Olaf Scholz hat nicht gesiegt, aber gewonnen. Der wichtigste Unterschied zu allen bisherigen Wahlen der Nachkriegsgeschichte ist dieser:
Ohne Fremdeinwirkung ist der konservative Counterpart noch vor der Ziellinie wie ein erkaltendes Soufflee in sich zusammengesackt.
Von den triumphalen 48,8 Prozent des Wahlsiegers Helmut Kohl blieben bei Angela Merkel zuletzt 32,9 Prozent. Armin Laschet ist es gelungen, die Union auf 24,1 Prozent (-8,9 Prozent gegenüber 2017) einzudampfen.
Eine Infografik mit dem Titel: Helmut Kohl siegt
Ergebnis der Bundestagswahl am 6. März 1983, in Prozent
Eine Infografik mit dem Titel: Gerhard Schröder marschiert ins Kanzleramt
Ergebnis der Bundestagswahl am 27. September 1998, in Prozent
Eine Infografik mit dem Titel: Angela Merkels Triumph
Ergebnis der Bundestagswahl am 22. September 2013, in Prozent
Der Mann aus Nordrhein-Westfalen hat nicht nur verloren, er hat auf der großen Berliner Bühne versagt. Viele Parteifreunde haben ihm dabei geholfen. Vor allem die aus Bayern.
Dieses Versagen war eine konservative Gemeinschaftsleistung. Oder anders ausgedrückt: Die Architekten für den Wiederaufstieg der SPD sitzen im Konrad-Adenauer-Haus.
© dpaWas das bürgerliche Lager von CDU und CSU da über mehrere Monate geboten hat, war die lausigste Vorstellung, die Konservative in diesem Land je hingelegt haben:
Null Teamgeist.
Keine Führungsleistung.
Geschichtsvergessen wurde taktiert und finassiert.
Die gedankliche Armut in allen wichtigen Zukunftsfragen war mitleiderregend. Es gab viele Einzelvorschläge, aber die politische Konsistenz blieb dünn wie eine Hühnersuppe ohne Einlage.
So hat die Union ihre drei Wahlziele krachend verfehlt: Ein Wahlergebnis jenseits der 30 Prozent strebte sie an, Platz eins wollte sie erringen und damit eine herausgehobene Position, so dass drittens ohne sie keine Regierung gebildet werden könnte.
Nun schauen die Manager des Niedergangs einem Schicksal entgegen, das sie womöglich für längere Zeit in die politische Bedeutungslosigkeit führt.
Christian Lindner hielt mit der einen Hand die Fahne des Liberalismus hoch, mit der anderen Armin Laschet die Stange.
Das eine wurde honoriert. Das andere hat nichts genützt. Der Pakt von Düsseldorf lässt sich in Berlin als Zwei-Parteien-Koalition nicht wiederholen. Dieser Armin Laschet, wund geschossen von den eigenen Leuten, war am Ende für die Liberalen weniger Partner als Belastung.
© The PioneerDer Eintritt in eine Regierung mit Grünen und Sozialdemokraten wäre daher kein Verrat, sondern ein Gebot der Vernunft. Den Verrat hat die Union an sich selbst begangen. Als Finanzminister könnte der Liberale darauf achten, dass die Tassen im Schrank bleiben. Er muss dafür sorgen, dass die Elektrifizierung der Volkswirtschaft nicht zur Deindustralisierung des Landes führt. Und: Er kann Scholz dabei helfen, Scholz zu bleiben.
Der neue Kanzler ist mit der denkbar schmalsten Legitimation ausgestattet. Er hat eine Partei im Rücken, die ihn schieben und schubsen wird. Olaf Scholz kann Verbündete in der Wirtschaft und in der Zivilgesellschaft außerhalb des Parteienstaates gut gebrauchen.
Letztlich entscheidet Lindners Handreichung darüber, wo dieser Olaf Scholz im Regierungsalltag landen wird. Kanzler werden durch Ereignisse und durch Konstellationen geformt oder auch verformt. Der Kanzler einer demokratischen Republik ist qua definitionem kein Selfmademan.
© dpaWird Scholz also in der Tradition von Schmidt und Schröder ein Kanzler von Mitte und Marktwirtschaft sein oder doch der trojanische Kopf einer Bewegung, die anderes im Schilde führt? Mit dem Abgang von Schröder wurden die tektonischen Platten der linken Hemisphäre der politischen Landschaft in Bewegung gesetzt. Scholz hat sich nicht verraten, aber mitbewegt hat er sich schon. Will er nicht im Mahlstrom seiner linksgedrehten Partei zerrieben werden, braucht er jetzt Mitspieler – innerhalb und außerhalb des Kabinetts.
Die Gegner einer sozialdemokratisch geführten Regierung, in der Wirtschaft und auch in den Medien, sollten das Wählervotum jetzt nicht bekämpfen. Es lohnt sich nicht, für eine von Rangordnungskämpfen blockierte Union einen neuen Kulturkampf vom Zaun zu brechen, an dessen Ende nur wieder ein Paradies für Polarisierer entsteht.
Die Armee der verschränkten Arme, die mit anschwellender Fassungslosigkeit auf das Berliner Treiben schaut – und das nicht erst seit gestern Abend – wird dem Land keinen Dienst erweisen können. Demokratie ist zuweilen nur ein anderes Wort für Schmerztherapie. Man muss sie aushalten können - vor allem dann, wenn es anders kommt als gedacht.
Eine Infografik mit dem Titel: Armin Laschet: Der Absturz
Umfragewerte der Union seit dem 22. Februar 2020 und Hochrechnung zur Bundestagswahl 2021, in Prozent
Machtpolitisch ist die Sache so und nicht anders: Wer ins Kanzleramt will, muss die FDP und die Grünen für sich gewinnen.
Einen überraschenden Schritt unternahm gestern FDP-Chef Christian Lindner, der schon am Nachmittag mit dem grünen Co-Vorsitzenden Robert Habeck telefonierte und Gespräche vereinbarte.
In der FDP hat Lindner die Strategie ausgegeben, die Grünen für ein Jamaika-Bündnis zu erwärmen. Auch zu Armin Laschet hatte Lindner schon bevor die offiziellen Prognosen über die TV-Bildschirme liefen Kontakt, wie unser Hauptstadt-Team erfuhr. Den Grünen soll das Bündnis mit Union und FDP schmackhaft gemacht werden, indem man ihnen drei Dinge anbietet:
Die Unterstützung für die erste grüne Bundespräsidentin 2022. Katrin Göring-Eckardt wäre am Ziel ihrer Träume.
Ein verbindliches Tempolimit in ganz Deutschland.
Auch bei einem vorzeitigen Kohleausstieg zeigt sich die FDP kooperativ: Ein Ausstieg wäre schon 2030 oder noch früher möglich.
In größerer Runde wollen sich FDP und Grüne eventuell schon an diesem Mittwoch treffen. Die beiden eint, dass sie sich von den vermeintlichen Volksparteien SPD und Union nicht die Deutungshoheit dieser Wahlen nehmen lassen wollen.
Im heutigen Morning Briefing-Podcast kommen verschiedene Stimmen zur Bundestagswahl zu Wort. Wir zelebrieren die Meinung der anderen. Meine eigene kenne ich schließlich schon.
© Anne Hufnagl„Welt“-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld sagt:
Die CDU ist schon vor Armin Laschet eine Partei ohne Eigenschaften geworden. Die Entkernung dieser Partei hat mit Angela Merkel begonnen, und das hat sie fulminant bis zum Ende durchgeführt.
Sie rät der CDU, in die Opposition zu gehen:
© dpaIch würde es der Union raten, allerdings sollte sie dann die Opposition auch ernst nehmen und das bedeutet wirklich einen radikalen Führungswechsel zu unternehmen. Da müssen jetzt andere ran.
Auch die Linken-Politikerin und Bestseller-Autorin Sahra Wagenknecht kommt zu Wort. Über den Wahlkampf ihrer eigenen Partei sagt sie:
Damit kann man nicht zufrieden sein. Wir haben wieder sehr, sehr klar verloren und das ist ein langfristiger Trend, den wir bei der Linken sehen.
Die Gründe dahinter:
Die Linkspartei hat sich in den letzten Jahren immer mehr von dem verabschiedet, wofür sie einmal gegründet wurde, nämlich als Interessenvertretung für normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner, also für Menschen da zu sein, denen es nicht so gut geht.
Inzwischen ist sie immer stärker eine Partei des akademischen, urbanen Fridays-for-Future-Milieus geworden. Zumindest viele ihrer Funktionsträger kommen auch daher. Und dadurch haben sich Wähler abgewandt.
Über die Performance der drei Kanzlerkandidaten sagt Wagenknecht:
Die drei sogenannten Kanzlerkandidaten haben wirklich zielstrebig an allen relevanten Problemen vorbeigeredet.
Eine Richtungsentscheidung, wie in den vergangenen Monaten von den Medien oft behauptet, kann sie in dieser Bundestagswahl nicht erkennen:
© imagoLaschet und Scholz hatten eigentlich nur einen Hauptehrgeiz, nämlich sich als Fortsetzer von Angela Merkel zu präsentieren.
Der Publizist und Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Albrecht von Lucke, kritisiert:
CDU/CSU haben sich in einem Akt der Selbstzerstörung gegen Markus Söder entschieden, der weit bessere Werte besaß und diese wahrscheinlich auch bis heute nicht verloren hätte.
Dieses Ergebnis ist eine eindeutige Abstrafung der Union. Es schickt die Union und es schickt übrigens auch Armin Laschet persönlich in die Opposition.
Seine Prognose für den weiteren Fortgang der Ereignisse:
© Anne HufnaglWir sehen hier eine sich ganz organisch ergebende Ampelkoalition.
ThePioneer-Chefredakteure Michael Bröcker und Gordon Repinski waren vergangene Nacht auf den Wahlpartys der Hauptstadt unterwegs. Repinskis Einschätzung:
© Anne HufnaglAm Ende ist es die Macht des Faktischen, die entscheiden wird. Die Ampel-Koalition, das sind die Parteien, die bei dieser Wahl gewonnen haben und der Wählerwille will auch die Ampel. Olaf Scholz wird am Ende der Kanzler werden.
Michael Bröcker hält dagegen:
Armin Laschet hat noch alle Chancen. Er kann verhandeln, er kann sondieren – das hat er in Nordrhein-Westfalen bewiesen – und er hat mit Christian Lindner einen Partner, einen Freund im Geiste, an seiner Seite, der natürlich lieber Jamaika machen will, als ein rot-grünes Bündnis mit den Gelben aufzuhellen.
Die wichtigsten Ergebnisse der Bundestagswahl im Überblick:
© dpaDie Linke hat zwar nur 4,9 Prozent geholt, ist aber dank dreier Direktmandate dennoch erneut im Bundestag vertreten.
Im Südthüringer Wahlkreis 196 trat Hans-Georg Maaßen als Direktkandidat der CDU an. Der umstrittene Vertreter des rechts-konservativen Flügels der Christdemokraten unterlag dem SPD-Kandidaten Frank Ullrich. Über zehn Prozentpunkte fehlten dem Ex-Verfassungsschutzchef, der damit dem nächsten Bundestag nicht angehören wird.
In Thüringen ist die AfD erstmals stärkste Partei geworden. Nach Abschluss der Auszählung lag die AfD, deren prägende Figur in Thüringen Björn Höcke ist und die wegen rechtsextremistischer Tendenzen vom Verfassungsschutz beobachtet wird, bei 24 Prozent und holte vier von acht Wahlkreisen. Zweitstärkste Partei wurde die SPD mit 23,4 Prozent , die CDU kam auf 16,9 Prozent. Die Linke, die in Thüringen mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt, sank auf 11,4 Prozent.
Auch in Sachsen ist die AfD mit 24,6 Prozent und zehn von 16 Direktmandaten stärkste Partei geworden. Die SPD konnte sich deutlich verbessern und landete mit 19,3 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz – und damit noch vor der CDU (17,2 Prozent).
Robert Habeck hat erstmals in Schleswig-Holstein ein Direktmandat gewonnen. Nach Angaben der Kreisverwaltung gewann er den Wahlkreis Flensburg-Schleswig mit 28,1 Prozent der Erststimmen.
Karl Lauterbach holt sich das Direktmandat für den Wahlkreis Leverkusen - Köln IV und bleibt damit im Bundestag. Der Gesundheitsexperte lag am späten Sonntagabend mit 43,8 Prozent deutlich vor der CDU-Kandidatin Serap Güler, die nur 16,3 Prozent der Stimmen erhielt.
Wolfgang Schäuble hat in Baden-Württemberg erneut das Direktmandat für seinen Wahlkreis Offenburg geholt. Laut dem Stand von gestern Abend erhielt er 33,14 Prozent der Stimmen.
Auch Andreas Scheuer zieht trotz gravierender Stimmenverluste wieder in den Bundestag ein. Im Wahlkreis Passau erhält er 30,7 Prozent der Erststimmen, das sind aber 16,8 Prozentpunkte weniger als vor vier Jahren.
Nicht gereicht hat es hingegen für Saskia Esken: Die SPD-Vorsitzende zieht ohne Direktmandat in den Bundestag.
Auch Annegret Kramp-Karrenbauer hat im Saarland kein Direktmandat geholt. Im Wahlkreis Saarbrücken verlor sie mit 25,1 Prozent der Stimmen gegen Josephine Ortleb (SPD), die auf 36,9 Prozent kam.
Deutliche Siegerin der Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern ist die SPD von Manuela Schwesig mit 39,6 Prozent. Dahinter folgen AfD mit 16,7 Prozent, CDU mit 13,3 Prozent und die Linke mit 9,9 Prozent. Die Grünen ziehen mit 6,3 Prozent und die FDP mit 5,8 Prozent wieder in den Landtag ein. Die amtierende Ministerpräsidentin Manuela Schwesig kann also auch in Zukunft die Regierung führen. Jetzt muss sie nur noch die richtige Farbkombination wählen.
Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus verlief spannend und denkbar knapp: Laut vorläufigem amtlichen Endergebnis ist die SPD mit 21,4 Prozent stärkste Kraft, die Grünen liegen mit 18,9 Prozent auf Platz 2. Die CDU erhält 18,1 Prozent, die Linken 14 Prozent. Auch die AfD (8 Prozent) und die FDP (7 Prozent) werden im neuen Abgeordnetenhaus vertreten sein.
Angesichts der Pannen bei den Wahlen in Berlin hat der Bundeswahlleiter einen „detaillierten Bericht“ von der Landeswahlleitung in Berlin angefordert. Durch fehlende Stimmzettel, erheblichen Andrang und die vier parallelen Wahlvorgänge sei es vor einigen Wahllokalen zu langen Schlangen gekommen, teilte ein Pressesprecher am Abend mit.
Berlin stimmte außerdem über den Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen ab. Mit gut 56 Prozent der Stimmen entschieden sich die Berliner Bürger für das Vorhaben. Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ zielt darauf ab, den Senat zum Kauf und damit zur Vergesellschaftung von über 220.000 Wohnungen zu bewegen.
Auch in der Schweiz wurde abgestimmt: Bei einer Volksentscheidung haben sich 64,1 Prozent der Wahlberechtigten für die „Ehe für alle“ ausgesprochen. Damit dürfen bald auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten und Kinder adoptieren.
Am vergangenen Samstag ist die PioneerOne nach zweiwöchiger journalistischer Expedition durch die Republik in Berlin eingelaufen. Im Gepäck: Die Wünsche und Forderungen hunderter Pioneers, die wir auf unseren Zwischenstopps eingesammelt hatten. Diese galt es am Abend vor der Bundestagswahl im Schatten des Reichstagsgebäudes zum Leuchten zu bringen.
Ermöglicht wurde diese kleine Guerilla-Aktion von der Pioneer Foundation für demokratischen Journalismus. Ein Video von unserer Ankunft finden Sie hier.
Gleichzeitig zelebrierten wir bei sommerlichen Temperaturen und mit Live-Musik den Abschluss für das gesamte 50-köpfige Team, das vor und hinter den Kulissen für den praktizierten Bürger-Journalismus gearbeitet hat. In neun Städten haben wir geankert, über 1000 Pioneers getroffen, vier Dax-Chefs, vier Spitzenkandidaten, Familienunternehmer, Schriftstellerinnen und weitere Menschen des geistigen Lebens waren an Bord. Es war für alle Beteiligten eine inspirierende Zeit – auch für unseren Schiffsjungen Micha, hier bei der Begrüßung von Olaf Scholz.
© Anne HufnaglIch wünsche Ihnen einen schwungvollen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr