USA: Zurück zur Mitte

Teilen
Merken
Auf seiner ersten Europa-Reise: US-Präsident Joe Biden.

Guten Morgen,

die Befürchtungen der Trump-Anhänger sind ähnlich überzogen wie die Hoffnungen der linken Demokraten. Der neue US-Präsident wird aus der Mitte heraus regieren, wobei die politische Mitte in Amerika sich rechts von Angela Merkel befindet. Vier Gründe sind es, die es Biden unmöglich machen, der zu sein, den die einen fürchten und die anderen sich erhoffen:

  1. Joe Biden ist Zentrist. Sein Markenkern ist die Mitte von der Mitte. Seit 45 Jahren ist er als Politiker einer gemäßigten und vernunftorientierten Politik in Amerika unterwegs und hat sich in den Vorwahlen genau deshalb auch gegen Bernie Sanders und Elizabeth Warren durchgesetzt. Er weiß, was seine Anhänger auch wissen: Die Linke ist laut und im öffentlichen Diskurs oft dominant, aber regierungsfähig ist sie nirgendwo auf der Welt. Biden in seiner ersten Ansprache:

Fortschritte können wir nur machen, wenn wir in unseren Gegnern keine Feinde sehen.

Joe Biden © imago

2. Der neue Präsident kann sich, selbst wenn er wollte, einen Ausfallschritt nach links gar nicht leisten. Die Mehrheitsverhältnisse im Land und im Senat sind nicht danach. Donald Trump hat nach jetzigem Stand über acht Millionen Stimmen mehr eingesammelt als 2016. Die Republikaner dürften auch im neuen Senat auf eine Mehrheit kommen, weshalb ein Durchregieren des neuen Präsidenten so wenig funktioniert wie beim alten. Biden in seiner Ansprache:

Ich werde genauso hart arbeiten für diejenigen, die nicht für mich gestimmt haben wie für diejenigen, die für mich gestimmt haben.

3. Die Demokraten haben zwar gewonnen, aber eben nicht gesiegt. Wichtige Kernzielgruppen der Partei von Clinton und Obama, zum Beispiel die Hispanics in Florida, sind Biden von der Fahne gegangen, weil die Wahlkampfrhetorik der Demokraten sie zu sehr an Castros Kuba erinnerte. Auch die staatliche Krankenversicherung ist bei vielen in Amerika nicht so populär, wie man in Deutschland glaubt. Ähnliches gilt beim Kampf gegen den Klimawandel: Greta Thunberg ist für die Amerikaner eine Aktivistin, aber keine Göttin.

 © dpa

4. Joe Bidens Vorsprung, rund 4,4 Millionen Menschen mehr als Donald Trump haben ihn gewählt, ist die in Zahlen gegossene Aufforderung, das Land zu versöhnen. Der neue Präsident wird auch daran gemessen, dass er die fieberhafte Überhitzung beendet und aus Gegnern wieder Partner macht. In seiner Siegesansprache sagte er deshalb:

Ich habe versprochen, ein Präsident zu sein, der nicht spaltet, sondern eint. Geben wir uns jetzt gegenseitig eine Chance.

Fazit: Nach vier exzentrischen Jahren kehrt der Regierungsapparat in die politische Mitte zurück. Jetzt muss das links wie rechts aufgewühlte Wahlvolk nur noch folgen.

George W. Bush © imago

George W. Bush ging am Sonntagabend mit gutem Beispiel voran. Er gratulierte Biden und Kamala Harris in einem Telefonat und erklärte anschließend - anders als Trump - die Wahl für „grundsätzlich fair“ und ihren Ausgang „für klar“. Er halte Biden für „einen guten Menschen“, der nun die Chance habe, das Land zu einen:

Der neu gewählte Präsident hat als Demokrat kandidiert und wird nun als Präsident aller Amerikaner regieren. Ich biete ihm, wie seinen Vorgängern, meine Gebete für den Erfolg und mein Angebot zu helfen, wann immer ich helfen kann.

 © dpa

Hier die interessantesten demografischen und soziologischen Befunde dieser Präsidentschaftswahl:

Trumps populistischer Regierungsstil, der in seiner direkten Kommunikation mit dem Volk neue Maßstäbe setzte, hat der amerikanischen Demokratie einen Vitalisierungsschub gegeben. Bei der Wahlbeteiligung wurde ein Jahrhundert-Rekord erreicht:

Eine Infografik mit dem Titel: Amerikas Demokratie

Wahlbeteiligungen bei US-Prädidentschaftswahlen seit dem Jahr 1900, in Prozent

Über 75 Millionen Amerikaner wählten Joe Biden ins Weiße Haus, mehr als bei den beiden Obama-Wahlen. Doch auch Trump konnte sein Ergebnis aus dem Jahr 2016, als ihn 63 Millionen Menschen wählten, steigern: aktuell kommt er auf über 71 Millionen Stimmen, ein Zuwachs von 12,7 Prozent. Also wurde Trump mit mehr Stimmen aus dem Amt gewählt als Obama hinein.

Eine Infografik mit dem Titel: Bidens Rekordergebnis

Sieger der Präsidentschaftswahlen in Millionen; Anm.: Amerikas Bevölkerung ist in dieser Zeit enorm gewachsen

Trump schreckte als Präsident nicht vor Polemisierungen und Stigmatisierungen zurück. Migranten aus Mexiko sind für ihn in großen Teilen „eiskalte Verbrecher“ und „Vergewaltiger”. Viele Afroamerikaner verängstigte er durch seine offene Unterstützung rechter Milizen und seine Kritik an der Black-Lives-Matter-Bewegung. Umso überraschender, dass ihn bei der Wahl mehr Latinos und Afroamerikaner als noch 2016 wählten. Eine mögliche Begründung: Viele trauten ihm in der Wirtschaftspolitik mehr zu. Verletzte Gefühle und vermehrtes Einkommen wurden miteinander verrechnet.

Fünf Themen haben die Amerikaner bei dieser Wahl umgetrieben: die Wirtschaft, der Rassismus, die Corona-Pandemie, die öffentliche Sicherheit und das Gesundheitswesen. Trump, der selbsternannte “Dealmaker”, überzeugte die Wähler vor allem mit seiner Wirtschaftspolitik (81 Prozent) und seinem „Law and Order”-Image (70 Prozent). Biden gelang es, dem Präsidenten die Versäumnisse in der Corona-Politik (82 Prozent) anzulasten. Die steigenden Infektions- und Todeszahlen sowie die erratische Corona-Politik der Regierung wurden Trump zum Verhängnis.

Eine Infografik mit dem Titel: USA: Sorgen um die Wirtschaft

Entscheidende Themen für US-Wähler insgesamt sowie Trump- und Biden-Wähler, in Prozent*

Die Wahl Bidens gibt Klimaschützern neue Hoffnung. Der Demokrat hatte im Wahlkampf angekündigt, dem Pariser Klimaschutzabkommen wieder beizutreten, das Trump aufgekündigt hatte. Er bekannte sich auch zu dem Ziel, den Treibhausgas-Ausstoß der USA bis 2050 unterm Strich auf Null zu bringen. Doch das Thema Klimawandel wird beim Versöhnen des Landes wenig hilfreich sein. Die Republikaner stehen dem Thema mit überwiegender Mehrheit (84 Prozent) skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Eine Infografik mit dem Titel: "Grüne Politik" spaltet Amerika

Umfrage unter Trump- und Biden-Wählern, ob sie den Klimawandel als ernstes Problem einschätzen, in Prozent

Als erste Frau und erste Amerikanerin mit indischen Wurzeln im Amt der Vizepräsidentin gilt Kamala Harris vielen als die Hoffnungsträgerin der Biden-Kampagne. Doch die ersten demoskopischen Befunde für die ehemalige Justizministerin und Generalstaatsanwältin Kaliforniens deuten auf Polarisierung hin:

Eine Infografik mit dem Titel: Polarisierende Vize-Kandidatin

Umfrage unter US-Wahlberechtigten wie sie Kamala Harris einschätzen, in Prozent*

Bei der US-Wahl konnten sowohl die Republikaner als auch die Demokraten in ihren Hochburgen hohe Siege feiern. Letztere reüssierten vor allem in den Großstädten - allen voran in der amerikanischen Hauptstadt Washington D.C. Hier erreichte Joe Biden mit 93,3 Prozent nicht nur seinen landesweit höchsten Sieg in einem Bundesstaat, sondern übertraf auch die vorherigen demokratische Kandidaten: Sowohl Hillary Clinton als auch Barack Obama konnten hier 90,9 Prozent der Stimmen gewinnen.

 © dpa

Aber auch Donald Trump hat seine Fans: In Oklahoma gewannen die Republikaner, ebenso wie in West Virginia, alle Countys. In den Countys Beaver, Dewey und Ellis stimmten zwischen 90 und 90,4 Prozent für Trump. Im County Cameron in Louisiana stimmten 90,9 Prozent für den Republikaner, im County Crook in Wyoming waren es 88,6 Prozent.

Seine größten Fans leben allerdings in Texas. Hier erreicht Trump laut NBC News in acht Countys über 90 Prozent. Spitzenreiter ist der County Roberts mit 96,2 Prozent.

 © dpa

Der CDU-Politiker Norbert Röttgen, der sich auch um den Parteivorsitz bewirbt, ist seit 2014 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Regelmäßig bereist er die USA. Auch während der Trump-Zeit hat er den Kontakt zu republikanischen Kongressabgeordneten nicht abreißen lassen.

Mit ihm habe ich im Morning Briefing Podcast über den knappen Wahlausgang und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen gesprochen. Er sagt:

Den Republikanern steht jetzt die Aufarbeitung der Trump-Zeit bevor.

Über die Stärken des neuen US-Präsidenten urteilt Röttgen so:

Die Fähigkeit, zu versöhnen, traue ich Joe Biden zu. Das ist vielleicht auch ein Vorteil seines Alters. Deshalb ist er, glaube ich, fast eine Bestbesetzung.

Über die künftige Gestaltung der transatlantischen Beziehungen und die damit zusammenhängenden Themen wie Nord Stream 2 und 5G sagt der Außenpolitiker:

Nord Stream 2 ist ein Projekt, das nur den machtpolitischen Interessen Russlands dient und in Europa und im transatlantischen Verhältnis viel Scherben produziert hat.

Wir können und sollten ein europäisches 5-G-Netz bauen. Das ist sowohl technologisch als auch industriell sinnvoll und wäre ein starkes Zeichen, wenn wir sagen, wir wollen das westlich-europäisch gestalten, eventuell mit amerikanischer Unterstützung.

Seine persönliche Lehre aus der oft unschönen amerikanischen Wahlauseinandersetzung:

Populismus erzielt Resonanz, aber am Ende gewinnt der Anstand. Aufbruch und Anstand sind eine unschlagbare Kombination, auf die man als Politiker setzen sollte.

Fazit: Röttgens Analyse ist keine journalistische, sondern eine politisch-praktische. Sie enthält Handlungsoptionen wider die transatlantische Erstarrung.

Die neuen Milliardenhilfen für Gastronomen, Theaterveranstalter, Clubbetreiber und Solo-Selbstständige sollten - so heißt es schon im Namen des Hilfspakets “Novemberhilfe” - auch im November fließen. Doch Wirtschaftsminister Peter Altmaier kommt mit der IT-Infrastruktur nicht hinterher, es gibt Streit über Zuständigkeiten und um die Gruppe der Antragsberechtigten. Drei FDP-Wirtschaftsminister aus den Ländern haben sich per Brief beschwert, CDU-Minister Bernd Althusmann mahnt:

Das muss jetzt mal unkompliziert gehen.

Wer ist der Demokrat aus Delaware, der im Januar in das Weiße Haus ziehen soll? CDU-Urgestein Elmar Brok, fast 40 Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments, hat Biden schon als Senator kennengelernt und seither mehrfach getroffen. Sein Porträt findet sich auf ThePioneer.de. Prädikat: anregend und aufschlussreich..

Die Zinspolitik der EZB hat Auswirkungen auf die Rentner im Land. Laut Regierungsbericht muss die Deutsche Rentenversicherung bis 2022 rund 230 Millionen Euro an Negativzinsen zahlen. Die Kollegen vom Hauptstadt-Team wissen mehr. Ihre ausführlichen Informationen finden Sie unter thepioneer.de/hauptstadt.

Bereits in meinem letzten Buch „Die unbequeme Wahrheit“ habe ich mich mit der Zunahme von Politikerrücktritten aus nichtigem Anlass befasst. Über den Hang zur medialen Vergrößerung und Vergröberung heißt es dort:

Zuweilen schießen die Medienmacher wie die Türsteher der Reeperbahn auf ihre Kundschaft los, um sie ins Separee einer medialen Klickshow zu zerren. Die Menschen auf der Bühne heißen nicht Natalie und Chantal, sondern Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg, Franziska Giffey oder Annette Schavan. Alle müssen sich frei machen bis auf die letzte Fußnote ihrer Doktorarbeit und werden bis zum knallroten Bobbycar des Präsidentenkindes ausgeleuchtet.

Ihrer bürgerlichen Ehre schließlich entkleidet, dürfen sie in der Kulisse entschwinden. Ihre Reputation wurde gegen Reichweite getauscht, Empörung als verkaufsfördernde Maßnahme eingesetzt, die in ihrer Permanenz und Penetranz beim Publikum - und da beißt sich die Dialektik in den Schwanz - schließlich zum Kaufkater führt. Wer es spüren will, der spürt es: Man wird nicht aufgeklärt, sondern aufgewühlt.

Womit wir bei den Schlagzeilen des heutigen Tages wären: Die SPD ist drauf und dran ihr größtes Gegenwartstalent zu verlieren: Franziska Giffey. Die heutige Familienministerin, die sich in Kürze als Berliner SPD-Vorsitzende und Spitzenkandidaten um den Job der Regierenden Bürgermeisterin bewerben will, wird von ihrer Vergangenheit verfolgt und womöglich in Kürze eingeholt. Das bereits ad acta gelegte Verfahren um die Plagiatsvorwürfe in Sachen Doktorarbeit wird neu aufgerollt.

Franziska Giffey hatte selbst vor einiger Zeit gesagt: Wenn ihr der Doktortitel aberkannt werde, trete sie zurück. Beides droht jetzt.

Franziska Giffey © dpa

Doch hier ist Widerspruch geboten. Würde sie sich um den Posten als Universitätspräsidentin bewerben, wäre der Rückzug unvermeidlich. Doch so wenig wie Karl-Theodor zu Guttenberg in der Öffentlichkeit als Wissenschaftler und Akademiker gewirkt hat, so wirkt auch sie als praktisch denkende Politikerin. Ihre Doktorarbeit interessiert so wenig wie ein Golf-Handicap, der im Karneval verlorene Führerschein eines Ministers oder das Bobbycar des Präsidenten.

Ein Politiker muss - meiner Ansicht nach - nicht geringere, aber andere Anforderungen erfüllen. Franziska Giffey besitzt ein tadelloses Abitur, hat einen 1A Universitäts-Abschluss vorzuweisen und ist dann beim Streben nach dem Doktortitel auf die akademisch schiefe Bahn geraten. Das muss geahndet werden - zur Not auch mit der Aberkennung des Doktortitels, aber doch nicht mit der politischen Todesstrafe.

Fazit: Das Problem der Gegenwart ist nicht die falsche Fußnote, sondern eine entfesselte moralische Rigorosität.

 © Anne Hufnagl

Der Neustart mit dem abendlichen Inspirations-Podcast „Der achte Tag“ ist geglückt. Über 100.000 tägliche Hörerinnen und Hörer folgten dem von Alev Doğan (Montags bis Donnerstag) und Diana Kinnert (immer Freitag) konzipierten und präsentierten Format. In der Freitagsfolge ging es im TikTok, das chinesische Videoportal. Ein faszinierendes Stück Journalismus ist entstanden, das mich am Wochenende immer wieder gedanklich beschäftigt hat. Prädikat wertvoll – weil widersprüchlich.

 © dpa

Am Wochenende hat der Flughafen Tegel endgültig den Flugbetrieb eingestellt und seine Türen geschlossen. Nach nur 45 Lebensjahren wird das von Meinhard von Gerkan errichtete Bauwerk dem Vergessen anheimgegeben. Doch schon am ersten Tag nach der Schließung setzt die Tegel-Nostalgie ein. Prominente wie Helene Fischer und Hertha-BSC-Trainer Bruno Labbadia posteten ihre Bilder, zeigten ihre Tränen und schwelgten in Erinnerungen.

Das hässliche Entlein unter den Glitzer-Airports der Welt wird zum Sehnsuchtsort. Man erinnerte sich mit wohligen Gefühlen jener Zeit als das Leben analog, überschaubar und entschleunigt war. „Die Erinnerung“, sagt der Volksmund, „malt mit goldenem Pinsel“. Malen wir mit.

 © dpa

Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Gründer & Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing