Verdi-Chef Bsirske: Die wahre Bilanz

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 © ThePioneer

Guten Morgen,

Frank Bsirske glaubt offenbar, er sei der kleine Bruder von Nikita Chruschtschow. Der Sowjetführer quälte sein Publikum bei einem Auftritt vor den Vereinten Nationen im Jahr 1960 viereinhalb Stunden lang. Bsirske nahm gestern die Delegierten auf dem Verdi-Bundeskongress in Leipzig immerhin anderthalb Stunden in Geiselhaft.

Anlass der XXL-Rede war sein Abschied nach 18 Jahren als Verdi-Vorsitzender. Zur Verlesung kam eine Erfolgsbilanz, die es im wahren Leben der Dienstleistungsgewerkschaft so nie gegeben hat.

Wir haben uns den Herausforderungen mit geradem Rücken gestellt. Das hat sich ausgezahlt.

Es war derselbe Rücken, der 2008 in der ersten Klasse bequem den Sitz nach hinten fahren ließ, um mit der Lufthansa über Los Angeles in den Südsee-Urlaub zu fliegen. Zu jener Zeit war Bsirske Aufsichtsratsmitglied – und die Gewerkschaftskollegen befanden sich gerade im Arbeitskampf mit der Lufthansa. Die moralische Autorität war nicht dahin, aber angekratzt.

Gestern behauptete er:

► Verdi habe die Eintritte neuer Mitglieder in die Gewerkschaft in den vergangenen Jahren „kontinuierlich steigern können“. Richtig ist: Diesen Neuzugängen standen Abgänge in deutlich höherer Zahl gegenüber. In diesem Jahr wird Verdi nach eigenen Schätzungen erneut wieder 20.000 Mitglieder verlieren.

Eine Infografik mit dem Titel: Verdi: Der Schwund unter Bsirske

Mitglieder-Entwicklung der zwei größten deutschen Gewerkschaften, in Millionen

► In Bsirskes Amtszeit summieren sich die Verluste damit auf 800.000 Mitglieder – ein Minus von 30 Prozent. Seit dem Jahr 2005 ist Verdi hinter der IG Metall nur noch die zweitgrößte Gewerkschaft im Lande (siehe Grafik).

Auch bei seinen Aufsichtsratsmandaten, die der 67-Jährige sammelte wie andere Steinpilze, ist eine für Mitarbeiter und Aktionäre segensreiche Wirkung nicht messbar.

► Seit April 2013 sitzt Bsirske im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Der Kursverlust seitdem: mehr als 75 Prozent. Im Juli 2019 befürwortete er als Aufsichtsrat die Streichung von 18.000 Angestellten mit der Begründung, dadurch würden die Arbeitsplätze in Deutschland langfristig stabilisiert. Ideenlos begleitet Bsirske den Niedergang des Geldinstituts. Das Co-Management, von dem auf Gewerkschaftstagen die Rede ist, fiel aus.

► Auch bei RWE saß der Verdi-Vorsitzende tatenlos im Kontrollgremium, als die Firma in Turbulenzen geriet. Der Kursverlust seit Antritt im November 2001 beläuft sich auf 37 Prozent.

► In seiner Zeit als Aufsichtsratsmitglied der Lufthansa, die von April 2001 bis Mai 2013 dauerte, verlor der Konzern 23 Prozent an Börsenwert. Die schwierigen politischen Ausgangsbedingungen der Airline vermochte er nicht zu verbessern. Manche sagen: Bsirske hat es nichtmal versucht. Das prägende Element seiner Amtszeit: Passivität.

► Angesichts der attraktiven Bezahlung als Aufsichtsratsmitglied eines Dax-Konzerns möchte Bsirske auch im Ruhestand gern sich und seiner Gewerkschaft als Aufsichtsrat dienlich sein.

Selbst in seinen wichtigsten Aufgabengebieten, der Reallohnsicherung und der Tarifbindung der in Deutschland Beschäftigten, fällt die Bilanz nach 18 Jahren eher trübe aus.

Eine Infografik mit dem Titel: Gewerkschaften: Der Bedeutungsverlust

Anteil der Beschäftigten in West- und Ostdeutschland mit Tarifbindung

► Die sogenannte Tarifflucht ist der größte Feind der Gewerkschaft. Immer mehr Unternehmen in Bsirskes Reich haben den Geltungsbereich der von ihm ausgehandelten Tarifverträge verlassen. So hatten zuletzt im Westen lediglich noch 57 und im Osten 44 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag. Das ist ein Rückgang von 20 beziehungsweise 21 Prozent seit 2001 (siehe Grafik).

► Vergleicht man die Wirtschaftsdaten und die Gehaltsentwicklung im öffentlichen Dienst – einer Kernklientel von Verdi –, fällt auf: Die Lohnabschlüsse der vergangenen Jahre lagen zwar allesamt über der Inflationsrate, aber unter der allgemeinen Wohlstandssteigerung in Deutschland.

► Für die erbärmlichen Verhältnisse an den Schulen und im Pflegebereich, wo die Gebäude bröckeln und die Gehälter erodieren, ist er zumindest mitverantwortlich.

Eine Infografik mit dem Titel: Löhne vs. BIP

Tarifentwicklung ausgewählter Branchen in Relation zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukt (BIP), in Prozent

Fazit: Bsirske hinterlässt ein Haus in Unordnung. Insbesondere der öffentliche Dienst ist erstarrt, den dort Beschäftigen fehlt gesellschaftliche Anerkennung, leistungsgerechte Bezahlung und der Nachwuchs. Bsirske bleibt als der Mann in Erinnerung, der mit fester Stimme die Delegierten von sich einnahm. Die wahren Probleme der Dienstleistungsgewerkschaft aber hat er nicht gelöst, nur überdröhnt. Die Wirklichkeit wurde von ihm interpretiert, aber nicht verbessert.

 © imago

Hollywood mitten in New York, großes Kino, große Gefühle: Der Kinderstar der Saison – die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg – war wieder zu sehen in der Rolle der Weltenretterin. Zur Aufführung kam der Director's Cut des Klimathrillers „The Day After Tomorrow“.

Wie konntet Ihr es wagen, meine Träume und meine Kindheit zu stehlen mit Euren leeren Worten?

Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens und alles, worüber Ihr reden könnt, ist Geld und die Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum. Wie könnt Ihr es wagen?

 © dpa

Wer diese Melodramatik überlebt hatte, war froh, als am Rednerpult Kanzlerin Angela Merkel auftauchte.

Deutschland sieht seine Verantwortung international und national. Und Aufgabe jeder Regierung ist es, alle Menschen mitzunehmen, dieser Aufgabe stellt sich Deutschland.

Wir werden den Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaft und zu einem nachhaltigen Leben leisten.

Sie forderte, versprach und sagte nichts, zumindest nichts, was das Publikum hätte erneut aufpeitschen können: Valium für das Volk. Oder wie der Publizist Johannes Gross zu sagen pflegte: „Früher glaubte jede neue Generation, mit ihr fange die Welt an. Heute glaubt die neue Generation, mit ihr gehe sie zu Ende.“

 © imago

Am Anfang stand der Zweifel. Juan Moreno, der seit rund zwölf Jahren als freier Reporter für den „Spiegel“ arbeitet, misstraute den Szenen und Zitaten, die der vielfach preisgekrönte Reporter aus dem gleichen Haus, Claas Relotius, in das von der Hamburger Zentralredaktion beauftragte Gemeinschaftswerk einfließen ließ. Zu konstruiert, zu klischeehaft, einfach unfassbar waren dessen Erlebnisse.

So behauptete Relotius, er sei dabei gewesen, wie eine Trump-hörige Bürgerwehr an der amerikanisch-mexikanischen Grenze auf Flüchtlinge schoss. Aus den Zweifeln wurde ein Anfangsverdacht. Am Ende stand die Gewissheit: Claas Relotius war ein Märchenerzähler, der sich als Reporter ausgab. Knapp 60 seiner Veröffentlichungen in den acht Jahren beim „Spiegel“ waren teilweise oder völlig erfunden. Die drei bizarrsten Fantasiegeschichten des Reporters:

► Den Schuss der Bürgerwehr auf Flüchtlinge hat es nie gegeben.

► Die Sekretärin aus Missouri, die es sich zum Hobby gemacht haben sollte, bei Hinrichtungen dabei zu sein: frei erfunden.

►Die Szene, in der Relotius im Hochsicherheitstrakt eines US-Gefängnisses mit einem verwirrten Massenmörder gemeinsam duscht und dieser schließlich die Seife isst – ein Märchen.

Claas Relotius © dpa

In seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ beschreibt Moreno „das System Relotius“ und damit die nicht unbeträchtliche Lücke, die beim „Spiegel“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft. Statt „Sagen, was ist“, wie es Gründer Rudolf Augstein einst vorgab, handelte man im Gesellschaftsressort des Nachrichtenmagazins nach der Devise „Schreiben, was man gern hätte“. Neugier wurde durch Haltung ersetzt.

Das Buch dokumentiert eine Mail des mittlerweile freigesetzten Ressortleiters, die das Drehbuch der Story praktisch vorgab. Die Anleitung für Moreno klang so:

Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich geworden ist. Sie sieht in diesem Treck die einzige Hoffnung, ihrem Leben zu entfliehen (...) Es muss eine Frau sein, die sich nicht offiziell den amerikanischen Behörden bei der Einreise stellen will. Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will.

Die Anleitung für den Reporter Claas Relotius, bei dieser Story der Partner von Moreno, war nicht minder präzise abgefasst:

Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas. Das ist einer dieser Ranger, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Grenze zu Mexiko in eigener Regie zu sichern. (...) Dieser Typ hat selbstverständlich Trump gewählt, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, so wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.

SPIEGEL-Reporter als Märchenerzähler - die Geschichte der Enttarnung

Der Journalist Juan Moreno erzählt, wie er seinen Kollegen Claas Relotius als Lügenbaron überführte

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Veröffentlicht in The Pioneer Briefing Business Class Edition von Gabor Steingart.

Podcast mit der Laufzeit von

Erst nachdem die Ressortleitung, der stellvertretende Chefredakteur und der Chefredakteur ausgetauscht waren, kam Zug in die Aufarbeitung der Affäre. Der „Spiegel“ veröffentlichte unter Schmerzen den präzisen Tathergang und auch die Versuche der Hierarchie, den Fall zu vertuschen. Reporter Moreno liefert nun im Gespräch mit dem Morning Briefing Podcast Geruch und Farbe nach. Der Fall beginnt zu leben.

Das „System Relotius“ funktionierte so lange gut, auch weil er als brillanter Lügner auftrat:

Dieser Mensch war ein Menschenfänger. Das war er im persönlichen Umgang und auch in seinen Texten.

Bei seinen Vorgesetzten biss Moreno lange auf Granit. Als er den zuständigen Ressortleiter über seinen Verdacht informierte, war die Reaktion bedrohlich. In seinem Buch zitiert Moreno ihn mit den Worten:

Juan, das ist eine Hinrichtung, entweder Deine oder die von Claas, und ich habe keinen Grund, an meinem Autor zu zweifeln.

Juan Moreno hat die Geschichte seines Lebens aufgeschrieben, gegen alle Widerstände. Meinungsfreiheit wird nur dadurch verteidigt, dass man von ihr Gebrauch macht. Ginge es im Leben gerecht zu, gehörten die Preise, die Relotius in den vergangenen Jahren gesammelt hat, jetzt in Morenos Vitrine.

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Am Freitag dieser Woche möchte der Aufsichtsrat der Commerzbank Großes beschließen, wieder mal. Es ist der vierte Umbau der Bank – Staatsanteil aktuell 15 Prozent – in zehn Jahren. In dieser Dekade ist der Börsenwert von fast 25 Milliarden auf rund sieben Milliarden Euro geschrumpft.

Eine Infografik mit dem Titel: Commerzbank: Die Schrumpfung

Börsenwert der Commerzbank zu ihrem Höchststand 2007 und heute, in Milliarden Euro

Das nun zur Debatte stehende Programm „Commerzbank 5.0“ ist eine Maßnahme, die das Sterben verlängert, aber keine Heilung bringt. Die 149 Jahre alte Bank und ihre heute 48.644 Mitarbeiter werden planmäßig weiter leiden:

► 2300 Mitarbeiter sollen ihren Job verlieren.

► Jede fünfte der noch rund 1000 Filialen soll dichtgemacht werden.

► 750 Millionen Euro will die Bank in neue IT-Systeme investieren.

Und ausgerechnet mit dem Verkauf der profitablen polnischen mBank – die Commerzbank hält derzeit rund 70 Prozent der Anteile – soll diese Radikalkur finanziert werden. Die Tochter ist über zwei Milliarden Euro wert und gilt technologisch als eine der führenden Banken Europas. 2018 hat sie eine Eigenkapitalrendite von 9,5 Prozent erwirtschaftet – fast dreimal so viel wie die Commerzbank selbst.

Die mBank ist das letzte Tafelsilber, das Konzernchef Martin Zielke noch versetzen kann. Bei einem Aktienkurs von 5,30 Euro darf er von seinen Aktionären kein frisches Kapital mehr erwarten. Scheitert Zielke mit seiner 5.0-Strategie, überlebt die Bank – wenn überhaupt – nur noch im Schoß einer anderen. Und der Chef rettet sich im April 2020 – das gilt bereits als abgemachte Sache – auf den Chefposten des Bundesverbandes deutscher Banken.

Der britische Reisekonzern Thomas Cook ist pleite und hat den Betrieb und die Zahlungsbereitschaft eingestellt. Rund 600.000 Urlauber hängen in ihren Urlaubsorten fest.

Eine Infografik mit dem Titel: Thomas Cook

Der Niedergag in Zahlen

Allein Großbritannien fühlt sich derzeit verpflichtet, 150.000 seiner Urlauber auf Staatskosten zurückzuholen. Für sie startet die Regierung in London die „Aktion Matterhorn“ – die größte Rückholaktion in Friedenszeiten. Die Luftfahrtbehörde CAA hat Dutzende Maschinen gechartert, um Urlauber von 55 verschiedenen Reisezielen heim auf die Insel zu holen.

Die deutschen Urlauber allerdings sind auf sich allein gestellt. Mit dem deutschen Thomas-Cook-Ableger sind nach Unternehmensangaben derzeit 140.000 Pauschaltouristen unterwegs. Vorschlag: Wenn die Kanzlerin und die Verteidigungsministerin mit ihren Airbus-Maschinen aus den USA zurückkommen, sollten sie vielleicht eine Schleife über Lesbos, Mallorca und Rimini fliegen. Die Gestrandeten könnten ein bisschen Populismus gut gebrauchen.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Start in diesen neuen Tag. Herzlichst grüßt Sie Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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