Wahl ‘21: Das Repräsentationsdefizit

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Guten Morgen,

der bisherige Bundestagswahlkampf ist geprägt durch biografische Banalitäten, Szenen ungehöriger Fröhlichkeit und die vorsätzliche Verengung auf ein einziges Thema: Klima, Klima, Klima.

Ausweislich aller Umfragen sind die Sorgen, Ängste und Hoffnungen von Millionen Bürgern deutlich differenzierter und umfassender. Aber der Parteienstaat zeigt keine Reaktion. Wir erleben in Deutschland das, was die Soziologen ein „Repräsentationsdefizit“ nennen: Stell dir vor, es herrscht Demokratie und du findest nicht statt:

  • Viele Unternehmer, Führungskräfte und Studenten spüren sehr genau, dass die Industriegesellschaft im Nebel der Geschichte verschwindet. Deutschland wird von den amerikanischen und asiatischen Hightech-Konzernen regelrecht deklassiert. Und kein Spitzenkandidat scheint sich dafür zu interessieren. „Die Parteien“, sagt Forsa-Chef Prof. Manfred Güllner, „rennen den Modetorheiten hinterher.“

Manfred Güllner © imago
  • Das Bildungssystem implodiert vor sich hin. Eine große Idee – Bildung für alle – wartet darauf, zeitgemäß interpretiert zu werden. Doch wieder entscheidet Herkunft über Zukunft.

  • Die Mobilität von morgen hat den Weg von den Schlagzeilen der Zeitungen auf die Straße noch nicht gefunden. Der Staat scheitert an der Komplexität der Aufgabe. Die Bahn ist das trostloseste Unternehmen des Landes. Das schnelle Internet gibt es nur in den Wahlprogrammen. Nicht die Opposition, der Alltag dementiert die Politiker.

Eine Infografik mit dem Titel: Corona dominiert Klima

Antworten auf die Frage: Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland? In Prozent

  • Die Zuwanderung endet noch immer viel zu häufig an den Ausgabeschaltern des Sozialstaates. Im unteren Drittel der Gesellschaft, da wo die kulturellen Gegensätze aufeinanderprallen und Lohnkonkurrenz herrscht, brodelt es. Hier werden die AfD-Wähler regelrecht gezüchtet. „Die SPD“, sagt Güllner, „hat die arbeitenden Menschen heimatlos gemacht.“

  • Europa! Nur die Kleinstpartei Volt träumt von der „europäischen Republik“. Aber wovon träumen eigentlich die anderen Parteien, wenn nicht davon, diesen bunten, vielsprachigen Kontinent zu einem starken Wirtschafts- und Lebensraum zu vereinen, der sich dann auch militärisch selbst verteidigen kann?

  • Selbst die Klimapolitik wird auf irreale Ziele verengt: Deutschland hat zwischen 1990 und 2019 die klimaschädlichen Emissionen um ein Drittel reduziert. In fast 30 Jahren. Auch Dank der Abschaltung der DDR-Industrie. Nun soll der Ausstoß von Treibhausgasen im Vergleich zu 1990 binnen neun Jahren – also bis 2030 – um weitere 50 Prozent sinken – ohne, dass eine zweite DDR dabei hilft. Die meisten Experten wissen: Das ist irreal.

Eine Infografik mit dem Titel: Klima gewinnt – aber nur langsam

Antworten auf die Frage, wie viel Prozent der Deutschen Umwelt- und Klimaschutz auf den Positionen 1 und 2 ihrer politischen Agenda sehen

Fazit: Dieser Bundestagswahlkampf hat in Wahrheit noch gar nicht begonnen. Überall nur Zähl-, aber keine wirklichen Spitzenkandidaten. Viel Pose, wenig Politik. „Die Parteien haben es verlernt, die Heterogenität zu beachten und eine Klammer zu finden“, sagt Prof. Güllner. Das spüren immer mehr Menschen. Oder wie Kurt Tucholsky sich ausdrückte:

Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.

Commerzbank-Chef Manfred Knof © dpa

Die Commerzbank rutscht immer tiefer in die roten Zahlen. Im zweiten Quartal fiel ein Konzernverlust von 527 Millionen Euro an, nachdem das Geldhaus im Vorjahreszeitraum einen Gewinn von 183 Millionen erzielte. Analysten hatten im Vorfeld einen Fehlbetrag von 504 Millionen Euro erwartet.

Eine Infografik mit dem Titel: Geschrumpfte Commerzbank

Börsenwert der Commerzbank zu ihrem Höchststand 2007 und am 4. August 2021, in Milliarden Euro

Eine Infografik mit dem Titel: Das Scheitern der Commerzbank

Kursentwicklung der Commerzbank-Aktie seit dem 2.1.2006, in Euro

Der Verlust resultiert vor allem aus dem Umbau der Bank: Für die Restrukturierungsaufwendungen fielen Kosten in Höhe von 511 Millionen Euro an. Zudem stellte das Geldhaus wegen eines kundenfreundlichen Urteils des Bundesgerichtshofs zu den Bankgebühren 66 Millionen Euro zurück und schrieb wegen eines geplatzten IT-Projekts 200 Millionen Euro ab.

Der Vorstandsvorsitzende der Commerzbank, Manfred Knof, sagte das, was man so sagt, wenn es nicht gut läuft:

Die Umsetzung der Strategie ist voll auf Kurs.

Fazit: Die Commerzbank hat in der Selbstständigkeit keine Chance zu überleben. Wenn Vorstand und Aufsichtsrat dem Institut noch einen letzten Dienst erweisen wollen, suchen sie einen europäischen Aufkäufer.

Christian Sewing © dpa

Das es auch anders geht, zeigt die Bank um die Ecke: Die Ratingagentur Moody’s stufte die Kreditwürdigkeit der Deutschen Bank gestern Abend nach oben – von bislang „A3“ auf „A2“ beim sogenannten Gegenpartei-Rating (Counterparty Rating) und beim Rating für langfristige Einlagen (Long-Term Deposit Rating). Plus: Der Ausblick für eine weitere Anhebung des Ratings bleibt positiv.

Die Bonitätsnoten großer Ratingagenturen sind wichtig für die Geldbeschaffungskosten und das Vertrauen der institutionellen Investoren. Im Investmentbanking gelten schlechte Bonitätseinstufungen als besonders hinderlich. Mit Wackelkandidaten macht man keine Geschäfte.

Fazit: Ein weiterer Etappensieg für CEO Christian Sewing. Auch die BaFin freut sich. Eine stabile Deutsche Bank ist das Fundament des hiesigen Finanzplatzes.

Hubert Aiwanger und Markus Söder © picture alliance/dpa

In Bayern bewegt sich die politische Tektonik. Die CSU-Freie Wähler-Regierung wankt, seitdem der Vize-Ministerpräsident und Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger sich als Impfverweigerer geoutet hat.

Nun wittert die FDP ihre Chance. Die Liberalen, mit elf Abgeordneten im Landtag vertreten, befinden sich bereits in Gesprächen mit Übertritts- und abwanderungswilligen Landtagsabgeordneten der Freien Wähler, um sich Söder als Koalitionspartner anzudienen. Acht Überläufer bräuchte die FDP von den 27 FW-Abgeordneten, dann könnte die FDP mit der CSU in eine Koalition eintreten.

Martin Hagen © Imago

In einem internen Strategiepapier des Fraktionsvorsitzenden Martin Hagen, das unserem Hauptstadt-Team vorliegt, ist dies keine völlig unrealistische Option. Darin heißt es:

Ein Bündnis aus CSU und FDP hätte im Landtag derzeit keine Mehrheit. Allerdings gibt es Hinweise, dass sich mehrere (auch hochrangige) Abgeordnete vom liberalen Flügel der Freien Wähler einen Wechsel zur FDP vorstellen könnten. Die Kapriolen Aiwangers führen innerhalb der ohnehin sehr heterogenen Freien Wähler zu großem Unmut.

Die Wahrscheinlichkeit bewertet der selbstbewusste FDP-Fraktionschef als „nicht ausgeschlossen“. Weiter heißt es:

Wir intensivieren unsere (ohnehin guten) informellen Kontakte zum liberalen Flügel der FW-Fraktion und analysieren, welche FW-Abgeordneten inhaltlich zu uns passen würden.

Falls der Unmut über Aiwanger in den eigenen Reihen zu groß wird, könnte es sehr schnell gehen.

Fazit: Die bayerische FDP-Fraktion besitzt keine Ämter, aber sie besitzt Fantasie.

Isabell Werth auf Bella Rose © dpa

Isabell Werth ist die erfolgreichste Reitsportlerin aller Zeiten. Weder Boris Becker, noch Cristiano Ronaldo oder Michael Schumacher konnten in ihrer jeweiligen Sportart mehr Erfolge über einen längeren Zeitraum erzielen als die heute 52-jährige Dressurreiterin.

Sie ist siebenfache Olympiasiegerin, neunfache Weltmeisterin, zwanzigfache Europameisterin und vierzehnfache Deutsche Meisterin. Frisch aus Tokio zurückgekehrt, spreche ich mit ihr im heutigen Morning Briefing-Podcast über ihr Verhältnis zu Pferden und zu Politikern.

Isabell Werth: Gold in Tokio © dpa

Für ihr Olympiapferd Bella Rose, das unverkäuflich ist und demnächst zur Zucht eingesetzt werden soll, findet sie einfühlsame Worte:

Das ist eine Liebesbeziehung.

Der Reiter formt das Pferd, heißt es in den Lehrbüchern des Reitsports. Werth widerspricht:

Im Laufe der Zeit hat man gelernt, dass nicht nur der Reiter das Pferd formt. Es handelt sich um ein gegenseitiges Formen.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page

Sie trauert jetzt schon der amtierenden Bundeskanzlerin nach:

Angela Merkel war eine feste Größe und eine Frau, die in Wind und Sturm standgehalten hat. Da haben die Nachfolger große Fußstapfen auszufüllen.

Als Nachfolger hat sie den Mann aus Düsseldorf ins Auge gefasst:

Ich glaube, dass Herr Laschet am ehesten geeignet ist und ich hoffe auch, dass er es wird. Aber ich hoffe, dass die Ernsthaftigkeit der Lage dann auch angegangen wird.

Der lachende Laschet inmitten der Flutkatastrophe hat sie auch in Tokio erreicht und geschockt:

Ich fand das extrem unpassend und unmöglich.

Fazit: Hier spricht die Spitzensportlerin, Unternehmerin und Bürgerin Isabell Werth: Goldmedaille für Klartext.

Internet of Things: Hat Corona dem Internet der Dinge zusätzlichen Schub verliehen? Der Tech Briefing-Podcast geht der Frage auf den Grund.

Sicherheitspolitik: Mit Blick auf die äußere Sicherheitslage Deutschlands fehle das Gefahrenbewusstsein, sagt Armin Papperger, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.

Künstliche Intelligenz: Tierwohl, Biodiversität, CO2-Reduktion – die Landwirtschaft benötigt eine Transformation. Doch ist Künstliche Intelligenz dabei Teil der Lösung oder vielleicht sogar Teil des Problems? Prof. Joachim Hertzberg vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) analysiert das Für und Wider.

Sigmar Gabriel © Anne Hufnagl

Das Ende der Ära Merkel fällt zusammen mit dem Ende der transatlantischen Dominanz in der Welt. Was das für Deutschland bedeutet, analysiert Merkels ehemaliger SPD-Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel im heutigen „Tagesspiegel“:

Wer noch einmal einen Eindruck von der Professionalität der Kanzlerin gewinnen will, findet ihn in ihrem zugleich mitfühlenden wie auch angemessen ernsten Auftreten in den Katastrophengebieten der Flut. Wo andere wie aufgescheucht durch die Kulisse stolpern, setzt sie auf die Kraft der eigenen Argumente und auf Beharrlichkeit. Vermutlich ist es das, was wir vermissen werden.

Angela Merkel © dpa

Doch Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn ihm die mangelnde Zukunftsfähigkeit des Modells Merkel nicht aufgefallen wäre:

Unsere beschauliche Gesellschaft und unsere staatlichen Institutionen haben sich mental nicht auf die großen globalen ‚Schocks‘ eingestellt, die in den nächsten Jahren auch Deutschlands Regierungspolitik prägen werden.

Nicht weniger als 600 Jahre Dominanz europäischer Ideen in der Weltgeschichte sind unwiederbringlich zu Ende gegangen. Nicht mehr der Atlantik ist das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Indopazifik.

Sein Fazit:

Es ist nicht ganz klar, ob sie ihren Spitznamen ‚Mutti‘ mag oder nicht, aber die Rolle einer Mutter, die ‚ihre Kinder‘ vor den Unbilden der Welt schützen will, hat Merkel tatsächlich gespielt. Diese Ära geht nun zu Ende.

Goldman Sachs © iStock

Noch im März beklagten sich die Nachwuchs-Banker von Goldman Sachs über die hohe Arbeitsbelastung im Unternehmen. 95 Stunden pro Woche und mehr sind die Regel. Der Frust darüber, vor allem die Angst der Banker vor Burn-out, machte weltweit Schlagzeilen. Nun hat Goldman Sachs eine Lösung gefunden, die nicht im Sinne der Work-Life-Balance ausfiel, wohl aber im Sinne der Anteilseigner:

Statt Reduzierung der Arbeitszeit soll eine Erhöhung des Einstiegsgehalts die Wogen glätten: 110.000 US-Dollar an Stelle der bisherigen 85.000 pro Jahr gibt es künftig – natürlich zuzüglich Boni für diejenigen, die sich besonders reinhängen. Damit ist die Überlastung nicht weg, aber sie schimmert jetzt golden. Alles kann man im fortgeschrittenen Kapitalismus kaufen – nun endlich auch einen Burn-out.

Lloyd Blankfein

Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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