Warum die Welt Deutschland braucht

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Guten Morgen,

die Welt schaut auf Deutschland – und schielt. Die Staatengemeinschaft hat Erwartungen, von denen sie nur hoffen kann, dass sie niemals in Erfüllung gehen. Deutschland erlebte 2019 ein Festival der Paradoxien: ► Die finanzpolitische Solidität der Deutschen wird bewundert und verspottet zugleich. Das deutsche Gemeinwesen, diese seltene Mischung aus fleißigen Angestellten und Unternehmern, braven Steuerzahlern und einem per Verfassung zur Sparsamkeit verpflichteten Staat, bildet den fiskalischen Herzmuskel Europas (siehe Grafik unten). 2019 werden Bund, Länder und Kommunen erneut einen Überschuss erzielen, dieses Mal in Höhe von 40 Milliarden Euro. In Italien und Griechenland würden solche Ereignisse als Gottesbeweis gelten.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutsche Solidität

Entwicklung der Schulden ausgewählter Staaten, indexiert in Prozent

Dennoch will man uns angesichts der verlockenden Möglichkeiten der Nullzinspolitik, die in nahezu allen Staaten der EU zur beschleunigten Kreditaufnahme führt, zum Schluck aus der Schuldenpulle überreden. Doch wehe, Deutschland folgt diesen Lockrufen. Das Euro-System würde binnen weniger Jahre kollabieren. Die Südeuropäer (und auch Amerikaner und Japaner) können nur beten, dass wir ihrem fiskalischen Lotterleben niemals folgen. ► In der Militär- und Rüstungspolitik das gleiche perfide Spiel. Der frühere polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sagte zwar: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Er meint, was Trump auch meint: Man wünscht sich einen spendierfreudigen deutschen Truppensteller, der reichlich Soldaten, Panzer und Aufklärungsgerät zum Truppenübungsplatz mitbringt. Am besten „Made in America“. Doch eine militärische Mittelmacht namens Bundesrepublik, die sich wie Briten und Franzosen ein kleines Nukleararsenal zulegte, würde die Dämonen der Vergangenheit zu neuem Leben erwecken. Der Westen liebt wahrscheinlich beides: die Eunuchenhaftigkeit der Bundeswehr und die Klage darüber.

Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland abgeschlagen

Militärausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt ausgewählter Staaten in 2018, in Prozent

► Auf internationalen Zukunftstagungen wird Deutschland für seine „old industry“ als gestrig verlacht. Die traditionelle Industrie sei das Problem der Deutschen, schreibt die „Financial Times“. Richtig ist ja: Der Treibstoff der neuen Zeit sind die Daten. Doch genauso richtig ist: Auch im digital getriebenen Kapitalismus schläft der Mensch im Bett und nicht in der Cloud, er fliegt im Flugzeug und nicht im Videostream; auch das vernetzte Auto braucht Polstersitze, Klimaanlage und Motor – so, wie bei Amazon online bestellt, aber analog geliefert wird. Fazit: Deutschland sollte nachsichtig mit seinen Kritikern sein. Womöglich sind die Erwartungen der anderen nur dazu da, sie zu ignorieren. Oder um es mit Franz-Josef Strauß zu sagen: „Everybody's Darling is everybody's Depp.“

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Es gibt Phantomthemen, die es immer wieder in die Schlagzeilen der Zeitungen schaffen, aber partout nicht in die Wirklichkeit. Freund und Feind erregen sich – beide umsonst. Da ist zum einen die Finanztransaktionssteuer. Nach der Finanzkrise 2007/2009 waren sich alle einig: Die Spekulanten sollten mit einer Sondersteuer büßen. Heute ist die Finanztransaktionssteuer nur noch ein Theoriekonstrukt und Finanzminister Olaf Scholz umzingelt von Gegnern. Die von ihm behaupteten zehn EU-Partner, die mitmachen wollen, wissen von nichts. „Scholz’ Börsensteuer vor dem Aus“, schreibt die „FAZ“. Zweitens wäre da das SPD-Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu erwähnen, das seinen Anhängern den Skalp der Reichen versprochen hat. Sie nennen ihn Vermögenssteuer. Doch eine Opposition aus Union, Wirtschaftswissenschaft und Verfassungsgericht stellt sich in den Weg. Die Schrumpf-SPD kann man nur vor dem Zorn der Erben, auch dem der kleinen Erben, warnen: Vorsicht Selbstverletzungsgefahr!

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Drittens: Manche Medien erwecken den Eindruck, US-Präsident Donald Trump stehe kurz vor der Amtsenthebung. Doch dieses Szenario entspringt dem Wunschdenken. Die Kraft der Demokraten reicht lediglich für den Beginn eines solchen Verfahrens, nicht für das Finale. Dem demokratisch dominierten Repräsentantenhaus kommt die Rolle des Anklägers zu, dem republikanisch dominierten Senat die Rolle des Richters. Und dieser Richter braucht für seinen Urteilsspruch eine Zweidrittel-Mehrheit unter den hundert Senatoren. Bisher ist allerdings nicht ein einziger der 53 republikanischen Senatoren umgekippt. Es wird Zeit, dass auch „taz“, „Süddeutsche“ und „ARD“ ihre Leser und Zuschauer an die für sie unbequeme Möglichkeit gewöhnen: „Four more years.“

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Nach dem Aus für die Pkw-Maut fordern die Betreiberfirmen mehr als eine halbe Milliarde Euro Entschädigung vom Bund. Das teilten die Unternehmen Kapsch und CTS Eventim jetzt mit. Die Firmen sind überzeugt, dass ihre für die Maut gegründete Gemeinschaftsfirma trotz Maut-Aus Anspruch auf den entgangenen Gewinn über die Vertragslaufzeit von zwölf Jahren hat. Verkehrsminister Andreas Scheuer wies die dreiste Forderung zurück: „Die Zahlen sind falsch und entbehren jeglicher Grundlage.“ Die Opposition freut sich schon. Oliver Luksic, Verkehrspolitiker der FDP, bezeichnete die Forderung als „K.o.-Schlag“ für Scheuer. Doch über Wohl und Wehe des CSU-Politikers entscheiden nicht die Liberalen und auch nicht die Gerichte, denn das Verfahren dauert eine halbe Ewigkeit. Der Schlüssel zum Machterhalt liegt in Niederbayern, wo Scheuer seit 2001 im CSU-Bezirksvorstand sitzt. Die Mächtigen der Region haben Zugriff auch auf Ministerposten in Berlin. „All business is local“ – auch in der Politik.

Die Union hat eine Achterbahn der Gefühle hinter sich: AKK wackelt, aber kippt nicht. Merkel geht, aber bleibt beliebt. Söder ist im Kommen, aber keiner weiß, wie weit er geht. Michael Grosse-Brömer ist einer der engsten Vertrauten Merkels und als Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion dafür zuständig, den Alltag der Schwesterparteien zu managen. Im Gespräch mit „Welt“-Vize Robin Alexander zieht der Christdemokrat für den Morning Briefing Podcast seine Jahresbilanz. Er beweist, dass er die unterschiedlichen Tonlagen der Politik beherrscht: Er kann Zweckoptimismus:

Regieren macht Spaß, wenn man den Anspruch hat, gestalten zu wollen.

Er weiß, wie Angriff funktioniert:

Natürlich sehen wir mit Sorge den Zustand unseres Koalitionspartners. Da wünscht man sich, dass Weihnachten auch bei der SPD dazu führt, dass der innere Frieden einkehrt.

Und Demut kann er auch:

Wir haben begriffen, dass auch Streit zwischen CDU und CSU jetzt nicht dazu führt, dass die Leute uns für kompetenter halten.

Und wie blickt Linda Teuteberg, die Generalsekretärin der FDP, auf das Jahr zurück? Auch das wird im Morning Briefing Podcast heute erörtert. Sie kritisiert vor allem die fehlende digitale Kompetenz der Regierung. Prädikat: erfrischend.

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Im Last-Minute-Kapitalismus geht Bequemlichkeit vor Treue. Das Weihnachtsfest ist ein nicht enden wollender „Black Friday“ für Amazon. Es wird gekauft, was die 13 Logistikzentren im Land hergeben. Deutschland ist der zweitwichtigste Markt für den Konzern aus Seattle. Rund 17 Milliarden Dollar setzte Amazon 2018 nur hierzulande um, einen Großteil im Weihnachtsgeschäft. Laut der Finanzdatenplattform Sentieo steigt die Zahl der amerikanischen Unternehmen, die Amazon in ihren Geschäftsberichten als „Risikofaktor“ nennen. Zählte Sentieo im Jahr 2010 nur 14 Erwähnungen in dieser Kategorie, waren es 2019 bereits 213 (siehe Grafik unten).

Eine Infografik mit dem Titel: Die Angst vor Amazon

Anzahl börsennotierter US-Unternehmen, die in ihren Geschäftsberichten Amazon als "Risikofaktor" nennen

Amazons treueste Kunden sind die weltweit mehr als 100 Millionen Prime-Abonnenten, die auch in Deutschland im Monat acht Euro dafür zahlen und so ihr Paket ohne Versandkosten vor die Tür gelegt bekommen – plus Videostreaming, plus Musik-Downloads und obendrauf gibt es eine digitale Leihbibliothek. Jeff Bezos, Gründer und CEO von Amazon, versteht sein Leitmotiv als Kampfbefehl gegen die Konkurrenz:

Prime soll dem Kunden einen solchen Mehrwert bringen, dass es geradezu unverantwortlich ist, kein Mitglied zu sein.

Daran liegt in einer Welt der Paradoxien (siehe oben) auch die deutsche Schizophrenie der Weihnachtszeit: Wir beklagen und befeuern die Amerikanisierung des Handels. Wir verfluchen den Boom der Online-Versender - und warten sehnlichst auf ihre Paketboten. Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in den neuen Tag. Morgen früh möchte ich Ihnen im Podcast einen Jahresrückblick 2019 anbieten. Und im Newsletter gibt es ein paar Bilder und Informationen zu unseren ambitionierten Plänen für 2020. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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