Joe Biden hat noch nicht gesiegt, aber er ist dabei, zu gewinnen. 264 von 270 notwendigen Wahlmännern konnte er bisher für sich verpflichten. Für den Einzug ins Weiße Haus fehlen nur noch sechs Wahlmänner. Ein Wahlerfolg in Nevada oder in einem der anderen noch nicht ausgezählten Bundesstaaten würde reichen.
Eine Infografik mit dem Titel: Biden vorn
Übersicht über die bereits gewonnenen und verlorenen Staaten bei der US-Wahl 2020
Donald Trump scheint verloren zu haben, wenn auch nur knapp. Er konnte mehr Wählerinnen und Wähler von sich überzeugen als 2016 - mehr Frauen, mehr Latinos, mehr Schwarze. Florida war seine größte Trophäe.
Dabei gab es keine deutsche TV-Anstalt und keinen deutschen Politiker, der in den vergangenen Wahlkampfwochen etwas Positives an Donald Trump hätte entdecken können. Der Noch-Präsident der USA wurde unisono als Rassist, Waffennarr, Frauenfeind und strategischer Vollpfosten porträtiert.
Nun ist die Sache freilich nicht so, dass man sagen könnte, die Berichte über den Rassisten, den Waffennarr, Frauenfeind und strategischen Vollpfosten seien frei erfunden. Das sind sie nicht. Aber im Zuge der medialen Vergrößerung und Vergröberung dieses Mannes und seines bizarren Charakters gerät das Land dahinter aus dem Blickfeld. In einem publizistisch-politischen Wutanfall wurde Amerika ins Fratzenhafte verzerrt. Hinter einem oft irrationalen Präsidenten wurde ein verrückt gewordenes Volk vermutet.
© dpaMissverständnis Nummer 1: Die Wechselwähler in Florida, Ohio und Indiana und anderswo haben nicht mit heißem Herzen Donald Trump gewählt, sondern haben den Demokraten ihre Bedenken übermittelt. Die Partei von JFK, Bill Clinton und Obama, die als letztes Aufgebot diesmal einen 77-Jährigen ins Schaufenster stellte, der mechanisch die Worte „change“ und „hope“ ausstieß, wirkte nicht frisch, sondern surreal. Joe Biden hat die Reformbotschaft seiner Kampagne qua Anwesenheit dementiert.
© dpaMissverständnis Nummer 2: Die Demokraten leben - ähnlich wie die deutschen Sozialdemokraten - ein Leben neben der Wirklichkeit ihrer Wähler. Die nämlich interessieren sich für die Erzeugung von Wohlstand und nicht in gleicher Weise für das Anbringen von Gender-Sternchen. Für Menschen, die Veranda und Vorgarten besitzen und morgens mit dem Bus zur Arbeit fahren, sind Rassenunruhen mit angeschlossener Plünderung kein Kavaliersdelikt, sondern eine Bedrohung. Law und Order betrachtet die Mehrheit der Wähler - auch bei uns übrigens - nicht als Schimpfworte, sondern als Grundvorraussetzung für Freiheit.
© dpaMissverständnis Nummer 3: Nur weil Donald Trump die Korruptionsvorwürfe gegen die Familie Biden ausspricht, gelten sie noch nicht als widerlegt. Der Kandidat hatte zu seiner Selbstverteidigung nur den einstudierten Satz zu bieten: „Es gehe nicht um meine oder seine Familie, sondern um Ihre Familie.“ Das war dicht unterhalb der Schwelle zum Argument.
© Getty ImagesIn der Demokratie ist jeder begründungspflichtig, auch und besonders der vermeintlich gute Mensch. Eine Umfrage von YouGov zeigt, dass 56 Prozent der Wähler nicht nur Trump für korrupt halten, sondern 41 Prozent auch die Biden-Familie.
© dpaMissverständnis Nummer 4: Die amerikanischen Frauen seien nicht so emanzipiert wie die europäischen Frauen und wählten deshalb Trump. Fakt ist: Laut der Nachwahlbefragung von CNN und Edison Research Institute haben 50 Prozent der weißen Frauen mit College-Abschluss Trump ihre Stimme gegeben. Bei den weißen Frauen ohne College-Abschluss waren es 60 Prozent.
Die Frauen haben Trump nicht wegen, sondern trotz seines unverstellt frauenfeindlichen Benehmens gewählt. Die amerikanischen Wechselwählerinnen besitzen ein Geschlecht, aber zusätzlich besitzen sie auch ökonomische und soziale Interessen. Mit Feminismus allein kann man keine Familie ernähren.
Eine Infografik mit dem Titel: Kein Partner
Anteil der Amerikaner, der China als Wettbewerber, Feind oder Partner sieht, in Prozent
Missverständnis Nummer 5: Viele Amerikaner seien ökonomisch ungebildet und daher anfällig für die Trump-Rhetorik. Richtig ist: Die Amerikaner wissen oder spüren, dass Trump in der Außenwirtschaftspolitik einen strategisch wichtigen Punkt macht. Er ist der erste westliche Politiker, der die Schweigespirale gegenüber China durchbricht und die vorsätzliche Naivität in der Handelspolitik beendet. Der rasante Aufstieg einer totalitären Exportnation, die den Schutz des geistigen Eigentums missachtet und unsere Umweltstandards unterbietet, hat Folgen für den Westen: Es geht nur scheinbar um Waren, in Wahrheit aber um Werte.
Eine Studie des Pew Research Center vom 30. Juli 2020 zeigt, wie sich die Meinungen der US-Bürger dazu in den vergangenen 15 Jahren entwickelt haben:
Die ungünstigen Ansichten über China erreichen einen neuen historischen Höchststand. Eine Mehrheit befürwortet eine härtere Haltung zu den Menschenrechten und stimmt Trumps Handelskrieg zu.
Eine Infografik mit dem Titel: Feindliches China
Anteil der Amerikaner, die China ablehnen oder schätzen, in Prozent
Missverständnis Nummer 6: Trump kündige der Nato die Freundschaft. Richtig ist: Trump war der erste US-Politiker, der den Deutschen unmissverständlich klar machte, dass die Zeit der beitragsfreien Lebensversicherung in Gestalt einer amerikanisch finanzierten Nato zu Ende ist. Das mag in Berlin keiner hören, aber in den USA ist diese Botschaft eine Selbstverständlichkeit, die nicht nur bei Trump-Wählern räsoniert. Oder um es mit Charles de Gaulle zu sagen:
Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.
Missverständnis Nummer 7: Es gebe in Amerika eine Sehnsucht nach Wandel. Richtig ist: Viele Bürger sehnen sich gerade im Zeitalter von Hyperkomplexität und Hochgeschwindigkeit nach Ruhe und Beständigkeit. In den Vororten weht nicht der „wind of change“, sondern es riecht nach Grillwurst und Diesel. Unterm Carport steht kein „Verbrenner“, sondern ein Pick-Up-Truck. Der wird nicht nur gefahren, der wird geliebt.
Fazit: Wir müssen die Amerikaner nicht bewundern, nur verstehen. Nur dann nähern sich die Erwartungen einer Ära Biden/Harris den begrenzten Möglichkeiten. Unser Traumbild von Amerika ist so irreal wie unser Feindbild. Oder wie der ehemalige Geschäftsführer der Alfred Herrhausen Gesellschaft Wolfgang Nowak gestern sagte:
Amerika ist und bleibt das Land der unbegrenzten Widersprüche.
Die Aufarbeitung dieses mehr als enttäuschenden demokratischen Wahlergebnisses hat begonnen. Prominente Kommentatoren gehen mit der Partei ihres Herzens und dem Präsidentschaftskandidaten Joe Biden hart ins Gericht.
Pulitzer-Preisträger Thomas L. Friedman, außenpolitischer Kolumnist der „New York Times”, schreibt:
Auch wenn Biden bei Wählern der Arbeiterklasse kleine Fortschritte gemacht hat, scheint es keine große Verschiebung zu geben. Viele Trump-Wähler der Arbeiterklasse haben nicht nur das Gefühl, dass auf sie herabgesehen wird, sie lehnen auch ab, was sie als kulturelle Zensur von liberalen Eliten ansehen, die aus dem College-Campus kommen.
„Politico”-Mitgründer John F. Harris bemerkt:
Wenn es keinen eindeutigen Gewinner gab, gab es einen einfachen Verlierer: Es war die ,Gewissheitsbranche’, die sich aus Meinungsforschern, Kommentatoren und Journalisten zusammensetzte.
Wahlnachlese auch an Bord der PioneerOne mit ThePioneer-Vize-Chefredakteur Gordon Repinski und „Race to the White House“-Podcast-Gastgeber Julius van de Laar.
© Anne HufnaglDurch den Abend führte meine Kollegin Chelsea Spieker:
© Anne HufnaglMit dabei war Martin Richenhagen, seit 16 Jahren Vorstandschef des weltgrößten Landmaschinenherstellers AGCO Corp. Er beschäftigt 25.000 Mitarbeiter und setzt rund 10 Milliarden Dollar um. Mit ihm blickte ich in die Seele eines Landes, das sich selber sucht. Über die Wahl von Trump im Jahr 2016 sagte er:
Man wollte jemanden haben, der aufräumt, der wie ein Panzer durch Washington fährt und alles niederwalzt. Nur hat der nie darüber nachgedacht, was man aus den Trümmern machen will.
Als Mann der Wirtschaft will Richenhagen den New Yorker Trump nicht gelten lassen.
Er ist ein schlitzohriger Immobilienspekulant, aber kein Unternehmer.
Auf die Frage, warum die Demokraten Florida verloren haben, sagt er:
Florida ist das größte Altersheim der Welt. Dort wohnen im Wesentlichen gutsituierte Weiße. Sie haben alle Angst, dass jemand an ihre Rücklagen geht und sie ihren Lebensstandard nicht halten können.
Den typischen Trump-Wähler skizziert er mit folgenden Worten:
Das ist eher ein einfach denkender Mensch, ohne akademische Laufbahn. Das sind vor allen Dingen die Abgehängten der amerikanischen Gesellschaft, also Arbeiter in den Kohle-Gebieten, Stahlarbeiter, Arbeiter in der Ölraffinerie.
Über seine tägliche Erfahrung als CEO mit Trump sagt er:
Man kann sich gar nicht so viel aufregen wie er Dinge macht, die sonderbar sind. Ich sehe ihn als Politclown.
Über Joe Biden sagt er:
© Anne HufnaglEr ist ein extrem schwacher Kandidat: Ein alter Mann mit wenig Inhalten.
Der Transatlantik-Beauftragte der Bundesregierung, der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Beyer, warnte die deutschen Biden-Fans vor einer „rosaroten Brille“ bei der Beurteilung der Agenda des möglichen demokratischen Präsidenten.
© Anne HufnaglWir haben ziemlich taffe Themen auf dem Tableau. Von der Sache her wird es nicht leichter. Aber ein Miteinander von gegenseitigem Respekt wäre schön.
Der frühere Wehrbeauftragte des Bundestages, ThePioneer-Kolumnist Hans-Peter Bartels, räumte an Bord der Pioneer offen ein, dass Trump bei der Kritik an den Verteidigungsausgaben einen wunden Punkt trifft.
Dass die Europäer mehr ausgeben müssen, liegt in unserem ureigenen Interesse.
Und dass die Sicherheit Deutschlands mitten in Europa verteidigt werden muss, habe viel mit Putin, aber nichts mit Trump zu tun.
© Anne HufnaglEs gibt eine sicherheitspoltische Wende. Die kollektive Verteidigung in Europa ist spätesten seit der Krim-Annexion wieder ein Thema für uns.
Sudha David-Wilp, New Yorkerin und Politikwissenschaftlerin beim German Marshall Fund, mahnte die Beobachter zu einer guten Portion Gelassenheit:
© Anne HufnaglDer demokratische Prozess ist lebendig und vital. Die Stimmen werden gezählt. Tief Luft holen und auf die Auszählung warten.
Und was die USA in den nächsten Tagen erwartet, fasst unser Washington-Korrespondent Peter Ross Range im Skype-Interview so zusammen:
Egal wer es wird, er muss das Land heilen.
Eine Zusammenfassung des Abends hat ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker hier für Pioneers aufgeschrieben, die Gespräche können Sie dort und gekürzt auch im Morning Briefing Podcast nachhören.
Die Corona-Pandemie zollt auch ihren Tribut bei den 20 Millionen Rentnern in Deutschland.
© Media PioneerWegen der wirtschaftlichen Misere im laufenden Jahr müssen sich die Rentner im Westen 2021 auf eine Nullrunde einstellen, im Osten gibt es mickrige 0,7 Prozent zusätzlich. Die Kollegen vom Hauptstadt-Team haben exklusiv den Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung vorliegen.
Höhere Bundesbeamte und Soldaten können demnach auf einen Corona-Sonderbonus von 600 Euro hoffen. Das Bundesinnenministerium will den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst auf die Spitzenbeamten und die Truppe übertragen.
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Elisabeth Hoffmann forscht zum Verhältnis der Generationen und spricht im „8. Tag“ mit Alev Dogan über Erziehung und Emanzipation.
Junge Menschen, sagt Elisabeth Hoffmann, bestehen nicht nur aus Kopf und Hirn, nicht nur aus Ambitionen und Zielen, sondern aus Herz und Seele. Die Kinder- und Jugendforscherin fordert, dass Lebensältere ihre Rolle im Umgang mit Jugendlichen hinterfragen. Sie glaubt, dass viele von uns zu beschäftigt damit sind, jung zu bleiben, und darüber die Empfindungen und Bedürfnisse der tatsächlich Jungen aus dem Blick verlieren. Sie verlangt von uns das Schwierigste auf der Welt: Selbstkritik.
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr