Volkswagen: Das Duell

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Guten Morgen,

in Wolfsburg wollen derzeit keine weihnachtlichen Gefühle aufkommen - und das liegt nicht an Corona. Der Machtkampf zwischen der IG-Metall in Gestalt von Betriebsratschef und Aufsichtsratsmitglied Bernd Osterloh und dem Management, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess, hat sich weiter zugespitzt. Die Frontstellung vor der für Dezember geplanten Aufsichtsratssitzung lässt sich in drei Worte zusammenfassen: Er oder ich?

Es geht vordergründig um die Neubesetzung zweier zentraler Vorstandsbereiche, Einkauf und Finanzen, die vom Betriebsrat so wie von Diess gewünscht nicht gewollt und daher seit Monaten blockiert werden. Hintergründig geht es darum, wer in der Zentrale der weltgrößten Automobilfirma das Sagen hat: Wer folgt, wer führt?

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Herbert Diess will konzernweit seine Elektro-Strategie und bei der Marke VW seine Rentabilitätserwartungen durchsetzen. Er glaubt, dass schon unter seinen Vorgängern Martin Winterkorn und Matthias Müller wertvolle Zeit verloren ging. Bernd Osterloh dagegen will das Tempo der Veränderung drosseln und die für ihn und die IG Metall erfolgreiche Gefälligkeitskultur, bei der Arbeitnehmervertreter über Auf- und Abstiege von Topmanagern maßgeblich entscheiden, gerne fortsetzen. Im kommenden Jahr werden die Listen für die Betriebsratswahl aufgestellt.

Diess hatte schon die vergangene Aufsichtsratssitzung genutzt, um dem Gremium, das von Gewerkschaftern und Vertretern des Landes Niedersachen dominiert wird, die Dringlichkeit einer Transformation zu verdeutlichen. Diesmal will er es nicht bei Appellen belassen. Die Machtfrage soll durch einen nicht nur symbolischen Akt, nämlich die Bestellung der beiden vakanten Vorstandspositionen und die Verlängerung seines eigenen Vertrages, der offiziell noch bis April 2023 läuft, entschieden werden. Zu seinen Gunsten, wie Diess hofft.

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Doch die Chancen dafür stehen nicht gut. Die IG-Metall/SPD-Seite stößt sich am energischen, sie sagen ruppigen, Führungsstil von Diess. Volkswagen soll auch künftig als volkseigener Betrieb mit Börsenbeteiligung geführt werden. Die Gewinne will man in China, bei Audi, Porsche und neuerdings auch bei SEAT realisieren, aber nicht zwingend bei den Treuesten der Treuen, den Stammbelegschaften der VW-Werke. Das ist der Kern vom Kern des IG-Metall-Imperiums. Hier gelten andere Gesetzmäßigkeiten.

Diess weiß das und verlangt nun nichts Geringeres als eine Zutrittsberechtigung zu diesem verwunschenen Land. Oder die Trennung. In einem Beitrag für das soziale Netzwerk LinkedIn, wo Diess immerhin über knapp 140.000 Follower verfügt (im Vergleich zu den knapp 60.000 von Daimler-Boss Ola Källenius und den 90.000 von Telekom-Chef Tim Höttges) postete er am Wochenende eine Art Vermächtnis:

Eines haben wir schon bei meinem Amtsantritt vor fünf Jahren nicht gehabt: Zeit. Schon damals war Volkswagen spät dran bei der Elektrifizierung und vor allem bei der Digitalisierung.

Die entscheidende Frage für mich als CEO, das Vorstandsteam und die Führungskräfte, die die Situation erkennen: Wie bringen wir diesen riesigen Konzern mit all seinen Stakeholdern trotz der heutigen Erfolge dazu, jetzt umzudenken, radikal umzupriorisieren und neue Fähigkeiten anzustreben. Wir sind kein Startup, wir haben über Jahrzehnte gewachsene Strukturen und Prozesse. Viele verkrustet und kompliziert. Und vor allem unterschiedlichste Interessen und politische Agenden im Konzern.

Und dann folgt der bittere Satz, den man auch als Vorwegnahme des Scheiterns werten kann:

Bei meinem Amtsantritt in Wolfsburg habe ich mir fest vorgenommen, das System VW zu verändern. Heißt: alte verkrustete Strukturen aufzubrechen und das Unternehmen agiler und moderner aufzustellen. Das ist mir gemeinsam mit vielen Weggefährten mit gleicher Motivationslage an vielen Stellen gelungen, an einigen nicht, allen voran in unserer Konzernzentrale in Wolfsburg noch nicht.

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Fazit: Die Volkswagen AG und damit auch SPD-Ministerpräsident Stephan Weil und IG-Metall-Chef Jörg Hofmann müssen sich entscheiden. Wenn sie es wollen, gibt es ein Weiter-So in Wolfsburg. Aber es wird kein Weiter-So mit Herbert Diess geben können. Die rote Linie ist gezogen.

Die Linken nennen es Solidarität, die Konservativen Geschlossenheit. Beide Worte, im politischen Kontext benutzt, meinen nahezu das Gleiche und avancierten nach den Erfahrungen der Weimarer Republik für das bundesdeutsche Bürgertum zum Zentralwert der Demokratie. Eine Partei muss nicht zuerst links oder rechts, modern oder nostalgisch, sondern vor allem geschlossen sein.

Zur Erinnerung: In Weimar bekämpften Kommunisten und Sozialdemokraten eben nicht - wie sie heute gern behaupten - zuerst die Nazis, sondern zuerst bekämpften sich die Linken selbst. Mit dem Wahlplakat “Verraten durch die SPD” zogen die Kommunisten 1928 in den Reichstagswahlkampf. Mit den Worten “Die Reichsregierung muss den Bolschewismus bekämpfen” attackierte 1918 der spätere Reichspräsidenten Friedrich Ebert die Kommunisten.

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Spiegelverkehrt rechts der Mitte das gleiche Bild der Zerrissenheit. Zentrumspartei, DNVP und DVP waren derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie den Aufstieg der Nazis bis zum Schluss nicht als die zentrale Herausforderung der Demokratie begriffen. Allen Ernstes glaubten die konservativen Vertreter bis zuletzt, sie könnten Hitler zähmen. So sagte Alfred Hugenberg von der DNVP wenige Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933:

Wir rahmen Hilter ein.

Franz von Papen © Imago

Der erzkonservative Franz von Papen, der bis 1932 dem Zentrum angehörte und ab 1. Juni 1932 bis wenige Monate vor der Machtergreifung als Reichskanzler die Geschicke Deutschlands führte, ging als größter Fantast in die Geschichte ein:

In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht.

Nur wer politischen Realismus und organisatorische Geschlossenheit als die beiden Zentralwerte der Politik begreift, vermag die Wahl- und Umfrageergebnisse der Gegenwart zu lesen. Alle Parteien, deren Erscheinungsbild von internen Machtkämpfen und den Profilneurosen Einzelner geprägt ist, verlieren in der Gunst des Publikums. Überall dort, wo eine Gruppierung mit einer Stimme spricht und sich auf das Verbessern von Wirklichkeit konzentriert, sind Zugewinne zu verzeichnen.

  • Erst in der Sekunde, als die amerikanischen Demokraten sich auf Joe Biden als ihren Spitzenmann verständigt hatten, gewann ihr Wahlkampf an Fahrt.

Grünen-Chefs Annalena Baerbock, Robert Habeck © Imago
  • Seitdem die Grünen mit einer Doppelspitze auftreten, die fein choreografiert die eine grüne Botschaft verkauft, begann der Aufstieg zur ökologischen Volkspartei mit einem Stimmenanteil der sie auf Platz zwei des derzeitigen Parteiensystems positioniert.

  • Und auf der anderen Seite zerfallen zusehends die Corona-bedingten Höchststände der Union, weil es keine Verständigung über die Zeit nach Merkel gibt. Die politische Laufrichtung und das Spitzenpersonal sind unklar. Wenn die Union nicht aufpasse, so warnte unlängst Markus Söder, werden die Grünen in Führung gehen.

  • Auch die AfD, die im Herbst 2017 mit 12,5 Prozent der abgegebenen Stimmen als größte Oppositionspartei im Bundestag einzog, ist im Niedergang begriffen seit deutlich wird, dass es sich weniger um eine Veränderungsagentur handelt als vielmehr um eine Schlangengrube. Die Tatsache, dass die Parteitagsdelegierten die Ermahnungen ihres Parteichefs, die AfD manövriere sich in die Sackgasse, wenn sie immer enthemmter auftrete und mit haltlosen Begriffen wie dem von der „Corona-Diktatur“ operiere, mit Buhrufen, eisigem Schweigen und nur verhaltenem Applaus quittierten, kann auf das breite Publikum nur abschreckend wirken. Der Gesprächsfaden zwischen Partei- und Fraktionsführung ist erkennbar gerissen. In aktuellen Umfragen liegt die AfD bei sieben Prozent. Das bedeutet, dass sich fast die Hälfte der Wähler vom Herbst 2017 verabschiedet haben. Damals holte die AfD 12,5 Prozent.

Über die SPD muss in diesem Zusammenhang kaum gesprochen werden, weil ihre Zerrissenheit seit dem Abgang von Gerhard Schröder chronisch ist. Zehn Millionen Wähler gingen zwischen der ersten Schröder-Wahl und dem Antritt von Spitzenkandidat Martin Schulz von der Fahne.

Auch ein Kanzlerkandidat Olaf Scholz, den die Partei wenige Monate zuvor als ihren Vorsitzenden abgelehnt hatte, kann das Bürgertum nicht überzeugen. Die bürgerliche Mitte ist höflich, aber nicht blöd. Sie riecht den Braten. Sie weiß, dass Olaf Scholz das bürgerliche Gesicht einer nach links gewendeten SPD ist. Wer wissen will, der weiß, was hier gespielt wird: Erst gehen die Funktionäre mit Scholz auf Wählerfang, danach fahren sie mit ihm Schlitten.

Eine Infografik mit dem Titel: Keine gute Aussicht

Aktuelle Sonntagsfrage zur Bundestagswahl, in Prozent

Fazit: Die Meinungsumfragen aller Institute zeugen vom Reifegrad der bundesdeutschen Demokratie. In der Politik werden vom Publikum im Grunde dieselben Fähigkeiten verlangt wie von jedem Handwerker; präzise Fachkenntnis gepaart mit Fleiß und Höflichkeit. Intriganten und Maulhelden braucht kein Mensch - nicht auf dem Bau und nicht im Bundestag.

Die Zerrissenheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrem Kampf um den Vorsitz spiegelt sich in der Zerrissenheit der Bundestagsfraktion. Unser Hauptstadt-Team hat alle 200 Abgeordnete der CDU gefragt, ob sie sich schon entschieden haben, für wen sie als Delegierter beim Bundesparteitag stimmen wollen. 60 Abgeordnete haben reagiert, doch 22 teilten meinen Kollegen nicht ihr Abstimmungsverhalten, sondern ihre Gefühle mit.

Es herrscht Ratlosigkeit bis an die Grenze der Verzweiflung.

Bei den bereits entschlossen CDU-Abgeordneten sieht das Ergebnis wie folgt aus: Armin Laschet liegt mit 17 festen Zusagen knapp vor Friedrich Merz (15). Alle Details im Hauptstadt-Newsletter.

Laschet, Merz oder Röttgen? Der Stimmungstest in der Fraktion

Wer soll CDU-Chef werden? Das haben wir die Christdemokraten im Bundestag gefragt.

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Veröffentlicht von Rasmus BuchsteinerMichael Bröcker .

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Der gestrige 1. Advent war der Beginn einer denkwürdigen Weihnachtszeit. Der Staat greift mit seinen Abstands- und Versammlungsregeln erstmals seit Gründung der Bundesrepublik tief in das familiäre Geschehen und die religiösen Rituale ein. Gefühle von Einsamkeit und auch von Hoffnungslosigkeit haben sich bei etlichen Mitbürgern eingenistet, weshalb wir dachten, es ist eine gute Idee, mit einem der ranghöheren Vertreter Gottes auf Erden zu sprechen.

Mein Kollege Michael Bröcker hat sich mit dem Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch unterhalten. Hier drei Fragen und Antworten aus einem ungewöhnlichen Gespräch, das nichts beschönigt und dennoch Hoffnung spendet:

In diesem Jahr sind bereits über 16.000 Deutsche mit oder an Corona gestorben. Da stellt sich auch die Frage, wieso Gott so etwas zulässt. Manche Gläubige sprechen sogar von einer gerechtfertigte Strafe der Natur am Menschen. Was sagen Sie dazu?

Erzbischof Dr. Heiner Koch: „Strafe setzt voraus, dass jemand etwas ganz bewusst tut. Das sehe ich bei der Natur nicht. Aber dass die Natur auch lebensfeindliche Akzente setzt, dass es in der Natur auch den Tod gibt, das ist völlig klar. Das allerdings würde ich nicht als Strafe bezeichnen. Und schon gar nicht kann ich dieses Wort “Strafe” auf Gott beziehen. Das widerspricht dem Gottesbild des christlichen Glaubens.

Die Einsamkeit, die jetzt gerade viele ältere Menschen erleben müssen, ist wahrscheinlich die größte soziale Folter. Hat die Politik zu spät darauf geschaut?

„Gerade in einer Großstadt wie Berlin, in der ich lebe, ist offenkundig, wie man mitten unter den Menschen einsam sein kann, also mitten in der Masse der Menschen verloren sein kann. Das wird in solchen Zeiten besonders deutlich. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass gottlob vieles an Solidarität, an Gemeinschaft positiv sich entfaltet hat: die Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit. Das Schlimmste ist, wenn Menschen den Eindruck haben, sie sind aus dem Blick geraten.“

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Markus Söder hat mit einem drastischen Vergleich versucht, die Menschen zur Ernsthaftigkeit zu bewegen: Die Pandemie mit ihren täglichen Todeszahlen sei wie ein täglicher Flugzeugabsturz. Hilft so etwas, um die Dramatik zu verdeutlichen?

“Zu viele dramatischste Bilder führen dazu, dass die Menschen sagen: Das stimmt jetzt nicht mehr. Beispielsweise mit Corona sterben ist eben etwas anderes als an Corona sterben. Das sollte man auch intellektuell-differenziert darstellen. Dann gewinnt man mehr die Menschen. Die Leute haben Angst vor einem Kontrollverlust. Jetzt redet der Staat überall rein, selbst, wie wir Weihnachten feiern, wen wir einladen. Da kommt eine Aggressivität raus. Da muss man sehr klug und einfühlsam reden und natürlich die Einzelmaßnahmen auch bedenken. Das geht über Argumente und über Verständnis besser als über panische Bilder.“

Das gesamte Gespräch hören Sie im Morning Briefing Podcast. Prädikat: erhellend und tröstlich.

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in die neue Woche. Es grüßt Sie herzlichst

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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