Flutkatastrophe: Stunde der Realpolitik

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 © dpa

Guten Morgen,

als die Welt sich vor dem atomaren Wettrüsten fürchtete, erlebte der Pazifismus in Deutschland seine Blütezeit. „Frieden schaffen ohne Waffen“, stand auf den Plakaten der Aktivisten.

Als die Welt sich vor der Klimakatastrophe fürchtete, ertönte in Deutschland der Ruf nach einer CO2-freien, also klimaneutralen, Produktions- und Lebensweise. „Kurzstrecken-Flüge nur für Insekten“ stand neulich auf dem Plakat eines Klimaaktivisten.

Die Angst vor dem Atomtod führte – nachdem die pazifistischen Gefühle sich in einer Welt der Blockkonfrontation als utopisch erwiesen hatten – zu einer Realpolitik der Rüstungskontrolle und der atomaren Abrüstung. Die Gefahr wurde weder geleugnet, noch beseitigt. Aber sie wurde durch eine Generation von Abrüstungspolitikern beherrschbar gemacht.

Die realpolitische Antwort auf die Klimakrise steht noch aus. Das bisherige Ziel jedenfalls, einen Klimawandel historischen Ausmaßes binnen weniger Jahre ungeschehen oder gar rückgängig machen zu wollen, mutet surreal an: Einen Klimawandel, der in der fossil betriebenen Industrialisierung aller Produktionsprozesse bei gleichzeitiger Multiplizierung der Erdbevölkerung seine Ursachen hat.

Braunkohlekraftwerk © dpa

Die Dekarbonisierung der Produktion im globalen Maßstab ist ein Jahrhundertprojekt. Deshalb wäre kurzfristig nicht das Verhindern, sondern die Beherrschbar-Machung des Klimawandels das realpolitische Gebot der Stunde. Wenn wir Deutsche schon die Kipppunkte des globalen Klimas nicht beeinflussen können, so doch wenigstens das Wegkippen von Menschen hierzulande.

Angela Merkel © dpa

Die Wucht des internationalen Klimawandels darf jedenfalls keine Ausrede sein für eine unterlassene Hilfeleistung im Inland. Deutschland braucht jetzt keine klimapolitische Polarisierung. Deutschland braucht jetzt eine kühl kalkulierende Realpolitik:

  • An die Stelle des politischen Alarmismus tritt ein funktionierendes Frühwarnsystem für die Bevölkerung.

  • Ein leistungsfähiger Katastrophenschutz kann zwar das extreme Wetter nicht verhindern, wohl aber das Abrutschen ganzer Dorfteile.

  • Der Schutz der Wohngebiete beginnt nicht am Tag der Katastrophe, sondern mit dem Raumordnungsverfahren und später dem Bebauungsplan.

  • Auch die Bauwirtschaft und die Hersteller von Fertighäusern müssen umdenken: Das Haus modernen Typs wird von Extremwetterlagen nicht mehr überrascht, sondern nur noch getestet.

  • Die Agrarwirtschaft muss mit staatlicher Hilfe in die Lage versetzt werden, ihren Tierbestand vor dem massenhaften Tod durch Extremwetter schützen zu können.

  • Die Versicherungswirtschaft muss Policen berechnen und anbieten, die beim Verlust von Haus und Hof vor Verelendung schützen.

  • Womöglich muss aber auch der Staat dem Schutz vor dem Extremwetter-Risiko mit einer fünften Sozialversicherung Rechnung tragen. Wenn das Extremwetter tatsächlich die neue Geißel der Menschheit sein sollte, muss nach der kollektiven Risikoabwehr bei Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflege auch hier neu gedacht werden.

Fazit: Der Realpolitiker bekämpft eine widrige Wirklichkeit, in dem er sie als Wirklichkeit anerkennt. Er flüchtet nicht in eine ökologische Dystopie, sondern fragt, was er im Hier und Jetzt tun kann. Er tut, was die Menschen auf den nordfriesischen Inseln seit Jahrhunderten mit stoischer Kraft und sensationellem Erfolg tun: Sie bekämpfen nicht die Nordsee. Sie bauen Deiche.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Hitparade der Klimasünder

Die acht größten CO2-emittiernden Länder nach Anteil an weltweiten CO2-Emissionen sowie der Rest der Welt 2019, in Prozent

Armin Laschet © dpa

Nun hat auch Armin Laschet seinen ersten Wahlkampf-Fehltritt. Er hat gelacht, wo man nicht lachen durfte. Er war gefühllos, wo es auf Anteilnahme ankam. Er war Karnevalist, wo Kanzlerformat gefragt war. Laschet hat sich dafür entschuldigt, aber die Bilder vom feixenden Landesvater sind toxisch für einen, der sich um die Merkel-Nachfolge bewirbt. Einen ganzen Wahlkampf werden sie nicht vergiften können. Aber der Nachgeschmack, den sie hinterlassen, bleibt bitter.

Hochwasser-Katastrophe © dpa

Die Frage, wer hat wann wie gewarnt oder warum eben nicht, rückt ins Zentrum der politischen Debatte. Fest steht:

  • Am 11. Juli warnte der private Wetterdienst Kachelmannwetter vor Starkregen, Hochwasser und Überflutungen in Westdeutschland.

  • Am 13. Juli schickte der Deutsche Wetterdienst eine „Amtliche Gefahrenmeldung“.

  • Das European Flood Awareness System (EFAS) warnte am selben Tag vor „extremen“ Überflutungen.

Doch die Umsetzung dieser Warnungen in wirkungsvolle politische und mediale Aktivitäten unterblieb:

  • Im Magazin „Politico“ spricht die EFAS-Hydrologin Hannah Cloke nun von einem „monumentalen Versagen“ des Warnsystems.

Eine Infografik mit dem Titel: Kostspielige Katastrophen

Teuerste Naturkatastrophen für die Sach- und Kraftfahrtversicherung in Deutschland von 2002-2019 nach Schadensaufwand, in Milliarden Euro

  • Nach der Wiedervereinigung 1990 und dem damit einhergehenden Ende des Kalten Krieges wurde der Katastrophenschutz in Deutschland zurückgefahren. 2000 löste man das Bundesamt für Zivilschutz auf und versetzte unter anderem rund 200 Notfallhospitäler in den Ruhestand. 2004 kam die Kehrtwende: Der Bund schuf das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, jedoch deutlich kläglicher ausgestattet als sein Vorgänger.

  • Auch die Reaktion auf Warnungen vor einer Sturmflut wird den lokalen Behörden überlassen. Manche Kreise und Gemeinden reagieren schnell, andere zu langsam.

  • Das BBK setzt in Ergänzung zu den bestehenden Sirenen auf Warn-Apps, darunter die App Nina. Jedoch werden diese Apps von großen Teilen der Bevölkerung – vor allem älteren Menschen – nicht genutzt.

  • Ein flächendeckendes, zentral gesteuertes Netz von traditionellen mechanischen Sirenen wie in Österreich gibt es nicht mehr. Die Länder organisieren dies eigenständig.

  • Der öffentlich-rechtliche Rundfunk spielt im bundesweiten Warnsystem eigentlich eine wichtige Rolle, doch der WDR – mit einem Jahresetat von 1,2 Milliarden Euro der teuerste Einzelsender in der ARD – stellte erst Donnerstag sein Programm um. „Sich auf den WDR zu verlassen, kann lebensgefährlich sein“, kommentierte der Medienjournalist des Online-Magazins DWDL, Thomas Lückerath.

Eine Infografik mit dem Titel: Milliarden für die Katastrophen

Wirtschaftliche Schäden infolge von Naturkatastrophen in Deutschland seit 1990, in Milliarden Euro

Fazit: Wer seine eigenen Warnungen vor der Klimakatastrophe ernst nimmt, darf den Katastrophenschutz nicht vernachlässigen. Er gehört zu einem ins Praktische erweiterten Begriff von Klimapolitik dazu.

“Sympathy for the devil”

Sigmar Gabriel über die Bedeutung der Außenpolitik

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Veröffentlicht in World Briefing von Sigmar Gabriel .

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Im Gespräch mit dem obersten Katastrophenschützer des Bundes hat mein Kollege ThePioneer-Chefredakteur Michael Bröcker versucht, Klärung herbeizuführen.

Armin Schuster arbeitete für den Bundesgrenzschutz, war Polizeidirektor in Weil am Rhein, stieg im Innenministerium auf, bevor er im Bundestag zu einem der wichtigsten Innenexperten der Union wurde. Seit November 2020 ist er Chef des Bundesamts für Katastrophenschutz und damit das Gesicht der Krise.

Der Umbau des Katastrophenschutzes ist sein Anliegen. Im März dieses Jahres legte er einen Acht-Punkte-Plan vor, wie die Behörde, die kaum eigene Kompetenzen hat und stark unterfinanziert ist, aufgewertet werden könnte. Katastrophenschutz müsste endlich Priorität werden, sagt er.

Das Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz von Bund und Ländern, das im Krisenfall das Ressourcenmanagement für alle Hilfs- und Rettungsmaßnahmen zentral koordinieren könnte, von der Feuerwehr über die Hilfsorganisationen bis zu THW und Bundeswehr, haben die Innenminister der Länder beschlossen, wir müssen es jetzt zügig umsetzen.

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Im Katastrophenfall sei seine Behörde laut Verfassung auf Amtshilfe beschränkt.

Unser Ziel ist es, diese Fälle stärker als Gemeinschaftsaufgabe zu bewältigen. Die nationale Dimension wird allmählich zum Normalfall.

Das zentrale Problem: Die Behörde kann nicht selbst auf den Warnknopf drücken.

Unsere Warninfrastruktur hat einwandfrei funktioniert. Von Mittwoch bis Samstag haben die Rettungsleitstellen der Länder 145 Warnmeldungen abgesetzt, in Richtung Medien und zu unserer Warn-App Nina. Aber wir drücken nicht selbst auf den Warnknopf, um die Bevölkerung zu informieren. In lokalen Krisenfällen wie diesen veröffentlichen die 326 Rettungsleitstellen und die Kreisverwaltungen die Warnmeldungen, die Sirenen werden über die Länder und Kommunen gesteuert.

Seinen Plan für einen besseren Katastrophenschutz und was die Bundesregierung am Mittwoch im Kabinett beschließen will, lesen Sie vorab in Hauptstadt – Das Briefing.

Wie der Bund den Flutopfern helfen will

Die Krisenhilfe aus Bund und Ländern soll mehr als 1 Milliarde Euro betragen.

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Veröffentlicht in Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker Gordon Repinski .

Briefing

  • Stand Sonntagabend sind mindestens 159 Menschen bei dem Unwetter in Deutschland gestorben. In Rheinland-Pfalz starben mindestens 112 Menschen, in Nordrhein-Westfalen mindestens 46 Personen und im Berchtesgadener Land verloren zwei Menschen ihr Leben, wobei bei einer Person die Todesursache noch ungeklärt ist.

  • Finanzminister Olaf Scholz hat eine Soforthilfe von über 300 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Die ersten Zahlungen sollen noch im Juli an Betroffene fließen.

  • Auch Angela Merkel hat bei ihrem Besuch in den betroffenen Gebieten am Sonntag schnelle Hilfe versprochen. In Begleitung der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer versicherte sie, dass der Bund langfristig Hilfe leisten werde.

Angela Merkel und Malu Dreyer © dpa
  • Die Versicherungsbranche kritisiert die mangelnde Ernsthaftigkeit der Politik im Umgang mit den Folgen des Klimawandels. Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sagte der „Welt am Sonntag“, es werde weiter in Überschwemmungsgebieten gebaut und Böden versiegelt:

Hier gilt es, umzusteuern, sonst setzt sich eine Spirale aus weiteren Katastrophen und steigenden Schäden in Gang, die erst teuer und irgendwann unbezahlbar wird.

Er prognostiziert, dass dieses Jahr das schadensträchtigste Jahr seit 2013 werden könnte.

Jörg Asmussen © dpa
Behindertenwohnheim Lebenshilfe-Haus © dpa

Im rheinland-pfälzischen Sinzig spielte sich eine Tragödie ab: In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag starben zwölf Bewohnerinnen und Bewohner einer Lebenshilfe-Behinderteneinrichtung in den Hochwasserfluten. Die hilfsbedürftigen Menschen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren erfuhren keine Hilfe mehr, als sie von den Wassermassen im Erdgeschoss überrascht wurden. Die Hilfseinrichtung, in der es wegen des Stromausfalls stockfinster war, wurde für sie zur Falle.

Es sind Meldungen wie diese, die unsere gedanklichen Routinen durchbrechen, weil sie unterhalb der professionellen Verhärtung einen unsichtbaren Schmerzpunkt berühren. Hanns Dieter Hüsch, der große niederrheinische Liedermacher, kommt einem in den Sinn, der für die Hilflosen ein Lied, fast kann man sagen ein Liebeslied, geschrieben hat:

„Ich sing für die Verrückten

Die seitlich Umgeknickten

Die keiner Weltanschauung nützen

Die jeden Abschied aus der Nähe kennen

Weil sie das Leben Abschied nennen

Die auf den Schiffen sich verdingen

Und mit den Kindern Lieder singen

Die suchen und die niemals finden

Und nachts vom Erdboden verschwinden

Für diese Leute will ich singen

Die sich durchs rohe Dickicht schieben

Vom Wahnsinn wund und krank gerieben

Die durch den Urwald aller Seelen blicken

Den ganzen Schwindel auf dem Rücken

Ich sing für die Verrückten

Die seitlich Umgeknickten

Die eines Tags nach vorne fallen

Und unbemerkt von allen

Sich aus der Schöpfung schleichen

Weil Trost und Kraft nicht reichen

Und einfach die Geschichte überspringen

Für diese Leute will ich singen.“

Hanns Dieter Hüsch (1999) © dpa

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Start in die neue Woche. In Gedanken sind wir bei den Betroffenen in den Katastrophengebieten. Wir trauen um die Toten.

Es grüßt Sie

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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