Untersuchungsausschuss: Minister Scheuer im Interview

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Guten Morgen,

Verkehrsminister Andreas Scheuer durchlebt die schwersten Stunden seiner bisherigen politischen Karriere. Die Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke haben gestern Nachmittag für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss votiert – und damit die herbstliche Treibjagd auf den CSU-Politiker eröffnet. Ihre Trophäe: sein Skalp.

Es geht um das Scheitern der schon von Ex-Verkehrsminister Alexander Dobrindt auf den Weg gebrachten Pkw-Maut, die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Juni in den Ordner der gescheiterten Ideen befördert wurde. Bereits Ende 2018 unterzeichnete Scheuer Verträge mit den Dienstleistern zur Erhebung und Kontrolle der Maut, was ihm nun zum Verhängnis werden könnte. Diese Dienstleister dürfen Schadenersatzansprüche anmelden. Wenn es schlecht läuft, muss der Steuerbürger in dreistelliger Millionenhöhe zahlen.

Andreas Scheuer © dpa

Der Vorwurf gegen Scheuer: Viele Experten sagen, die Ablehnung einer Pkw-Maut durch den EuGH sei absehbar gewesen. Scheuer habe mit der Vertragsunterzeichnung fahrlässig gehandelt.

Die Frage aller Fragen lautet nun: Trägt der Minister tatsächlich die persönliche Verantwortung für das Scheitern der Mautpläne und die ungünstige Vertragslage? Gab es Alternativen? Oder spielt hier die Opposition das übliche Spiel, wonach ein Hoffnungsträger der Regierung um jeden Preis zu Fall gebracht werden soll?

Fest steht: Der politische Angriffsspieler Andreas Scheuer – einst Generalsekretär der CSU – muss sich nun in der Disziplin der Selbstverteidigung beweisen. Unmittelbar nach der gestrigen Eilmeldung zur Einrichtung des Untersuchungsausschuss habe ich für den heutigen Morning Briefing Podcast mit ihm gesprochen. Meine erste Frage: Haben Sie Fehler gemacht?

Natürlich macht man sich jetzt Gedanken. Es wäre ja unmenschlich, wenn man das nicht machen würde.

Seine eigene Rolle im Maut-Debakel sieht er weniger dominant als die Opposition, zumal der Prozess zur Einführung einer solchen Straßennutzungsgebühr weit vor seiner Ministerwerdung im März 2018 angestoßen wurde. Es habe für ihn keine Alternative gegeben:

Hätten wir keine Vertragsabschlüsse gemacht und ein positives Signal des EuGH bekommen, dann hätten wir jetzt keine Verträge und damit auch keine Einnahmen. Es ist anders gekommen. Konjunktive bringen uns da nichts.

Den Vorwurf der Vertuschung mag er für sich nicht akzeptieren:

Wir haben dem Parlament 51 Ordner zur Verfügung gestellt. Tausende Seiten. Ich habe recherchiert: Das hat es vor einem Untersuchungsausschuss noch nie gegeben, dass Tausende von Seiten öffentlich zugänglich sind auf der Internetseite. Ich kann da nichts finden, was wir vertuscht, getrickst oder geheim gemacht hätten.

Und so spricht er sich selbst Mut zu:

Ich sehe den Untersuchungsausschuss als Chance zur Versachlichung und Aufklärung.

Zu den möglichen Schadensersatzforderungen der Dienstleister sagt er:

Stand jetzt ist alles spekulativ, was deren Höhe betrifft. Natürlich wird es zum Streit kommen, zum Schiedsverfahren.

Über seinen Führungsstil als Minister:

Ich bin entscheidungsfreudig. Ich habe so viele große Projekte, die sehr, sehr gut laufen. Eines ist gescheitert – und das ist die Pkw-Maut.

Fazit: Der Untersuchungsausschuss kann Scheuer mächtig einheizen. Doch über Wohl und Wehe eines Ministers entscheiden nicht die Oppositionsparteien, sondern die eigenen Leute. Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der mehr als einmal in die Bredouille geriet, schaltete in solchen Fällen von Attacke auf Demut. Oft rettete er sich mit dem schlitzohrigen Satz: „Wenn Fehler gemacht wurden, ist Besserung möglich.“

Eine Infografik mit dem Titel: Pessimistische Konjunkturaussichten

ZEW-Index zur Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, in Punkten

Sorgen bereitet nicht die Abkühlung der Konjunktur. Sorgen bereitet die vorsätzliche Sorglosigkeit, mit der die Finanzinvestoren diese Rückmeldungen aus der Realwirtschaft ignorieren. Schon wieder sind die Finanzmärkte dabei, Risiko und Verantwortung zu entkoppeln.

Dabei dürfen die Signale der realen Wirtschaft, da wo Arbeiter und Angestellte an echten Produkten und Dienstleistungen arbeiten, mittlerweile als eindeutig gelten:

► Der für Deutschland ermittelte Index des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ging im Oktober auf minus 22,8 Punkte zurück. Erst ein Indexwert über null drückt positive Wirtschaftserwartungen aus.

► Die Bundesregierung erwartet ebenfalls eine Eintrübung der Wirtschaft. Das Finanzministerium wird heute seine Prognose für 2020 bekannt geben. Experten rechnen mit einer Absenkung von ursprünglich 1,5 auf 1,0 Prozent.

► Die Wirtschaftsflaute ist kein deutsches Phänomen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) verzeichnet für das laufende Jahr in 90 Prozent der Staaten ein schwächeres Wachstum als in 2018. Insgesamt wachse die Weltwirtschaft immerhin um drei Prozent, aber dennoch am schwächsten seit der Finanzkrise.

Eine Infografik mit dem Titel: Wachstum ungebrochen

Entwicklung des S&P 500 und Dax, in Punkten

Aber das, was die Trader an den Anleihe- und Aktienmärkten daraus machen, passt nicht zu den Fakten der Realwirtschaft:

► Im September emittierten Unternehmen weltweit Anleihen mit einem Volumen von mehr als 140 Milliarden US-Dollar – ein so großes Wochenvolumen wie nie zuvor. Nicht die Investitionsnachfrage treibt den Anleihemarkt, sondern das Angebot an billigem Geld.

► Der amerikanische S&P-500-Index stieg allein seit Jahresbeginn um über 20 Prozent, der Dax legte um rund 19 Prozent zu (siehe Grafik).

► Die Gründe für das Auseinanderdriften von Realwirtschaft und Finanzmarkt hat der Fondsmanager Bill Gross gestern präzise beschrieben: „Die Bullenmärkte werden von den niedrigen Realzinsen getragen, der Ansturm des vergangenen Jahrzehnts wurde von der Reise in Richtung Nullzinsen befeuert.“ Er ermahnt die Märkte, sich auf ein Ende der hohen Kursgewinne vorzubereiten.

Wenn die Märkte den Rat des alten Haudegens berücksichtigen würden, wäre ein „soft landing“ noch möglich. Das Verrückte aber ist, dass die Sorglosigkeit der Investoren mit der staatlichen Angst vor einer Rezession korrespondiert. Je dichter das Netz der Rettungsschirme, desto besser die Polsterung der Einlagensicherungsfonds – und je aktiver die Politiker in der Vorbereitung von Konjunkturpaketen, desto unbeschwerter die Finanzmärkte.

Sie spekulieren – auch auf das Geld der Rettungsindustrie, die von Notenbanken und Politikern gebildet wird. Der „lender of last resort“ (zu Dt.: Kreditgeber letzter Instanz), von dem in Finanzkreisen gerne die Rede ist, sieht verdammt aus wie: der Steuerzahler.

Eine Infografik mit dem Titel: Gewinne: David gegen Goliath

Netto-Jahresgewinn 2018 von SAP gegenüber Nettogewinn von JP Morgan im dritten Quartal 2019, in Milliarden US-Dollar

Dazu passt: Die Spekulationswirtschaft übertrumpft die Realwirtschaft bei weitem, wie die gestern vorgelegten Quartalszahlen belegen. Allein im vergangenen Quartal erwirtschaftete die Großbank JP Morgan Chase einen Netto-Gewinn von 9,1 Milliarden US-Dollar. Dagegen wirken die Gewinne des wertvollsten Dax-Unternehmens bescheiden: SAP erwirtschaftete im gesamten Jahr 2018 einen Gewinn von 4,5 Milliarden US-Dollar – und damit in zwölf Monaten rund die Hälfte dessen, was die US-Bank in nur zwölf Wochen schaffte (siehe Grafik).

Eine Infografik mit dem Titel: "Financial Times" vs. Wirecard

Entwicklung des Aktienkurses von Wirecard, in Euro

Der erbittert geführte Zweikampf zwischen Dax-Aufsteiger Wirecard und der britischen „Financial Times“ geht in die nächste, die sechste Runde: Die Zeitung berichtet über interne Dokumente, nach denen Wirecard zwischen 2016 und 2017 bei Tochterfirmen Umsätze und Gewinne fingiert und Kundenbeziehungen erfunden habe.

Die Unterlagen erwecken den Anschein, als habe Wirecard zudem die Wirtschaftsprüfer von EY täuschen wollen. Der Konzern dementierte prompt, was den Ausverkauf nicht verhinderte: Die Aktie verlor zwischenzeitlich über 22 Prozent.

Fazit nach Runde sechs: Die FT gewinnt an Auflage und Relevanz, vor allem in Finanzkreisen, Wirecard hingegen hat seit Beginn der Auseinandersetzung Ende Januar 27 Prozent an Börsenwert verloren (siehe Grafik). Gerechnet in Euro bedeutet das: 5,6 Milliarden. In dieser Situation kann man dem Vorstandvorsitzenden und Miteigentümer Markus Braun nur vollständige Transparenz raten. Wenn es politisch nicht so schrecklich unkorrekt klingen würde, müsste man ihm raten: Hosen runter.

Die gestern vorgestellte Shell-Jugendstudie liest sich wie ein Nachtrag zum Thema politische Korrektheit:

► 68 Prozent der repräsentativen Befragten zwischen zwölf und 27 Jahren glaubt, dass man in Deutschland „nichts Schlechtes über Ausländer sagen kann, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden“.

► Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Befragten denkt, dass die Regierung der Bevölkerung die Wahrheit verschweige.

► Rund ein Drittel sagt, die Gesellschaft werde „durch den Islam unterwandert“.

Im Morning Briefing Podcast spreche ich mit dem Autor der Shell-Studie, Ulrich Schneekloth. Er sagt über die Ergebnisse:

Eine Mehrheit der Jugend hat das Gefühl, dass zu sehr mit Denkverboten operiert wird.

Doch dieser Befund darf nicht mit einer Neigung zum Rechtspopulismus übersetzt werden: Die Gefühlslage der Jugend entzieht sich den üblichen Kategorien von links und rechts. Denn zum vollständigen Bild gehört auch:

► 57 Prozent der Jugendlichen finden es gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen habe.

► Für 71 Prozent der Befragten steht der Umweltschutz an erster Stelle.

► Eine Mehrheit wünscht sich mehr Dialog und weniger Polarisierung.

Schneekloth kommentiert:

Die Jugendlichen sind in Sorge, dass die Unversöhnlichkeit in der Gesellschaft wächst. Das wollen sie nicht.

Vielleicht ist es dieses Streben nach einer neuen Versöhnlichkeit, das die Älteren vom Nachwuchs übernehmen sollten. Dem Klima im Lande wäre es deutlich bekömmlicher. Oder ob um es mit dem verstorbenen Egon Bahr zu sagen: Wo geredet wird, wird nicht geschossen.

 © dpa

Die vierte TV-Debatte der US-Demokraten brachte der neuen Frontrunnerin Elizabeth Warren keine Punkte, aber jede Menge Kritik. Die übrigen Kandidaten stürzten sich regelrecht auf die Senatorin aus Massachusetts. Sie besitze keinen Plan, sondern nur Wunschdenken, wurde der linken Politikerin vorgehalten.

Für das eigentliche Highlight der Nacht sorgte jedoch die New Yorker Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez.

Die 30-Jährige rief zur Wahl von Bernie Sanders auf, am Samstag will sie mit ihm eine Großkundgebung abhalten. Damit ist Sanders, den viele nach seinem Herzflimmern bereits im Abseits sahen, wieder im Spiel. Totgesagte leben länger.

 © YouTube/docupy

Politiker sehen sich regelmäßig heftigen Beleidigungen ausgesetzt. Vor allem im Internet scheinen gegenüber den Volksvertretern Wut und Verachtung keine Grenzen zu kennen. Die Betroffenen wehren sich im Rahmen eines mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Projektes namens „docupy“:

Die Filmproduzenten stellten Bundestagspolitikern vieler Parteien zunächst die Frage: Was war die schlimmste Beleidigung?

Linke-Chef Bernd Riexinger:

Ich werde Sie mit einer bestimmten Pistole in den nächsten Tagen erschießen.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Mitglied des FDP-Bundesvorstands:

Dass mir jemand eine Kugel in den Kopf schießen wollte.

Die SPD-Abgeordnete Yasmin Fahimi:

Du Türken-Hure!

Bärbel Bas (SPD):

Du wirst in Flammen aufgehen.

Einige von ihnen haben Strafanzeige eingereicht, andere angesichts der Passivität der zuständigen Strafverfolgungsbehörden bereits vorab resigniert. So erleben die Politiker auf dramatische Weise das, was viele Bürger im Umgang mit dem Rechtsstaat auch erleben: das tägliche kleine Staatsversagen. Das Video können Sie sich hier anschauen.

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in diesen neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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