das offizielle Topthema der Nachrichtensender heute Morgen ist die Debatte um die Impfpflicht. Aber das heimliche Topthema an den Küchentischen und in den Kantinen der Firmen ist das feindselige und womöglich schon zerrüttete Verhältnis zwischen Politik und Wahrheit.
Die weitsichtige Hannah Arendt hat in „Wahrheit und Lüge in der Politik“ dazu schon 1972 das Notwendige geschrieben:
© dpaNiemand hat je Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand.
Und dann stellt sie Fragen, die auch deshalb so schmerzhaft sind, weil sie sich heute lauter denn je stellen, was der Lernfähigkeit des Regierungspolitikers kein gutes Zeugnis ausstellt:
„Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen?“
„Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlich zugänglichen Welt als ohnmächtig erweist?“
„Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht genauso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?“
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Womit wir im Berlin unserer Tage gelandet wären. Wir alle erinnern uns noch an jene Sätze vor der Bundestagswahl, die wie für die Ewigkeit gemeißelt schienen:
„Wir wollen keine Impfpflicht einführen“, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 16. Dezember 2020 im Bundestag klar. Und nochmal am 13. Juli 2021:
Es wird keine Impfpflicht geben.
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Und auch Markus Söder betonte:
Ich bin gegen eine Impfpflicht.
Doch was damals schon im Halbdunkel der Berliner Hintergrundkreise geraunt wurde, hat mittlerweile das Scheinwerferlicht der politischen Bühne betreten:
Die Impfpflicht. Sie steht angesichts einer Explosion der Infektionszahlen mutmaßlich kurz vor ihrer Einführung. Die Wahrheit 2.0 klingt so:
„Eine allgemeine Impfpflicht wäre der Weg, der uns am besten und schnellsten aus dieser Krise herausführt”, schreiben Markus Söder und Winfried Kretschmann in einem Gastbeitrag für die „FAZ“.
Und weiter:
Eine Impfpflicht ist kein Verstoß gegen die Freiheitsrechte. Vielmehr ist sie die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen.
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Auch andere Spitzenpolitiker, wie SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, wagen sich nun aus der Deckung:
Ich bin persönlich mittlerweile ein Befürworter der allgemeinen Impfpflicht.
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Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier sekundiert:
Eine Impfpflicht ist unumgänglich, um aus der Dauerschleife von immer neuen Wellen herauszukommen.
Vielleicht liegt genau darin die Tragik der momentanen Situation. Die Impfpflicht ist die Ultima Ratio der deutschen Politik, die anders als in Spanien und Portugal die Menschen nicht von der Freiwilligkeit einer Impfung hat überzeugen können. Vieles sprach vor der Bundestagswahl und spricht jetzt für eine kollektives Vorgehen, um das Individuum, das der Pandemie alleine nicht trotzen kann, zu schützen. Die Mehrheit muss zwar die Rechte der Minderheit schützen, aber die Minderheit darf zugleich nicht die Gesundheit der Mehrheit riskieren.
Doch die Regierungsparteien wollten vor der Bundestagswahl mit dieser unbequemen Wahrheit das Publikum nicht erschrecken. Sie fürchteten Proteste. Sie scheuten die Auseinandersetzung mit der Impfgegnerpartei AfD. Angela Merkel hat die Dinge nicht vom pandemischen Ende her gedacht, sondern CDU und CSU haben Stimmenoptimierung betrieben, oder das, was sie dafür hielten.
Auch wenn COVID-19 anders als durch diese staatliche Verpflichtung wahrscheinlich im jetzigen Stadium des Dramas nicht mehr bekämpft werden kann, wiegt der geplante Wortbruch schwer. Corona geht, der Vertrauensverlust bleibt. Die Politik hat sich mit der Lüge infiziert. Oder um mit Hannah Arendt zu sprechen:
Tatsachen bedürfen glaubwürdiger Zeugen, um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden.
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Nicht nur im Inland, auch im Ausland erodiert das Vertrauen in das deutsche Krisenmanagement:
© BloombergBloomberg klagt:
Mangelnde Führung in Europas größter Volkswirtschaft hat den Weg für den brutalen Ausbruch geebnet.
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Die New York Times kommt zu einem ähnlichen Schluss:
Das Fehlen einer politischen Führung auf nationaler Ebene in einer Zeit, in der die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf über 50.000 ansteigt, hat das Konzept zur Eindämmung des Virus noch verworrener gemacht.
Die französische Zeitung Le Monde erklärt:
Die vierte Welle der Pandemie traf die größte Volkswirtschaft Europas mitten in einem Machtvakuum.
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In Spanien zeigt man sich verwundert. Die Tageszeitung El Mundo schreibt:
Deutschland, das europäische Land, das den besten Zugang zu Impfstoffen gegen Coronaviren hatte, sieht sich mit einer beispiellosen Flut von Übertragungen und Krankenhausaufenthalten durch ungeimpfte Menschen konfrontiert.
Fazit: Das Schlimme ist ja, dass diese Diagnosen zur deutschen Führungsschwäche keine Meinungsäußerungen, sondern Tatsachenbehauptungen sind.
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Die Deutschland AG bewegt sich schwerfällig wie ein Tanker durch die Weltwirtschaft: Viel Tradition, wenig Innovation. Die letzte Dax-30-Neugründung liegt 49 Jahre zurück. Damals wurde SAP gegründet.
VW, Bayer, Henkel und ThyssenKrupp beschäftigen hunderttausende von Menschen auf der ganzen Welt, kombinieren meist unterschiedlichste Produkte und Marken unter einem Dach. Dafür werden sie von den Investoren der Börsen mit einem sogenannten Konglomeratsabschlag bestraft. Die Börse liebt „Pure Players“, also fokussierte Unternehmen, die sich auf den Kunden konzentrieren und nicht auf das Spiel mit den Bürokraten der Konzernzentrale, die schon Ex-Daimler Chef Jürgen Schrempp als „Bullshit Castle“ bezeichnete.
Die amerikanischen Konkurrenten sind nicht immer, aber meistens, sehr fokussierte und innovationsstarke Unternehmen; sie profitieren von der Vorliebe der Investoren für einfache und damit transparente Geschäftsmodelle. Die Folge: Astronomische Börsenbewertungen. Die Marktkapitalisierung von Apple reicht zum Kauf der 40 wertvollsten Dax-Konzerne – und es würden noch immer 600 Milliarden Euro übrig bleiben.
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland AG vs. Apple
Marktkapitalisierung am 23. November 2021, in Milliarden Euro
Siemens ist unter der Führung von Joe Kaeser einen anderen Weg gegangen, den der Zellteilung. Begleitet von Gewerkschaftsprotesten („Mensch statt Marge“) und kritischer Medienberichterstattung (auch im Morning Briefing) gingen aus dem 1847 gegründeten Konzern die Unternehmen Siemens Healthineers und Siemens Energy hervor, die neben der Siemens AG mit der Siemens Mobility nun ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen.
Siemens Energy wird von der Mutter nicht mehr konsolidiert, auch wenn Kaeser selbst dort den Aufsichtsrat führt. Inzwischen findet sich im Dax die heilige Dreifaltigkeit von Siemens. Das, was zunächst wie eine Zerschlagung aussah, hat sich auf die Firmen positiv ausgewirkt. Beim Umsatz, bei den Gewinnaussichten und auch in puncto Börsenbewertung.
© Anne Hufnagl
Gestern besuchte Joe Kaeser die PioneerOne, um über den Kraftakt und seine Motive dahinter zu sprechen. Im Morning-Briefing-Podcast sagt er:
Die Mächtigkeit der Veränderung und die Geschwindigkeit der Veränderung ist so stark, dass keine Zeit mehr bleibt, um nach links und rechts zu schauen. Das Management muss sich fokussieren.
Eine Infografik mit dem Titel: Siemens: Konzern der Dreifaltigkeit
Kursverlauf seit dem 1. Januar 2021, in Euro
Eine Infografik mit dem Titel: Siemens: Wandel vollzogen
Umsatz und Mitarbeiterzahl der Siemens AG sowie von Siemens Healthineers und Siemens Energy, in Euro
Die einzelnen Sparten, zum Beispiel die Medizintechnik, blühen auf in der Selbständigkeit, sagt er:
Sie können sich eine eigene Identität schaffen, sie sind sich selbst am nächsten. Sie bestimmen selbst über die Ressourcenallokation und müssen nicht warten, bis ein allmächtiger Konzernvorstand in seinem Elfenbeinturm entscheidet.
Die Fokussierung helfe auch bei der Suche nach neuen Mitarbeitern:
Wir können den Bewerbern jetzt sagen: ‚Wir bei der Gesundheitstechnik, wir bei Healthineers, wir retten Menschenleben, wir besiegen den Krebs‘.
An die segensreichen Wirkungen der früheren Zentralabteilungen glaubt er nicht mehr:
Synergie schafft kein Wachstum.
Eine Rückkehr zur Idee des breit aufgestellten und daher in Krisensituationen ausbalancierten Konglomerats sieht Kaeser weltweit nicht:
Die Idee des Konglomerats war, dass egal, was man managt, die Managementleistung der Wert an sich ist. Das aber ist falsch.
Taugt seine Strategie der Zellteilung auch für die anderen Tanker der Deutschland AG? Joe Kaeser glaubt ja.
Und deshalb sprechen wir auch über Daimler und VW, über das, was er als Fehler in der Strategie von Bayer und ThyssenKrupp identifiziert hat. Und natürlich setzen wir das deutsche Treiben in Relation zu den großen Plattform-Unternehmen in den USA, zum Beispiel Alphabet und Amazon, die sich in immer neue Geschäftsfelder vorwagen und daher nach Ansicht der FAZ „aktuelle Beispiele für erfolgreiche Mischkombinate im Silicon Valley“ liefern. Kaeser widerspricht.
Das knapp einstündige Gespräch wird am Samstag auf thepioneer.de als Morning Briefing Sonderpodcast veröffentlicht. Und in der Kurzfassung gibt es eine Kostprobe schon heute Morgen.
Wenn es einen Oscar fürs Gesundbeten gäbe, EZB-Direktorin Isabel Schnabel hätte ihn verdient. Noch Mitte September sagte sie:
Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die aktuelle Geldpolitik zu permanent höherer Inflation oberhalb von zwei Prozent führen wird.
„Die Medien“ würden durch ihre Berichterstattung über die Inflationsentwicklung die „Ängste der Menschen ohne jede Erklärung“ verstärken.
Die wahre Wirklichkeit spielt diesen Aussagen nicht in die Karten:
Die Inflation im Euroraum beträgt derzeit 4,1 Prozent.
Die Inflation in Deutschland liegt bei 4,5 Prozent.
Die Inflation in den USA, unserem wichtigsten Handelspartner, wird vom Bureau of Labor Statistics derzeit mit 6,2 Prozent gemessen.
Keine zweieinhalb Monate nach ihrer Medien-Kritik setzt Isabel Schnabel zwar nicht zur Entschuldigung, aber zur Korrektur ihrer Position an. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur „Bloomberg“ sagte sie, dass sie es zwar für plausibel halte, dass die Inflation mittelfristig unter den EZB-Zielwert von zwei Prozent sinke, jedoch seien „die Risiken für die Inflation eher nach oben gerichtet“.
Sich selbst attestiert sie mittlerweile eine eingeschränkte Prognosefähigkeit:
Ich denke nicht, dass wir auf Basis der aktuellen Daten wirklich sagen können, was passieren wird.
Die aktuelle Corona-Lage am Morgen:
Die 7-Tage-Inzidenz lag gestern bei 437,8. Neu infiziert haben sich 54.128 Menschen. 3.987 Covid-Erkrankte mussten auf der Intensivstation behandelt werden.
Die Bundeswehr dürfte die erste Institution sein, die eine Impfpflicht einführt. Einem Sprecher des Verteidigungsministeriums zufolge verständigte sich die Ministeriumsleitung mit der Personalvertretung darauf, die Schutzimpfung „in den Katalog der duldungspflichtigen Impfungen“ aufzunehmen.
Das US-Außenministerium hat eindringlich vor Reisen nach Deutschland gewarnt. Der Reisehinweis wurde auf die höchstmögliche Stufe angehoben. Grund dafür sei ein „sehr hohes Ausmaß von Covid-19“.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zeigt sich einsichtig: Er habe die „Dynamik und Geschwindigkeit“ der vierten Welle unterschätzt. Nun plant die Landesregierung, das „Bestehen einer epidemischen Lage“ festzustellen – auf Bundesebene wurde diese erst vergangene Woche aufgehoben.
Brandenburg hat die Präsenzpflicht in Schulen aufgehoben. „Es ist der Wunsch vieler Eltern, dass sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen“, sagte Bildungsministerin Britta Ernst. Zusätzlich plant Brandenburg, die Weihnachtsferien für Schülerinnen und Schüler im Land um drei Tage vorzuziehen.
© dpa
„Einfachheit ist die höchste Form der Vollendung“, hatte bereits Leonardo da Vinci erkannt. Ob sich auch der Unternehmer Josef Friedrich Schmidt dieser Maxime bewusst war, ist nicht überliefert. Gleichwohl war sie die wichtigste Zutat für seine Erfindung:
Er habe seine drei lebhaften Söhne zum Stillsitzen bringen wollen, heißt es, als sich Schmidt in den Wintermonaten 1907/08 in eine kleine Werkstatt in der Münchner Lilienstraße zurückzog und die Entwicklungsarbeit an einem Brettspiel begann. Um das Spiel möglichst einfach zu gestalten, sollten ein Brett, ein Würfel und wenige Spielfiguren als Utensilien genügen.
Das Ergebnis taufte er auf den Namen „Mensch ärgere Dich nicht“ – wie sich bald herausstellte, eine Marketing-Glanzleistung.
© imagoAls Josef Friedrich Schmidt das Spiel im Jahr 1910 das erste Mal auf den Markt brachte, war es jedoch zunächst ein Flop. Erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dem eigenen unternehmerischen Geschick konnte der Erfinder den Grundstein für einen Welterfolg legen. So schickte er im Laufe des Krieges 3000 Exemplare zu den Verwundeten in die Lazarette, für die „Mensch ärgere Dich nicht“ ein willkommener Zeitvertreib war.
Mit dem Ende des Krieges haben die Soldaten dann nicht den Sieg, aber das Spiel mit nach Hause gebracht und erfreuten sich zusammen mit den Familien am friedlichen Würfelspaß.
Für Josef Friedrich Schmidt, der heute seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte, hat das Spiel seinen Soll erfüllt. Die übergroße Beliebtheit machte den anfänglichen Ärger mit den Söhnen zur hellen Freude. Der älteste Sohn errichtete schließlich eine Spielfabrik. Bis heute ist „Mensch ärgere Dich nicht“ mit über 90 Millionen verkauften Exemplaren das beliebteste Gesellschaftsspiel der Deutschen.
Ich wünsche Ihnen einen versöhnlichen Start in den neuen Tag.
Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr