken wie Louis Vuitton, Dolce & Gabbana und Victoria's Secret. Mit anderen Models ihrer Generation, darunter Cindy Crawford, Kate Moss und Naomi Campbell begründete sie die Ära der Topmodels. Nie zuvor avancierten die Frauen selbst zu einer Marke, die sich unternehmerisch ausbauen ließ. Somit ebneten Schiffer & Co. den Weg für heutige Influencer-Karrieren wie die von Kim Kardashian.
© dpaIn einer von Claudia Schiffer kuratierten Ausstellung schiebt sich das Model nun final an der Mode vorbei in den Mittelpunkt. Seit dem vergangenen Mittwoch können die Besucher der Ausstellung „Captivate! Modefotografie der 90er“ im Düsseldorfer Kunstpalast einen Blick hinter die Kulissen der Modeschauen und Fashion-Partys dieser Zeit werfen. Zu sehen gibt es mehr als 100 Fotos und Erinnerungsstücke – zu hören gibt es Schiffer selbst, die den Audio-Guide in der Ich-Form persönlich eingesprochen hat.
Es ist eine Erzählung der Extravaganz und des Minimalismus, der Sexiness, der Provokation und einer außerordentlichen deutschen Karriere.
© dpaWie die Ausstellung jetzt zeigt, haben die Medien sie oft zu Unrecht als naives Blondchen und Dummerchen aus Düsseldorf portraitiert. Die Profis wissen: Im Modegeschäft ist alles Kalkül, der Blick, der Ausschnitt und auch der öffentliche Auftritt. Oder um es mit der Modemacherin Coco Chanel zu sagen:
Die Schönheit brauchen wir Frauen, damit die Männer uns lieben; die Dummheit, damit wir die Männer lieben.
Ich wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr