VW: Machtverlust für Herbert Diess

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Guten Morgen,

VW-Konzernchef Herbert Diess hat viele Ideen, aber zu wenige Freunde. Ihm fehlt es nicht an Durchsetzungswillen, aber seit gestern an Durchsetzungskraft. Der Aufsichtsrat hat dem bis dahin mächtigsten Mann der deutschen Automobilindustrie den Stecker gezogen. Der Vertrag von Herbert Diess läuft noch, aber nur noch mit Notstromaggregat.

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Zwei Jahre nach seinem Antritt als Vorstandsvorsitzender haben sich alle gegen ihn verschworen. Herbert Diess scheiterte nicht an seiner Strategie, die auf Digitalisierung und Elektrifizierung der Flotte setzt, sondern an Tempo, Tonalität und Temperament.

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Schon im Vorfeld der gestrigen Aufsichtsratssitzung forderte die IG-Metall, vertreten durch ihren Ersten Vorsitzenden Jörg Hofmann und VW-Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh, seine Ablösung. Die mächtigen Arbeitnehmervertreter, die indirekt auch das Land Niedersachsen und den dortigen SPD-Ministerpräsidenten unter Druck setzen können, haben mit dem Kapitel Diess abgeschlossen.

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Das sind die nüchternen Fakten eines dramatischen Tages in Wolfsburg:

► Diess muss die Führung der Kernmarke Volkswagen abgeben.

► Sein Nachfolger ist der bisherige Co-Geschäftsführer Ralf Brandstätter.

► Künftig kümmert sich Diess primär um die Leitung der ganzen Volkswagen-Gruppe.

Eine Infografik mit dem Titel: Die E-Wende lässt auf sich warten

Anteil der Elektrofahrzeuge an Gesamtauslieferungen des VW-Konzerns in 2019

Der Druck auf Diess hatte in den vergangenen Wochen zugenommen. Es ging um anhaltende Schwierigkeiten in der Produktion des Golf 8 und beim neuen E-Auto ID.3.

Hinzu kam die Unglaublichkeit eines rassistischen Golf-Werbevideos im Internet. Diess hatte es nicht zu verantworten. Aber er hat es eben auch nicht verhindern können.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Diess-Bilanz

Aktienkurs seit Amtsantritt als Volkswagen-CEO am 13. April 2018, in Euro

Auch im persönlichen Umgang mit den Mächtigen der Republik und des Konzerns hat Herbert Diess Fehler gemacht:

Die Bundeskanzlerin beispielsweise ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Seine wiederholte Forderung nach einer Abwrackprämie 2.0 nahm sie ihm übel. Sie empfand das als Versuch, Druck auf ihre Entscheidung auszuüben. Und genau so hat sie es Herbert Diess auch mitgeteilt.

SPD-Ministerpräsident Stephan Weil hätte sich den VW-Chef auf dem politischen Parkett ebenfalls diplomatischer gewünscht. In der Staatskanzlei von Hannover ist man der Meinung: Diess hat die Abwrackprämie mit seinem forschen Vorgehen vergeigt.

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Zwischen Finanzvorstand Frank Witter und Diess stimmte die Chemie ebenfalls nicht. Der Mann gilt in Wolfsburg als VW-Urgestein und wird im kommenden Jahr den Konzern verlassen. Kommissarisch soll er bis dahin die Geschäfte von Einkaufsvorstand Sommer übernehmen.

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Die Funkfrequenz zwischen Diess und seinem Nachfolger Brandstätter ist ebenfalls eher ein Wackelkontakt. Brandstätter war bisher der zweite Mann hinter Diess bei der Marke VW.

Eine Infografik mit dem Titel: Globaler Akteur

Ausgelieferte Fahrzeuge des VW-Konzerns im Jahr 2019 nach Region, in Millionen

Auch bei der zweiten und dritten Führungsebene hat sich Herbert Diess durch sein aufbrausendes Temperament und sein hohes Tempo unbeliebt gemacht. Als er bei einer Führungskräftetagung nichts Geringeres als eine Revolution im Traditionskonzern forderte, fühlten sich viele Manager brüskiert. Diess damals:

Wenn dieses Unternehmen kein Industriedenkmal werden soll, dann müssen Sie die Denkmäler des Alltags beiseite räumen.

Der Sturm geht jetzt erst los.

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Wir haben Herbert Diess damals im Morning Briefing als Che Guevara von Wolfsburg gezeigt und seinen Mut zum Umsturz gelobt. Doch Wolfsburg mag keine Revolutionäre.

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Auch der wahre Che fiel seinem revolutionären Drang zum Opfer und wurde am 9. Oktober 1967 exekutiert. Ganz so schlimm wird es Diess nicht ergehen. Die Kugel für Vorstandsvorsitzende heißt Abfindung. Sie beendet nicht den Schmerz von Machtverlust und Trennung, aber sie lindert ihn.

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Die Vorgänge in Wolfsburg erhöhen die Neugier auf den neuen Mann bei BMW. Am vergangenen Freitag – die Unruhe beim Konkurrenten war bekannt, die Konsequenz noch nicht – war BMW-Chef Oliver Zipse zu Gast an Bord der Pioneer One. Meinem Kollegen Gordon Repinski hat er erklärt, was er vom Corona-Konjunkturpaket hält, wieso ihn der Börsenkurs von Tesla irritiert, und wie er sein Unternehmen durch die Wirtschaftskrise steuern will. Zu den Spekulationen über Personalabbau sagt er:

Bis 2021 haben wir einen Anpassungsbedarf von 6000 Mitarbeitern, die wir aber über Nichtersatz von Fluktuation oder aber über freiwillige Regelungen versuchen, abzubauen. Wir reden in keinster Weise von Kündigungen, in keinster Weise.

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Dass die Autobranche keine Verbrennerprämie im Konjunkturprogramm durchsetzen konnte, sei schade – aber verkraftbar:

Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass eine explizite Förderung von hochmodernen, innovativen Verbrennern Berücksichtigung findet. Aber es ist jetzt kein Desaster für uns.

Zipse glaubt nicht, dass sich das Loch, das die Corona-Krise in die Wirtschaft gerissen hat, allein mit Milliardensummen zuschütten lässt. Auf unternehmerisches Geschick komme es an:

Allein ein Konjunkturpaket wird diese Probleme niemals lösen können. Insofern ist es unsere unternehmerische Aufgabe, über Begeisterung, über sehr gute und überzeugende Produkte aus dieser Situation wieder rauszukommen.

In der Produktpalette von BMW sollen E-Autos in den kommenden Jahren ihren festen Platz haben.

Wir wollen bis Ende 2021 bereits ein Viertel unserer Fahrzeuge elektrifiziert haben, 2023 bis 2025 etwa ein Drittel und bis 2030 die Hälfte unserer gesamten Flotte.

Fazit: Hier stellt sich ein Mann vor, der Selbstbewusstsein in der Sache mit Bescheidenheit im Auftritt verbindet. Das zumindest erhöht seine Überlebenschance in einer Automobilindustrie, der unruhige Zeiten bevorstehen.

Deutschlands Ökonomen stellen sich in diesen Tagen ein Armutszeugnis aus. Viele glauben, es sei in dieser schwierigen Situation ihre staatsbürgerliche Pflicht, der Regierung zuzustimmen und deren Konjunkturprogramm mit optimistischen Prognosen zu flankieren.

Doch wer es wissen will, weiß es besser. Das Programm mit einer 20-Milliarden-Mehrwertsteuersenkung im Zentrum setzt an der falschen Stelle an. Deutschland leidet nicht an mangelnder Konsumenten-Nachfrage, sondern an einer staatlich gewollten Angebotsverknappung.

Gegen reduzierte Öffnungszeiten, gekappte Verkaufsflächen, maskenhafte Einkaufserlebnisse, Verbote für diverse Dienstleistungen und Restriktionen im internationalen Waren- und Reiseverkehr kann kein Verbraucher ankonsumieren. Die beabsichtigte Mehrwertsteuersenkung ist daher die größte Geldverschwendung seit Erfindung des Wortes Geldverschwendung.

Eine Infografik mit dem Titel: Das Konjunkturpaket

Die zehn größten Posten, in Milliarden Euro

In den Zahlen, die jedermann auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaft ablesen kann, ist die staatlich induzierte Angebotsreduktion deutlich zu sehen:

► Die Industrieproduktion ist im April gegenüber dem Vorjahr um 25,3 Prozent eingebrochen.

► Die Flotte der Lufthansa befindet sich nach wie vor größtenteils am Boden.

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Studien zeigen, dass eine befristete Mehrwertsteuersenkung entweder zur Gewinnmitnahme im Handel führt oder unmittelbar nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer wieder durch Kaufzurückhaltung kompensiert wird. Das Geld ist weg ohne nachweisbare Stimulanz der Volkswirtschaft.

Was tun? Der Staat muss die Wirtschaft wieder in die Lage versetzen, dem kaufwilligen und finanziell auch kauffähigen Publikum ein Angebot zu unterbreiten. Eine präzise, zügige und wirkungsvolle Wiederöffnungsstrategie für die Flughäfen, die Messeveranstalter, die Reisebüros, den Einzelhandel, die Fußballstadien und Jahrmärkte ist notwendig. Weltweit. Eine Erleichterung von Zukunftsinvestitionen wäre hilfreich. Und wenn das alles aus medizinischen Gründen derzeit nicht machbar ist, dann hilft noch immer keine Steuersenkung. Dann muss die Regierung in aller Ernsthaftigkeit um Verständnis werben.

Im Moment setzt die Regierung das Steuergeld wie eine Droge ein. Sie will Ängste wegspritzen. Sie will die psychologische Stimmung im Lande aufhellen. Sie will dem Volk die Schmerzen einer tiefen Rezession nehmen.

Aber dieses Unterfangen ist gleichermaßen teuer wie wirkungslos. Es wird enden wie jeder Drogenexzess: mit dem kalten Entzug und dem Verlust von Lebensenergie. Möge der Deutsche Bundestag als souveräner Inhaber des Budgetrechts der Regierung in die Arme fallen. Vielleicht besinnen sich auch Deutschlands Top-Ökonomen noch. Sie werden als Experten, nicht als Jubelperser der Kanzlerin gebraucht. Oder um es mit Hannah Arendt zu sagen: „Kein Mensch hat das Recht, zu gehorchen.

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Im Hauptstadt-Newsletter von ThePioneer geht es ebenfalls um das Konjunkturpaket, konkret: die Senkung der EEG-Umlage. Das Bundesfinanzministerium beziffert die Kosten für die Entlastung auf elf Milliarden Euro. Doch die Stromwirtschaft ist unzufrieden – hier die Gründe.

Außerdem im Hauptstadt-Newsletter:

► Der Inselstaat Malta hat die Innen- und Justizminister der EU um Hilfe bei der Bewältigung eines neuen Flüchtlingsandrangs gebeten. Das geht aus einem Protokoll des Auswärtigen Amts zu einer Videokonferenz der EU- und US-Innenminister hervor, das uns vorliegt.

► Bei der geplanten Reform eines Steuerschlupflochs kommt die Große Koalition nicht voran. Grund dafür ist nicht zuletzt die Union, deren Wirtschaftsflügel nach unseren Informationen bremst, um eine Neuregelung insgesamt zu verzögern.

Alev Dogan © ThePioneer

► Heute Abend können Sie bei Phoenix unsere ThePioneer-Reporterin Alev Doğan live erleben. Um 22.15 Uhr gehts los. Das Thema: „Sind in Deutschland alle gleich?“

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Ein Meinungsbeitrag hat in der Redaktion der „New York Times“ eine mittlere Revolte ausgelöst. Nun kostete sie James Bennet, dem Ressortleiter für die Meinungsseiten, sogar den Job. Unter dem Titel „Schickt das Militär“ hatte der US-Senator Tom Cotton einen massiven Militäreinsatz gegen Demonstranten gefordert, von denen hunderttausende in den vergangenen Wochen gegen Polizeigewalt und Rassismus protestierten. Er schrieb:

In normalen Zeiten können die örtlichen Strafverfolgungsbehörden die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Aber in seltenen Momenten, wie dem unseren heute, ist mehr nötig, auch wenn viele Politiker es vorziehen, sich an den Händen zu halten, während das Land brennt.

Rund 800 Beschäftigte der Tageszeitung unterzeichneten daraufhin eine Petition, in der sie gegen die Veröffentlichung des markigen Beitrags protestierten. Bennet verteidigte seine Entscheidung zunächst und sagte, die Zeitung müsse auf ihren Meinungsseiten weltanschauliche Vielfalt widerspiegeln. Als er am Ende zugeben musste, den Beitrag vor der Veröffentlichung gar nicht gelesen zu haben, kündigte er fristlos.

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Erstens. Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil über eine Klage der AfD gegen Innenminister Horst Seehofer. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur hatte Seehofer im September 2018 das Verhalten der AfD-Bundestagsfraktion gegenüber dem Bundespräsidenten als „staatszersetzend“ bezeichnet.

Zweitens. Gut zwei Wochen nach seinem Tod bei einem brutalen Polizeieinsatz wird der Afroamerikaner George Floyd in Pearland bei Houston beigesetzt.

Drittens. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes legt ihren Jahresbericht vor. Er listet auf, in wie vielen Fällen im vergangenen Jahr sich Menschen an das Beratungsteam der Stelle gewandt haben, weil sie aus rassistischen Gründen, wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder der Religion diskriminiert wurden.

Viertens. Die umstrittene Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in Polen befasst sich mit der möglichen Aufhebung der Immunität eines regierungskritischen Richters. Igor Tuleya ist einer der prominentesten Kritiker der Justizreformen.

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Fünftens. Nach der kompletten Schließung der preußischen Schlösser in Brandenburg und Berlin werden die Herrscherhäuser in Sanssouci wieder geöffnet. Der Alte Fritz und sein philosophischer Begleiter Voltaire freuen sich nach den Wochen der Stille bereits auf Ihren Besuch.

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in den neuen Tag. Herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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