Wahlkampf: Eiche oder Flachwurzler?

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Guten Morgen,

fest steht: Das biografische Tuning und die schriftstellerische Kopierarbeit haben Annalena Baerbock und den Grünen nicht gutgetan. Die Wahlkampfmaschinerie geriet ins Stottern, die Demoskopen aller Institute melden einen Verfall der Werte.

Auch die Lachszene von Unionsspitzenmann Armin Laschet, vorgetragen im Beisein des ordnungsgemäß trauernden Bundespräsidenten, war keine Hilfe für die CDU. Die Öffentlichkeit reagierte verstört, die CSU hat es schon immer gewusst und Laschets Werte in den Meinungsumfragen zeigen südwärts.

Armin Laschet © dpa

Doch nur Moralisten und Einfaltspinsel ziehen daraus den Schluss, dass der Wahlkampf für die beiden gelaufen sei. Das ist er nicht. Man wünschte, man könnte positiveres über uns Wähler sagen: Aber es gibt nichts kurzfristigeres unter Sonne als das politische Gehirn.

Es absorbiert politische Störgefühle.

Es neutralisiert Negativschwingungen.

Es kann seine depressive Stimmung binnen kürzester Zeit durch eine Sonderausschüttung von Glückshormonen bekämpfen.

Die Psychologen sprechen von der „Regression zur Mitte“.

Kein Politiker der Neuzeit hat Wahlkampftiefpunkte so erfolgreich weggesteckt wie der junge Senator aus Illinois, der 2008 die demokratischen Vorwahlen gegen Hillary Clinton für sich entschied: Barack Hussein Obama. Ausgerechnet den Mann, den er zuvor als seine Vaterfigur bezeichnet hatte, enttarnten die Medien in der entscheidenden Phase des Vorwahlkampfes als Rassisten und Verschwörungstheoretiker.

Jeremiah Wright © dpa

Pastor Jeremiah Wright behauptete damals in seinen Predigten, Aids sei von der US-Regierung zur Auslöschung von Schwarzen erfunden worden und deutete den 11. September als eine Art Strafe für die amerikanische Außenpolitik. Videokameras liefen mit als er schrie:

Gott verdamme Amerika.

Die Medien stürzten sich auf das Thema und den jungen Obama, der plötzlich vielen Weißen als nicht mehr präsidial erschien. Der Kandidat taumelte, aber er fiel nicht. Wenige Monate später gewann er alle entscheidenden Vorwahlen gegen Clinton und trat am 20. Januar 2009 als 44. Präsident der USA vor die Weltöffentlichkeit:

Heute sage ich euch, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, real sind. Sie sind ernst, und es gibt viele von ihnen. Wir werden sie weder mühelos noch in kurzer Zeit bewältigen. Aber das sollst du wissen, Amerika, sie werden bewältigt!

Barack Obama © dpa

Auch Helmut Kohl wusste, wie sich ein Tiefschlag anfühlt, zumal einer, den er sich selbst zugefügt hatte. Ausgerechnet dem Hoffnungsträger der europäischen Geschichte, dem Reformer Michail Gorbatschow, unterstellte der spätere Kanzler der Einheit im Oktober 1986, sich aus dem Arsenal der PR-Tricks von Nazi-Chefpropagandist Joseph Goebbels Inspiration geholt zu haben. Im Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ sagte Kohl über Gorbatschow:

Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations.

Gorbatschow reagierte professionell, bewertete seine politischen Interessen höher als seine persönliche Befindlichkeit. Vier Jahre später verabredete er im Kaukasus mit eben jenem Helmut Kohl, den der Spiegel damals bösartig „Birne“ nannte, den Fahrplan zur späteren Einheit Deutschlands. Helmut Kohl wurde am 25. Januar 1987 mit 44,3 Prozent triumphal wiedergewählt.

Helmut Kohl © dpa

Allerdings: Wahlkämpfe sind immer auch Tests auf die Standfestigkeit des Kandidaten oder der Kandidatin. Peer Steinbrück hat seinen Charaktertest im Jahr 2013 nicht bestanden. Ohne Gefühl für Land und Leute mokiert er sich über Menschen, die billige Weine trinken und zeigte der Nation im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ den Stinkefinger. Er fand es witzig. Die meisten empfanden das als abstoßend.

Die Quittung folgte am Wahlabend: Die SPD fuhr ein Minus von 15,2 Prozent gegenüber den 40,9 Prozent der ersten Schröder-Wahl ein.

Peer Steinbrück  © SZ

Wenn man eines aus den Wahlkämpfen der Vergangenheit für das Jahr 2021 lernen kann, dann wohl dieses: Der Eröffnungsspielzug ist kein vorweggenommenes Finale. Die Medien sind nicht die Scharfrichter der Politiker, nur ihre kritischen Begleiter. Sie spotten, sie enthüllen, sie klagen an. Das Urteil aber fällt der Wähler in voller Souveränität.

Joschka Fischer, der von der Steinewerfer-Enthüllung bis zur Visa-Affäre so manche Krise durchlebte, war das große Stehaufmännchen seiner Zeit. Kaum hatte er all die Sturmwinde überlebt – auch die, bei denen wir „Spiegel“-Leute die Backen mächtig aufgeblasen hatten – begegnete er uns mit versöhnlicher Geste: „Schon in Ordnung!”, sagte er, scheinbar großmütig:

Ihr seid nun mal der Sturm, der die Bäume auf ihre Standfestigkeit testet. Die Eiche bleibt stehen und der Flachwurzler kippt.

Joschka Fischer © dpa
Elon Musk © dpa

Gemessen an den Erwartungen der Analysten waren die Geschäftszahlen von Tesla heute Nacht großartig. Aber das liegt mehr an den Analysten als in den Zahlen selbst. Der Nettogewinn (GAAP) betrug 1,14 Milliarden Dollar. Aber: Allein durch den Verkauf von Emissionsrechten an andere Autobauer nahm Tesla 354 Millionen Dollar ein.

Zum Vergleich: Der Gewinn von Volkswagen pro Quartal ist dreimal höher. Spätestens zum Jahresende dürfte Volkswagen mehr Elektrofahrzeuge verkaufen als der Pionier aus Kalifornien. Die Börsenbewertung von Tesla vs. VW liegt derzeit bei 5:1 und spiegelt damit nicht die Wirklichkeit wider. Die Börsianer sagen: An der Börse wird die Zukunft gehandelt. Die Profis wissen: und manchmal auch die Zeit danach.

Darrell Winfield - Marlboro Man © dpa

Aus den Verkaufsregalen Großbritanniens sollen Zigaretten bis 2030 gänzlich verschwinden. So will es die dortige Politik – und nun auch der weltgrößte Tabakkonzern Philip Morris. CEO Jacek Olczak verkündete in „The Mail on Sunday“, dass seine Firma innerhalb der nächsten zehn Jahre „das Rauchen hinter sich lässt“.

Mit dem Verkauf seiner Marken Marlboro, Chesterfield oder L&M erwirtschaftete Philip Morris im vergangenen Jahr einen Nettoumsatz von 28,7 Milliarden US-Dollar. Eine Milliarde davon entfällt allein auf Großbritannien.

Doch der Konzern ist nicht ins Lager der Caritas gewechselt: Philip Morris-Kunden sollen nicht mit dem Rauchen aufhören, sondern lediglich das Produkt wechseln. Laut Olczak sei zwar die beste Entscheidung weiterhin, das Rauchen sein zu lassen, wer jedoch den Qualm nicht missen möchte, für den „wäre die zweitbeste Wahl, auf eine bessere Alternative umzusteigen.“

Tabakerhitzer IQOS © dpa

Und die kommt direkt aus eigenem Hause: Der Tabakerhitzer IQOS, ein elektronisches Gerät, das in seinem Aussehen das iPhone mit der Zigarette verbindet, verbrennt nicht, sondern erhitzt Tabakkartuschen, die es weiterhin von den vertrauten Philip Morris-Marken zu kaufen gibt. Das Geschäft boomt: Von 7,4 Milliarden verkauften Tabaksticks 2016 schoss der Absatz auf 76 Milliarden im Jahr 2020 in die Höhe.

Fazit: Die Darreichungsform wechselt, der Suchtfaktor bleibt. Der heimliche Pate des Philip Morris-Konzerns ist weiterhin Mark Twain:

Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft.

Miguel Müllenbach © imago

Aus SED wurde PDS; aus PDS wurde Linkspartei. Die VEBA verwandelte sich in E.ON. Die noch junge Telefongesellschaft Alice mutierte zu O2. Und nun sollen auch Karstadt (gegründet 1881) und Kaufhof (gegründet 1879) bald auf dem Friedhof der verstorbenen Marken landen. In einem Neustart wird sich das 2019 fusionierte Unternehmen Galeria Karstadt Kaufhof neu orientieren – und wohl nur noch den Namen Galeria tragen.

Vorstandschef Miguel Müllenbach kündigte im Interview mit dem „Handelsblatt“ an:

Es ist Zeit, dass man auch an der Marke sieht, dass wir jetzt ein Unternehmen sind.

Mit einer Investition von 600 Millionen Euro will Müllenbach bis zu 60 der 131 Kaufhäuser in mehr als nur einen Ort zum Einkaufen verwandeln:

Wir werden mit den Innenstädten verschmelzen und zu einem Wohlfühlstandort werden, an dem die Menschen Lust haben, ihre Freizeit zu verbringen, und ganz unterschiedliche Warengruppen kaufen, Dienstleistungen in Anspruch nehmen und Gastronomie und Kultur genießen können.

Neben Kleidern und Sportschuhen würde Galeria dann auch städtische Bürgerdienste, E-Bike Stationen oder Paketschalter bieten. Der Tod der alten Marke ist zugleich die Geburt einer neuen Zeit. Die wahre Strategie zur Neuausrichtung von Karstadt und Kaufhof stammt vom Altmeister der Wirtschaftswissenschaft, Joseph Alois Schumpeter:

Dieser Prozess der ‚schöpferischen Zerstörung‘ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.

Rolf Buch © imago

Was sich bereits am Freitag angedeutet hat, ist nun bestätigte Tatsache: Vonovia scheitert auch beim zweiten Versuch, den Konkurrenten Deutsche Wohnen zu übernehmen. Die Annahmequote der Aktionäre habe bei 47,62 Prozent gelegen, teilte Vonovia am Montag mit.

Die Fusion hätte zu dem mit Abstand größten Immobilienkonzern Europas geführt: Weit mehr als eine halbe Million Wohnungen würde das neue Unternehmen deutschlandweit besitzen.

Eine Infografik mit dem Titel: Neuer Übernahmeversuch?

Kursverlauf der Vonovia-Aktie seit dem 19. Juli 2021, in Euro

Das endgültige Aus bedeutet die Ablehnung aber nicht. Wer das glaubt, hat die Rechnung ohne Vonovia-Chef Rolf Buch gemacht. Sein Plan hat sich nicht erledigt, nur verteuert. Deshalb auch legten die Aktien von Deutsche Wohnen gestern gegen den Markttrend, der den Dax ins Minus zog, um knapp 1,2 Prozent zu.

Unsere neue Korrespondentin an der Frankfurter Börse, Annette Weisbach, die zugleich für den US-Wirtschaftssender CNBC vom Parkett berichtet, sortiert im Morning Briefing-Podcast die Lage.

Klick aufs Bild führt zur Podcast-Page
  • Dreimal Bronze für Deutschland: Nachdem die deutschen Wasserspringerinnen und Bogenschützinnen bereits am Sonntag die ersten Medaillen für Deutschland holten, schaffte es Sideris Tasiadis beim Kanuslalom am Montag zum dritten Platz.

  • Junger Skateboard-Star: Die 13-jährige Japanerin Momiji Nishiya schrieb am dritten Olympia-Tag als erste Skateboard-Olympiasiegerin Geschichte.

Momiji Nishiya © dpa
  • Mit 18 Medaillen liegt China, Stand Montagabend, weltweit in Führung. Japan holte mit acht Gewinnern am meisten Gold, knapp gefolgt von den USA mit sieben Goldmedaillen.

  • Bei den Spielen am Montag weigerte sich erneut ein muslimischer Judoka gegen einen israelischen Wettbewerber anzutreten. Nachdem der Algerier Fethi Nourine es ablehnte, gegen den Israeli Tohar Butbul ins Duell zu treten, trat auch der Sudanese Mohamed Abdalrasool nicht zum Zweitrunden-Duell gegen Butbul an.

  • China: US-Präsident Joe Biden überfordert seine europäischen Alliierten, schreibt der Politikwissenschaftler und Pioneer-Expert Thomas Jäger.

  • Impfung: Staatenlose sind der Pandemie schutzlos ausgeliefert. Eine Analyse von Politologin Cornelia Füllkrug-Weitzel.

  • Schulstart: Haben Kinder für die Politik wirklich Priorität?

  • Flutkatastrophe: Politiker und die Flutkatastrophe. Das Video unserer Fotografin Anne Hufnagl.

Anne Hufnagl
Oksana Lyniv © dpa

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie bewegt sich: Bayreuth hat nach 145 Festspieljahren erstmals eine Dirigentin. Und was für eine: Oksana Lyniv hat das Publikum mehr als nur beeindruckt. Auch die Kanzlerin und ihr Gatte applaudierten heftigst.

Sie wurde als Kind von Musikern in der ukrainischen Kleinstadt Brody geboren. Lyniv gewann 2004 den dritten Preis des ersten Bamberger Mahler-Dirigierwettbewerbs und arbeitete als stellvertretende Chefdirigentin an der Staatsoper von Odessa.

2013 wurde sie Assistentin des russischen Dirigenten Kirill Petrenko, der damals an der Bayerischen Staatsoper wirkte. Vier Jahre später schließlich Generalmusikdirektorin in Graz.

Die Wagner-Festspiele in Bayreuth zu dirigieren ist die höchste Auszeichnung in der Opernszene – und die 43-jährige Dirigentin nahm sich dieser Aufgabe unter ganz besonderen Umständen an: Sie eröffnete die Festspiele in einem Corona-bedingt halbleeren Festspielhaus und einem Chor hinter Plexiglas. Eine komplexe Aufgabe, die Lyniv gegenüber der „Welt“ wie folgt beschrieb:

Ich muss in dieser besonderen Akustik mit ihrem ganz eigenen Nachhall nicht nur meine tollen Musiker aus 40 verschiedenen Orchestern, die alle ihren Wagner wie im Schlaf draufhaben, mit den Sängern koordinieren, sondern auch mit dem Chor, der diesmal aus dem Probenraum zugespielt wird. Auf der Bühne sind zwar auch Choristen, aber die agieren nur stumm. Die andere Hälfte sitzt im surreal anmutenden, mit Plexiglaswänden käfigartig unterteilten Übungsraum.

Wenn wir nicht wüssten, dass da Wagner aufgeführt wird, könnte man meinen, George Lucas habe die Regie geführt. Science Fiction hat das Studiogelände verlassen.

Ich wünsche Ihnen einen unbeschwerten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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