Ursula von der Leyen: Ihr Apollo-13-Moment

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Guten Morgen,

vor dem heutigen Impf-Gipfel in Berlin ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die einsamste Frau Europas. Die Pharmaindustrie, die nationalen Regierungen und die Medien lasten ihr unisono das europäische Impfdebakel an. Zu Recht:

1. Die Verträge mit den Pharmafirmen wurden spät und offenbar ohne jede Vertragsstrafe abgeschlossen. Das Vertragsmanagement der meisten Mittelständler ist intelligenter organisiert.

2. Überall in EU-Europa stockt der Impfstoff-Nachschub. Die Impfzentren sind vielerorts leer. Selbst den über 80-Jährigen, die am meisten durch Covid-19 gefährdet sind, kann derzeit kein flächendeckendes Impfangebot gemacht werden.

3. Die Zahlen belasten die EU schwer: Während Großbritannien elf Prozent seiner erwachsenen Bevölkerung immunisiert hat und Israel mehr als die Hälfte, kommt bislang kein EU-Land bei den Impfungen auf mehr als drei Prozent.

 © imago

In ihrer Verzweiflung über die nur schleppende Versorgung mit Impfstoff startete von der Leyen einen protektionistischen Angriff, der die Ausfuhr von Impfstoff nach Großbritannien regulieren sollte. In dem Beschluss heißt es, die EU könne sich auf einen Notfallmechanismus im Brexit-Abkommen, das sogenannte Nordirland-Protokoll, berufen, um zu kontrollieren, ob und wie viel Impfstoff über die Grenze vom Mitgliedsland Irland ins britische Nordirland gelangte.

Eine Infografik mit dem Titel: Grenze mit Konfliktpotential

Grenzverlauf zwischen dem EU-Mitgliedsland Irland und der britischen Provinz Nordirland

Damit sollte Kerneuropa zulasten der Briten besser gestellt werden. Denn die Konzerne AstraZeneca und Moderna haben Lieferschwierigkeiten. AstraZeneca beispielsweise liefert im ersten Quartal nur 40 statt 80 Millionen Dosen. Die schläfrige EU wollte sich ­­– nach dem Erwachen – den knappen Stoff also auf dem Verordnungsweg sichern.

Die Empörung in Großbritannien erfasst alle politischen Lager. Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster von der protestantisch-unionistischen DUP sprach von einem „unglaublich feindseligen und aggressiven Akt“. Die Sonntagszeitung „The Observer“ schreibt:

Ursula von der Leyen sind im vergangenen Jahr eine Reihe von Fehlern und Fehleinschätzungen im Umgang mit der Pandemie unterlaufen. Dieser jüngste Patzer wird die Zweifel an ihrer Führungsqualität verstärken.

 © dpa

Auch in Deutschland, Frankreich und Italien geraten die nationalen Regierungen unter Druck, weil das Impfen nicht kraftvoll vorankommt. Sehnsüchtig warten Menschen auch in deutschen Altersheimen. Überlastete Hotlines kommen hinzu, die auch die Angehörigen in den Wahnsinn treiben.

Das Vertragsmanagement von „Trödel-Europa” („BILD”) gilt auch bei den eigenen Parteifreunden der Präsidentin als lausig. „Der Ärger ist berechtigt", sagt etwa Markus Ferber, wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europa-Parlament:

Wenn ich einen Vertrag schließe, doch keinerlei Pflichten für den Hersteller entstehen, dafür aber umso mehr Pflichten für die EU-Kommission, dann ist das kein ausgewogener Vertrag.

 © imago

Europa ist geeint – wenn auch nur im Zweifel an den Leadership-Fähigkeiten der EU-Kommissionspräsidentin. Die belgische Tageszeitung „Le Soir” schreibt:

Die Faust auf dem Tisch reicht nicht aus, um Impfstoffe zu bekommen.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutschlands Impfdesaster

Covid-19-Impffortschritt in ausgewählten Ländern, in Prozent

Fazit: Ursula von der Leyen wollte Europa transformieren. Sie sprach in Anspielung auf die ehrgeizigen Pläne von John F. Kennedy zu ihrer Amtseinführung vom „Man on the Moon Moment”. Doch ihre Mission ähnelt immer mehr dem Katastrophenflug der Apollo 13. Der Sauerstofftank explodierte, die Rakete musste nach gut 300.000 Flugmeilen im All umkehren, die Mannschaft landete nicht auf dem Mond – sondern im Wasser des Pazifik.

 © dpa

Trotz aller Ärgernisse mit der EU-Kommission bleibt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gelassen und verteidigt Europa. Gemeinsam mit ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker habe ich ihn am Freitag im Reichstagsgebäude besucht.

Über die aktuellen Schwierigkeiten der EU bei der Impfstoffversorgung sagt der CDU-Politiker im Morning Briefing Podcast:

Man muss verstehen, dass Europa noch ein bisschen komplizierter ist als Deutschland, weil es 27 unterschiedliche Interessen zusammenführen muss. Aber der Vorzug, dass eben auch Bulgarien oder Rumänien oder Portugal mit Corona genau so eine Chance haben, so rasch wie möglich an den Impfstoff zu kommen, das ist es wert.

Wir haben in Europa so viele Vorzüge, wir müssen auch ein paar Kompliziertheiten in Kauf nehmen, sonst werden wir in Europa immer wieder scheitern.

Wolfgang Schäuble vertritt seit dem Jahr 1972 den Wahlkreis Offenburg mit einem Direktmandat. Er ist der dienstälteste Abgeordnete des Deutschen Bundestags und tritt im Herbst erneut zur Wahl an. Im Vorfeld des CDU-Parteitags hatte er sich auf einem Delegiertentreffen der Baden-Württemberger für Friedrich Merz ausgesprochen. Über dessen Niederlage sagt er:

Es ist entschieden. Friedrich Merz wusste, dass die Chancen, dass er gewählt wird, begrenzt waren.

Im Grunde will er wohl auch ein Stück weit seine Ruhe haben. Seine Reaktion danach war vorhersehbar. In der öffentlichen Wirkung – auch in der Partei – war es nicht besonders geschickt.

In den 1990er-Jahren galt Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister und Unions-Fraktionschef als enger Vertrauter des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Seine Reaktion auf das Verhältnis heute:

Zu der Kronprinz-Debatte hab ich ja schon Helmut Kohl gesagt, der soll diesen Blödsinn lassen.

Bei der Bundestagswahl 1998 trat Helmut Kohl nach 16 Jahren Amtszeit noch einmal als Kanzlerkandidat an, Schäuble, dem viele die besseren Siegchancen einräumten, ging leer aus. Das schwarz-gelbe Bündnis wurde abgewählt, die CDU versank in der Parteispendenaffäre, Schäuble musste als Parteichef für Orientierung sorgen – und trat nach zwei Jahren zurück.

Im Grunde markiert mein Scheitern als Vorsitzender das Ende der Ära Kohl. Ich bin darüber nicht bitter. Es war gut und richtig, dass Angela Merkel die CDU in diese neue Zeit geführt hat.

Fazit: Die Hitze der Gegenwartsgefechte erreicht ihn, aber erregt ihn nicht. Das Programm des heutigen Wolfgang Schäuble heisst Maß und Mitte.

 © imago

Die Lage zu Beginn der Woche:

  • Stunden vor dem Impfgipfel verspricht BionTech eine deutlich größere Impfstofflieferung an die EU. Allein für Deutschland soll es im Frühjahr knapp 14 Millionen Dosen mehr geben.

  • AstraZeneca will nach EU-Angaben im ersten Quartal nun doch mehr Impfstoff an die Europäische Union liefern als angekündigt. Es kämen neun Millionen Dosen hinzu, also insgesamt 40 Millionen Dosen, teilte von der Leyen am Sonntagabend auf Twitter mit.

  • Jens Spahn (CDU) hat sich offen dafür gezeigt, Corona-Impfstoffe aus Russland und China auch in Deutschland einzusetzen. Entscheidend sei eine reguläre Zulassung nach europäischem Recht.

  • Peter Altmaier (CDU) erwägt den Verkauf von Staatsbeteiligungen, um die Kosten der Corona-Krise zu finanzieren. Er sprach sich dagegen aus, als Alternative für höhere Einnahmen die Steuern zu erhöhen.

Eine Infografik mit dem Titel: Corona setzt Portugal zu

Vergleich der 7-Tage-Inzidenz

  • Portugal hat sich zur Eindämmung der Pandemie abgeriegelt. Seit Sonntag ist die Ein- und Ausreise ohne triftigen Grund untersagt. An der Landesgrenze zu Spanien wurden Kontrollen eingeführt.

Die Angst vor der Impfpleite

Gesundheitsminister Spahn hofft, mit dem Impfgipfel die größten Probleme in den Griff zu bekommen.

Briefing lesen

Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

Die Kollegen vom Hauptstadt-Team haben sich mit den Teilnehmern des Impf-Gipfels unterhalten, der heute stattfindet. Es geht um schnelle, neue Produktionskapazitäten. Und es geht um die Pandemie nach der Pandemie. Denn hinter den Kulissen wird bereits der Worst Case diskutiert, dass die mutierten Virus-Varianten auf die Impfungen nicht anschlagen und im Herbst eine neue Impfung notwendig werden könnte. Dann soll nicht wieder zu wenig (neuer) Impfstoff bereitstehen.

Alle Details lesen Sie im Newsletter Hauptstadt unter thepioneer.de/hauptstadt.

 © Politico

Kurz schien es, als würde Donald Trump die Kontrolle über die Republikanische Partei entgleiten. Nach der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar durch Anhänger des damaligen US-Präsidenten wagten namhafte Republikaner wie die Senatoren Mitch McConnell und Lindsey Graham offene Kritik an Trump. Inzwischen wird diese Kritik deutlich verhaltener geäußert.

Für die Politikexperten von „Politico“ ist Trump bereits der „Anti-Papst von Mar-a-Lago“, wo Trump derzeit residiert. Als historisches Beispiel dient dem Autor Michael Kruse Benedikt XIII., der während des Großen Schismas von 1394 bis 1423 Gegenpapst war und die letzten Jahre seiner Amtszeit in der spanischen Burgfestung Peñíscola verbrachte.

Donald und Melania Trump © imago

Kruse erwähnt auch den Top-Republikaner im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, der Trump kurz nach dem Sturm aufs Kapitol noch eine Mitverantwortung daran zugeschrieben hatte. Später ruderte er zurück, am vergangenen Donnerstag machte er Trump schließlich seine Aufwartung in Florida. Trumps Team teilte mit, die beiden Politiker hätten vereinbart, zusammenzuarbeiten, um bei der Kongresswahl 2022 die Mehrheit im Repräsentantenhaus für die Republikaner zurückzuerobern.

Kruse beschreibt Trumps Vorgehen wie folgt:

Er hat bereits Abgesandte losgeschickt, um die GOP-Senatoren daran zu erinnern, dass er weiterhin eine Kraft in der Partei sein und diejenigen bestrafen will, die sich ihm widersetzen.

Fazit: Amerika erlebt eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.

 © dpa

Erneut haben in Russland gestern Zehntausende Menschen gegen die Inhaftierung des Kremlgegners Alexej Nawalny und damit auch gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. Ungeachtet massiver Polizeigewalt forderten sie in Moskau und mehr als 100 Städten „Russland ohne Putin!” und „Freiheit für alle politischen Gefangenen!” Laut Menschenrechtlern wurden landesweit fast 5000 Menschen inhaftiert und somit mehr als in der Woche zu vor.

Unter den Festgenommenen war auch Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja. Die 44-Jährige hatte zuvor bei Instagram geschrieben: Ihr Mann sei inhaftiert worden, weil er es gewagt habe, den Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok zu überleben.

 © dpa

Seit Tagen gab es Spekulationen über einen möglichen Militärputsch in Myanmar – nun hat die Armee die Kontrolle über das südostasiatische Land übernommen und die De-Facto-Regierungschefin und Freiheitsikone Aung San Suu Kyi sowie weitere ranghohe Politiker auch kleinerer Parteien festgesetzt. Der Vorwurf: Wahlbetrug. Der frühere General und bisherige Vize-Präsident Myint Swe fungiere nun als Übergangsstaatsoberhaupt, die eigentliche Macht liegt aber bei Armeechef Min Aung Hlaing.

 © imago

Die Börsenspekulationen um den US-Computerspielhändler GameStop beschäftigen nun auch das Europaparlament. Der Europaabgeordnete Sven Giegold (Grüne) forderte eine Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Europaparlaments:

Wir sollten nicht abwarten, bis es ähnliche Probleme auch in der EU gibt.

Kleinanleger hatten vergangene Woche versucht, mit gezielten Aktionen milliardenschwere Hedgefonds in Bedrängnis zu bringen, was ihnen zum Teil auch gelang. Im Zentrum stand das Wertpapier von GameStop, aber auch die Aktien von AMC, Blackberry, Koos und Nokia gerieten ins Visier der Spekulanten. In den USA äußerten manche Politiker Sorgen hinsichtlich der Stabilität des Finanzsystems.

 © imago

Die Kleinanleger hatten sich auf Onlineplattformen wie Reddit verabredet, GameStop-Aktien des angeschlagenen US-Unternehmens in großem Stil zu kaufen und die Kurse auf diese Weise nach oben zu treiben. Das führte zu schweren Verlusten bei Hedgefonds, die mit Leerverkäufen auf den Verfall der Aktien gewettet hatten.

Giegold warnte aber vor einem Überschwappen des Problems nach Europa. Denn in Wahrheit gehe es nicht um GameStop, sondern um die Casino-Mentalität der Börse, die bei vielen Leerverkäufern im Zentrum ihres Treibens stehe.

Große Leerverkaufspositionen gibt es derzeit auch auf europäische Unternehmen wie Varta oder Evotec. Für mich deutet dies darauf hin, dass die Regeln für Leerverkäufe, die nach der großen Finanzkrise eingeführt wurden, die Marktintegrität nicht wirksam gewährleisten.

Mittlerweile kann man auch ohne Plattenverkäufe an die Spitze der Charts kommen. Der schottische Postbote Nathan Evans macht es vor. Zusammen mit Freunden hat er das alte britische Seemannslied „The Wellerman” – über einen Walfänger – neu eingesungen und auf der Social Media Plattform TikToK veröffentlicht.

Das Video wurde millionenfach abgerufen und angeschaut. Von dort wanderte der Hit in die Radios und schließlich an die Spitze der englischen Charts.

Mittlerweile ist die ganze Insel verrückt nach dem Song. Sogar Ronan Keating und Gary Barlow von Take That haben sich virtuell zusammengeschaltet, um eine eigene Version aufzunehmen.

Der schottische Postbote ist angesichts des Erfolgs jetzt ein ehemaliger Postbote, denn nachdem ihm ein Plattenvertrag angeboten wurde, hat er seinen Job quittiert. Seinen Platz sieht er nicht mehr im Postauto, sondern auf der Bühne.

Wir lernen: Alles hat sich demokratisiert – auch der Erfolg. Andy Warhol wusste es vorher: „In Zukunft wird jeder für 15 Minuten berühmt sein.“

Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer

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